- aber wie sieht es aus, wenn man sich in die Situation des 1. oder 2. Jhs. versetzt? Entspricht eine Konstruktion a la ich erfinde mir jetzt eine Erlöserreligion und habe voll imperiumsweit damit Erfolg dem Erfahrungshorizont der Zeit?
Natürlich nicht, wenn man die Frage so wie du stellt, also so, dass ein Nein vorprogrammiert ist. Fakt ist, dass wir längst nicht alle historischen Umstände kennen und daher auf mehr oder weniger plausible Theorien angewiesen sind. Die Mitglieder der sog.´Urgemeinde´ uneingeschränkt für historische Personen zu halten, wie das hier außer mir jeder praktiziert, halte ich für wissenschaftlich naiv, da deren Existenz aufgrund der Tatsache, dass lediglich subjektive christliche Propagangaliteratur von ihnen berichtet, alles andere als gewährleistet ist. Jede Argumentation, die uneingeschränkt auf der Historizität von Jakobus, Stephanus etc. (sowie Paulus außerhalb der ´Urgemeinde´) fußt, basiert nur auf dem
Glauben an die Seriosität von Texten, die erst eineinhalb Jahrhunderte nach den vorgeblichen Geschehnissen in das Licht der Geschichte traten und ohnehin randvoll sind mit unwahrscheinlichen Begebenheiten.
Diesen Punkt kann man gar nicht oft genug betonen, jedenfalls nicht in diesem Forum.
Fakt ist, dass im 1. Jahrhundert in Judäa (a) ein geradezu hysterisches Verlangen nach einem Messias herrschte, und (b) viele hellenisierte Juden Mysterienkulte praktizierten. Dass beide Strömungen schließlich konvergierten in dem Sinne, dass ein (a) historischer Messias mit einem (b) metaphysischen Mysteriengott identifiziert wurde, musste aufgrund der Gemengelage schließlich eintreten. Beides, (a) und (b), erfüllte für viele Menschen damals ein als fundamental empfundendes Bedürfnis:
(a) die
Befreiung des jüdischen Volkes aus der Abhängigkeit durch Unterdrücker
(b) die
Erlösung des Individuums durch die Partizipation an der Macht eines Gottes
Das "Urchristentum" wird sich - so meine Theorie - in Gestalt einer hellenisierten mysterienkultisch engagierten Gruppe von Juden, evt. in Jerusalem, an diesen beiden Idealen ausgerichtet haben. Dass sich viele Juden in Ägypten in hellenistischen Mysterienkulten engagierten, wird von Philon berichtet (De specialis legibus I). Das regte den Neffen von Philon, den hellenisierten Juden Tiberius Alexander, in den späten 40ern Prokurator in Palästina, dazu an, die von ihm gewünschte Hellenisierung einheimischer Juden durch die Förderung lokaler Mysterienkulte voranzutreiben. Aber auch unabhängig davon kann man annehmen, dass schon vorher - wie oben beschrieben - manche Juden versuchten, messianische und mysterienkultische Ideale unter einen Hut zu bekommen.
Möglicherweise waren für die historisierende Ausgestaltung der ersten "christlichen"
szenischen Mysteriendramen (die man als Ausgangsmaterial der Evangelien vermuten kann) die Biografien historischer jüdischer, aber nicht gekreuzigter, sondern gesteinigter Märtyrer modellhafte Vorlage, freilich nicht in dem Sinne wie von dir formuliert: "Jetzt erfinden wir mal einen so und so". Der Prozess verlief sicher indirekter und subtiler, wobei ich auf die hypothetischen Details dieses Prozesses aus Zeitgründen ein andermal eingehe. Fakt ist jedenfalls, dass einige Jahrhundert zuvor israelitische Autoren kein Problem damit hatten, pseudohistorische Gestalten wie Abraham, Moses und Esther als historisch auszugeben. Dieser Punkt wird in diesem Forum, außer von mir, ebenfalls immer wieder unterschätzt.