Ich habe die Deportationshypothese immer für Unsinn gehalten. Es wird Gründe gegeben haben, warum der Kontakt zum Mutterland abbrach und die nautischen Kenntnisse verkümmerten und schließlich gänzlich verloren gingen. Meine Vermutung wäre, dass die Kenntnisse im Bootsbau verloren gingen oder dass es einfach kein gutes Bootsbauholz gab. Manche Inseln sind ja karg, ob sich der kanarische Lorbeer zum Bootsbau eignet, weiß ich nicht. Wenn ich es nicht hinreichend gutes Bootsbauholz gibt, gehen die Kenntnisse spätestens nach zwei Generationen verloren. Wo keine Boote gebaut werden, kann auch niemand von seinen Verwandten lernen, wie man Boote baut.
 
Eine kurze Recherche zu Lorbeerholz ergibt, dass Lorbeer gut zu verarbeiten sei, aber sehr anfällig dafür zu faulen oder von Insekten angefressen zu werden. Daher würde ich meinen, dass der prädominiere Holzlieferant auf den Kanaren ein ungeeignetes Holz für den Schiffsbau ist.
 
Die kanarische Kiefer hingegen wäre ein geeignetes Schiffsbauholz. Allerdings in der Nebelwolkenzone gelegen und sehr hart. Da die Altkanarier keine Metallverarbeitung mehr kannten, könnte es ein Problem gewesen sein, unter vertretbarem Aufwand diese Bäume zu fällen, in Wassernöhe zu bringen und zu Bootsholz zu verarbeiten,
 
Die Kanarische Kiefer wuchs bis zum Meer herunter, kam auch in dichten Beständen im Süden Teneriffas und Gran Canarias vor, wuchs angeblich auf allen Inseln, und ist auch heute noch bis auf 100 m Höhe herab zu finden. An Holz mangelte es nicht.

Für Bootsbau geeignetes Schilf gibt es zumindest auf La Palma, ganz sicher gab es das auch in den wasserreichen flachen Barrancos z.B. in San Nicolas de Tolentino auf Gran Canaria.

Dass die berberische Bevölkerung der Kanaren die Kanaren selbständig erreicht hat, gilt als ausgeschlossen.
Es gibt keinerlei archäologisches Substrat, keine zeitgenössischen Berichte über Seefahrt bei den Guanchen.

Es gibt hingegen Befunde von an der Küste gesammelten Mollusken und direkt an der Küste gefangenen Fischen, jede Menge Angelgerät aus Holz und Knochen, Netzgewichte aus Basalt, Körbe, Harpunen: Fischer ohne Boote.

Die Guanchen hatten keine Boote, hatten keine Schiffahrt, denn sie brauchten sie nicht.

Hirten und Bauern aus dem nordafrikanischen Hinterland sind keine Fischer, sind keine Seefahrer. Dafür aber Experten im Anbau von Linsen, Gerste, Bohnen, in der Nutzung von Farnwurzeln und Wildgräsern, im Rösten und Konservieren von Getreide (= Gofio), in der Zucht von Schweinen, Schafen und Ziegen.

Und schon Hanno der Seefahrer aus Kathargo schilderte um 480 v. Chr. wie er solche Experten, nämlich die nicht selbst bootsfahrenden Lixeten, als Kolonisten an Bord nahm.
 
Heute in der WELT über folgenden Bericht gestolpert

Archäologie: Die Kanarischen Inseln wurden erst vor rund 2000 Jahren besiedelt – aber von wem? - WELT

Ein Forschungsteam um Jonathan Santana von der Universität Las Palmas stellt nun eine Studie mit folgendem Ergebnis vor:

Die Römer hätten die Kanaren erstmals im 1. Jahrhundert vuZ erreicht. Die Besiedlung der Insel Los Lobos wäre aber erst Mitte des 1. Jahrhunderts uZ erfolgt.

Unabhängig von den Römern hätten Berber die Inselgruppe in der Zeit vom 1. Jahrhundert uZ bis zum 3. Jahrhundert uZ besiedelt. Diese wären auch nicht mit römischen Schiffen auf die Insel gekommen, sondern auf eigenen Booten.

Ein Austausch zwischen den beiden Gruppen hätte es nicht gegeben.

Es gibt keinen Nachweis einer Anwesenheit von Phönizier oder Kartharger auf den Kanaren.

Es gibt auch keinen Nachweis eines Austauschs zwischen den Nachfahren der Berber auf der Insel zu Nordafrika in späteren Zeiten. Selbst zwischen den Inseln gab es keine größeren Kontakte. Die Europäer nach deren Ankunft auf den Kanaren hätten unterschiedliche Gesellschaften auf den einzelnen Inseln vorgefunden. Diese Auseinanderentwickeln der "Ureinwanderer" erklärt sich durch unterschiedliche Lebensbedingungen auf den einzelnen Inseln.

Im Prinzip ist das auch nur eine Zusammenfassung des Fadens. Ob das Forschungsteam bei uns mitliest ?
;)
 
Wir lesen ja auch die spanischen Beiträge und interpretieren die bisherigen Funde neu.
Ein wenig ist das wie beim Murmelspiel: eine in die Mitte geworfene Kugel stößt die anderen an, ergibt ein anderes Bild, ein anderes Muster. Die Kugeln sind fast dieselben, aber jetzt erst können wir sie begreifen.

