Haben die Deutschen eine Vorstellung von der deutschen Seele?

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Gast

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es gibt so etwas wie "russische Seele". Es kommt aus Literatur und Kunst. Gibt es ein solches Konzept in Deutschland?
 
Tja, ich weiß nicht, wie gut Deutsch du verstehst und wie viel du mit Übersetzungsprogrammen arbeitest. Im Russischen gibt es keinen Artikel (Wortart, grammatische Kategorie). Daher wird die Übersetzung gleich ausfallen, wenn ich schreibe:
Die Deutschen haben eine Vorstellunge von einer "deutschen Seele".
oder
Deutsche haben eine Vorstellung von einer "deutschen Seele".
Die Sätze lauten in der russischen Übersetzung vermutlich gleich, würden aber für Sprecher des Deutschen völlig unterschiedliche Bedeutungen haben. Das kann, wenn die Antwort übersetzt werden muss, zu Fehlverständnissen führen.
Den Begriff russische Seele kennen wir auch im Deutschen, es gibt im Deutschen auch den Begriff der Volksseele. Mit einer Nationalitätenbezeichnung versehen benutzen wir ihn aber nur für die russische Seele, wobei das eine Lehnübersetzung von Gogol ist.

Du fragst, ob es das Konzept in Deutschland gebe. Ich kann das weder verneinen noch bejahen. Ich persönlich halte solche Zuschreibungen für Unsinn, weil sie dem Menschen die Individualität absprechen. Aber jeder von uns ist ein Individuum, die Summe seiner Erziehung, Einstellungen und Erfahrungen.

Um das mal versuchen konkret zu fassen:
Ein Deutscher, der 1960 in einem gutbürgerlichen Elternhaus in Westdeutschland geboren und aufgewachsen ist und ein gleichaltriger Deutscher, der in Ostdeutschland in einem Arbeiterhaushalt aufgewachsen ist und seine ersten zwanzig Lebensjahre in einem Staat verbracht hat, den es nicht mehr gibt, die zwei unterscheiden sich in ihrer Erziehung und in ihren Erfahrungen. Der Westdeutsche hat sein Leben vermutlich ohne große Brüche erlebt, hat ein vermutlich relativ geradliniges Leben gehabt, gute Bildung, alle Chancen.
Der Ostdeutsche hingegen mag auch eine gute Bildung erhalten haben, war aber durch den Staat viel festgelegter, als sein westdeutsches Gegenüber aus derselben Alterskohorte und als dann 1989/90 alles zusammenbrach - was er vermutlich begrüßt hat - änderte sich aber plötzlich alles. Neben der ersehnten Freiheit endlich alles sagen zu können, ohne im Zweifel Konsequenzen fürchten zu müssen, ist der sicher vorgezeichnete Lebensweg plötzlich ein großes Fragezeichen geworden. Leute, die in Betrieben gearbeitet haben, die vom Staat als erfolgreich verkauft wurden oder tatsächlich erfolgreich waren, verloren plötzlich ihre Arbeitsplätze, weil die Betriebe eben tatsächlich nicht erfolgreich waren oder aber, obwohl erfolgreich, unwirtschaftlich, also zu teuer. Die Erfahrung der plötzlichen Massenarbeitslosigkeit das ist eine Erfahrung, die in Ostdeutschland sehr viele Menschen ziemlich zeitgleich gemacht haben, wohingegen es in Westdeutschland für das Gros der Menschen "normal" weiterlief. Das, was der Westdeutsche gelernt hatte, galt weiterhin, das, was der Ostdeustche gelernt hatte, galt plötzlich nicht mehr.

Die Kinder dieser Leute wiederum haben ganz eigene Erfahrungen, sind vielleicht viel näher aneinander. Wobei der Westdeutsche vermutlich im Mittel ca. sechs bis acht Jahre nach dem Ostdeutschen Kinder in die Welt gesetzt hat, der 1960 geborene Ostdeutsche um 1980, der gleichzeitig geborene Westdeutsche erst um 1988.
 
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