Radikalisierung und Polarisierung, antiparlamentarische und antiliberale Bewegungen wie weit verbreitete Gewalt als Mittel der Rache und/oder Durchsetzung politischer Meinungen/Ziele gab es nach dem 1. WK vielfach in Europa. Hat also mit Kaiser Wilhelm II. nichts zu tun. Siehe Italien, siehe diverse neue 'National'-Staaten besonders im östlichen Europa. Wo in Europa gab es ein stabiles, demokratisches, parlamentarisches politisches System ab 1919 im heutigen Sinne?
Wenn schon Tante Wiki, dann auch gleich das Lemma
Zwischenkriegszeit
Schon allein die instabile Wirtschaftsentwicklung, die Kriegsfolgen, der zeitweilig entfesselte Kapitalismus, die Geldentwertung, die Arbeitslosigkeiten und Kriegsrückkehrer sowie Kriegsversehrten, die erbitterte Konkurrenz eschatologischer und dichotomischer, radikaler und gewalttätiger Ideologien erschwerten vielfach stabile, demokratisch-parlamentarische Ordnungen. - Sie würden es auch heute tun und tun es auch. Eine transnationale Sichtweise würde helfen, die Fixierung auf Wilhelm zu relativieren, meine ich.
Mit ist nicht klar, Apvar, obwohl Du selber schon weitere wichtige Elemente nennst aus der Zeit der Weimarer Republik, die in der Rückschau als Bausteine für die Entwicklung hin zum NS-Regime gedeutet werden KÖNNEN, warum Wilhelm II. dennoch als Urvater, als Daimon alles nachfolgenden Übels identifiziert wird. Die Argumentation erinnert mehr an eine Kaskade: Wilhelm war wesentlich mitverantwortlich für den Ausbruch des Krieges, folglich war er irgendwie auch für alle unmittelbaren, mittelbaren und noch mittelmittelbaren Folgen des Weltkriegs verantwortlich.
Hier wird rückschauend eine unterkomplexe, scheinbar unausweichliche Entwicklungslinie von Wilhelm nach 1933 gezogen. Gerade jetzt in der Diskussion wird nochmals deutlich, welche festgelegte und normierte Unausweichlichkeit und einmalige Dominanz dem Wirken Wilhelms hinsichtlich 1933 zugerechnet wird.
Was die Reden und Sprüche und damit die Wirksamkeit von 1914 angeht, fehlt jeder Hinweis auf die mehrheitlich liberale Pressewelt des Kaiserreiches, die Kritik an KW II. und seinen Reden, von weit rechts, liberal wie links. Die 'Wilhelminische Gesellschaft' war durchaus vielfältig.
Die Weltwirtschaftskrise war und ist der Steigbügelhalter für '1933'. Und dass ausgerechnet ein Hitler und die NS-Bewegung mit ihrem Aktivismus ab 1933 ihre fatalen Vorstellungen nachhaltig verwirklichen würden, war keine unmittelbare Anschlußentwicklung nach dem Rücktritt Wilhelms, wie schon die zeitliche Differenz klar machen sollte.
Ich kann an dieser Stelle nur Leonidas Hill, Die Weizsäcker-Papiere, 1900/1932 (1982), empfehlen, da in dieser Publikation vielfache Auszüge aus Ernst von Weizsäckers 'Kriegstagebuch' und Privatbriefe abgedruckt worden sind.
Bei unmittelbarem Kriegsbeginn, von Weizsäcker war Marine-Offizier, scheint eine deutlich Skepsis bis Abneigung gegen die Preussen und die Preussischen Militärs durch, das geht etliche Wochen so, eine Haltung, die auch schon in den Selbstzeugnissen in den Jahren davor immer mal wieder artikuliert wird. Die 'Preussen-Kritik' von Weizsäckers ist wirklich instruktiv und erhellend, für eine eigenen Dis. eine gute Basis, um substanzielle Kritik am Preussen Wilhelms II. darzustellen (auch Rathenaus legendäre Kritik am der Kaiserlichen Umgebung/Adelsschicht könnte mal wiedergegeben werden).
Wilhelm selber 'verschwindet' in den Selbstzeugnissen allmählich zwischen 1914-1919, eine bedeutende Rolle hatte er sowieso nicht. Noch wichtiger: Bei von Weizsäcker taucht meiner Erinnerung nach bereits 1917 die (sinngemäße) Formulierung auf, hätte man doch bloß einen 'Führer' in diesen Zeiten. Wilhelm II. galt wohl spätestens in den fortgeschrittenen Kriegsjahren eben nicht als die notwendige Führungspersönlichkeit. Der Wunsch nach einen Führer wird ab 1917 zunehmend artikuliert, soweit ich sehe.
1919/1920 erkennt man in Hills Publikation eine unterschiedslos nationalistisch orientierte Person, nun auch mit einigen antisemitischen Vorurteilen, die dann und wann in den Selbstzeugnissen auftauchen.
Diese Radikalisierung durch den radikalen Weltkrieg und seinen Zerstörungen von Hemmschwellen lediglich als unausweichliche Folge von Wilhelminischer Rhetorik und Politik vor 1914 zu deuten, beißt sich mit einer differenzierten Kenntnis, zumal wenn sie auch Rückschaufehler berücksichtigt.
Insgesamt wundert mich, wie unkritisch die Rhetorik/das Wirken von Wilhelm vor 1914 als alles durchdringende, monolithisch formende Kraft in einer Art uniformierten Gesellschaft wahrgenommen wird. Also ob vor 1914 schon ein totales Propaganda-Regime, eine gleichgeschaltete Ordnung wie 1933 nachfolgend bestanden hätte.