Einige Gedanken zum Thema in Verquickung mit Gedanken von einem von mir verehrten Philosophen.
Die Worte von Goethe:
„Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben.“
sind mach meiner Meinung auch auf die Beschäftigung mit der Geschichte zutreffen.
Der Philosoph Friedrich Nietzsche sagt in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“.
„Wir brauchen Geschichte zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat.“
Er fährt fort:
„Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet.“
Die Geschichte dient nach Nietzsche dem Leben des Menschen in dreierlei Hinsicht:
"sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen".
Nietzsche unterscheidet dementsprechend eine "monumentalistische", eine "antiquarische" und eine "kritische" Geschichtsbetrachtung.
Geschichte gehört vor allem dem Tätigen, dem der Vorbilder, Lehrer, Tröster braucht und sie in seiner Gegenwart oft nicht zu finden vermag. Der Tätige gebraucht die Geschichte als Mittel gegen die Resignation.
Es gibt Menschen, die sich, im Hinblick auf das vergangene Große und gestärkt durch seine Betrachtung, so beseligt fühlen, als ob, so Nietzsche,
„das Menschenleben eine herrliche Sache sei, und als ob es gar die schönste Frucht dieses bitteren Gewächses sei, zu wissen, dass früher einmal einer stolz und stark durch dieses Dasein gegangen ist, ein andrer mit Tiefsinn, ein Dritter mit Erbarmen und hilfreich - alle aber eine Lehre hinterlassend, dass der am schönsten lebt, der das Dasein nicht achtet.“
Es ist der Glaube an die Zusammengehörigkeit und Kontinuität des Großen aller Zeiten, es ist ein Protest gegen den Wechsel der Generationen und die Vergänglichkeit.
Wodurch also nützt die monumentalistische Betrachtung der Vergangenheit, die Beschäftigung mit dem Klassischen und Seltenen früherer Zeiten ? Der Mensch entnimmt daraus, dass das Große, das einmal war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb auch wieder möglich sein wird; er geht mutiger seinen Gang, denn jetzt ist der Zweifel, der ihn in schwächeren Stunden anfällt, ob er nicht das Unmögliche wolle, aus dem Felde geschlagen.
Die monumentale Historie wird jedoch immer das Ungleiche annähern, verallgemeinern und schließlich gleichsetzen; immer wird sie die Verschiedenheit der Motive und Anlässe abschwächen, um auf Kosten der Ursachen die Wirkungen monumental, nämlich vorbildlich und nachahmungswürdig hinzustellen. Solange das Motiv der Geschichtsschreibung in den großen Antrieben liegt, die ein Mächtiger aus ihr entnimmt, solange die Vergangenheit als nachahmungswürdig, als nachahmbar und zum zweiten Male beschrieben werden muss, ist sie in Gefahr, etwas verschoben, ins Schöne umgedeutet und damit der freien Erdichtung angenähert zu werden. Nietzsche schreibt:
„Große Teile der Vergangenheit werden vergessen, verachtet, und fließen fort wie eine ununterbrochene Flut, und nur einzelne geschmückte Fakta heben sich als Inseln heraus.“
Die monumentale Historie täuscht durch Analogien: sie reizt mit verführerischen Ähnlichkeiten den Mutigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum Fanatismus.
Die „antiquarische“ Geschichtsbetrachtung pflegt das Vergangene. Die Geschichte gehört also auch dem Bewahrenden und Verehrenden, dem, der mit Treue und Liebe dorthin zurückblickt, woher er kommt, worin er geworden ist. Das Kleine, das Beschränkte, das Morsche und Veraltete erhält seine eigene Würde und Unantastbarkeit dadurch, dass die bewahrende und verehrende Seele des antiquarischen Menschen in diese Dinge übersiedelt und sich darin ein heimisches Nest bereitet. Die Geschichte einer Stadt (eines Landes) wird ihm zu einer Geschichte seiner selbst. Hier ließ es sich leben, sagt er sich, den es lässt sich leben; hier wird es sich leben lassen, denn wir sind zäh und nicht über Nacht umzubrechen. So blickt er, mit diesem „Wir“, über das vergängliche Einzelleben hinweg. Wie könnte Historie dem Leben besser dienen, als dadurch, dass sie auch die weniger begünstigte Bevölkerungsschichten an ihre Heimat und Heimatsitte anknüpft. Das Glück, sich nicht ganz willkürlich und zufällig zu wissen, sondern aus einer Vergangenheit als Erbe herauszuwachsen und dadurch in seiner Existenz gerechtfertigt zu werden - dies ist es, was man mit Vorliebe als den eigentlichen historischen Sinn bezeichnet.
Der antiquarische Sinn eines Menschen, einer Stadtgemeinde, eines ganzen Volkes hat jedoch immer ein höchst beschränktes Gesichtsfeld; das allermeiste nimmt er gar nicht wahr, und das wenige, was er sieht, sieht er viel zu nahe und isoliert; er kann es nicht messen und nimmt alles gleich wichtig und deshalb jedes einzelne als zu wichtig. Es besteht die Gefahr, dass alles, was dem Alten nicht mit Ehrfurcht entgegenkommt, also das Neue und Werdende, abgelehnt und angefeindet wird. Die antiquarische Historie entartet selbst in dem Augenblick, in dem das frische Leben der Gegenwart sie nicht mehr beseelt und begeistert. Sie hindert den Entschluss zum Neuen, sie lähmt den Handeln den, der immer, als Handelnder, irgendwelche Pietäten verletzen wird und muss.
Hier wird es deutlich, wie notwendig der Mensch, neben der monumentalistischen und antiquarischen Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nötig hat, die kritische. Es ist ein Versuch, sich gleichsam im nachhinein eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt. Dies ist immer ein gefährlicher Versuch, weil es so schwer ist, eine Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden. Es bleibt zu häufig bei einem Erkennen des Guten, ohne es zu tun, weil man auch das Bessere kennt, ohne es tun zu können. Dies ist ein Ansatz der dem Wesen von Menschen entspricht, die nach vorn gerichtet tätig schaffend sind.