Ein Interview vom August 2023 über die genetische Vielfalt der Ureinwohner der Kanaren: keine zufällige und sporadische Besiedlung, sondern eine intensive und geplante Kolonisation, mit hoher anfänglicher Populationsdichte und nachfolgender genetischer Verarmung, letztere aufgrund fehlenden Kontaktes zwischen den Inseln selbst und dem nordafrikanischen Festland.


Es gilt natürlich das was @El Quijote an anderer Stelle gesagt hat: zur Zeitenwende hatten die Mauretanier eine eigene Flotte. Und im weitesten Sinne war auch Juba Ii. Berber.

Hinweise auf die kulturelle Identität könnten auch Idole und Stauetten sein, so man sie denn auf den Kanaren fände, z.B. der Göttin Tanit.

Ich hoffe natürlich auch auf antike Schiffswracks auf den Kanaren und vor der marokkanischen Küste, die anhand der Untersuchung des verwendeten Holzes Aufschluss darüber geben können, wer diese Schiffe gebaut hat, und wo.
 
Zuletzt bearbeitet:
Eine neue Untersuchung der Universität von La Laguna auf Gran Canaria (leider großen Teils hinter Bezahlschranke), die anhand von Radiocarbondatierungen ein statistisches Verteilungsmuster und eine Chronologie der Besiedelung der Inseln erstellten:


In den Zeitungsberichten z.T. etwas ausführlicher erläutert:



Resumé:
  • Die Römer waren zuerst da, entdeckten die Inseln.
  • Die tatsächliche Besiedelung erfolgte deutlich später, als geplante Besiedelung durch die Berber von der nordwestafrikanischen Küste, in Kenntnis der römischen Entdeckungen.
  • Die östlichen Inseln zuerst, zuletzt und zeitgleich El Hierro und La Palma.
Ich bin natürlich nicht damit einverstanden und sehe eine ganze Reihe von methodischen Fallstricken.

Sehr gut erläutert sind die Schwierigkeiten der Radiocarbondaten:
  • Asche aus der Verbrennung von Holz enthält nun einmal auch das C14 der ältesten Baumringe, wird deshalb für älter gehalten.
  • Die C14-datierten Knochen von Menschen, die sich von Fisch und Molluskeln (die älteres marines C14 aufnehmen) ernährt haben, werden für älter eingeschätzt als diejenigen die sich von Pflanzen ernähren, die radioaktives C14 nur aus der Luft entnehmen.
  • Die Arbeitsgruppe hat sich sehr um saubere Analytik bemüht und sehr viele neue Proben von älteren und auch von vielen neuen Fundplätzen analysiert.
Das Manko der Untersuchung ist jedoch:
  • C14-Untersuchung, nicht genetische Untersuchung.
  • Man zieht sehr viel Material (Asche) heran, bei der Analyse von Material eindeutig anthropogener Genese (z.B. Getreidekörnern die nicht endemisch vorkommen) wäre eine höhere Trennschärfe zu erwarten.
Man lehnt sich sehr weit aus dem Fenster wenn man folgert
  • dass die Ureinwohner die Inseln eigenständig erreicht hätten, also Hochseenavigation und Schiffbau beherrscht hätten (@El Quijote: jetzt bitte nicht auf die Pateras verweisen...)
  • Und dass die Inseln von Ost nach West besiedelt wurden, die meisten Forscher gehen davon aus, dass jede Insel primär vom Festland aus angelandet und kolonisiert wurde.
 
Zuletzt bearbeitet:
Resumé:
  • Die Römer waren zuerst da, entdeckten die Inseln.
  • Die tatsächliche Besiedelung erfolgte deutlich später, als geplante Besiedelung durch die Berber von der nordwestafrikanischen Küste, in Kenntnis der römischen Entdeckungen.
Plinius nennt in der Historia Naturalis zwei Quellen für sein Wissen um die insulae fortunatae: den mauretanischen König Juba (II.) und den Geographen(?) (Statius) Sebosus. (Die deutsche und italienische Wikipedia sind die einzigen Wikipedien, die Infomationen zu ihm anbieten, leider ist die eine schlicht die Übersetzung der anderen, was die dünnen Angaben über dessen Lebenszeit (erste Jhdt. v. Chr. bis Plinius selbst, der ihn aber vielleicht nicht direkt, sondern über Varro zitiert hat) nicht besser macht. Es ist völlig unklar, woher dessen Lebenszeitdatierung rührt.)

Laut Plinius, der (bzw. dessen Quellen) aber gerade in der Peripherie oft nicht zuverlässig ist (sind), sollen auf einzelnen der sieben Inseln Bauwerke (Quelle hierfür: Juba) stehen.

alteram insulam lunoniam appellari, in ea aediculam esse tantum uno lapide exstructam​

eine zweite Insel wird Iunonia genannt, auf dieser ist ein aus Stein errichtetes Tempelchen​

proximam ei Canariam vocari a multitudine canum ingentis
magnitudinis (ex quibus perducti sunt lubae duo); apparere ibi vestigia aedificiorum​

die nächste Insel [von Invallis/Nevalis (Sebosus) bzw. Ninguaria (Juba)] wird Canaria genannt wegen der Menge an Hunden ungeheurer Größe (von denen zwei zu Juba geführt wurden); dort sind Spuren von Gebäuden​

So, wie die aedicula eingeführt ist, müssen wir wohl davon ausgehen, dass Jubas Leute niemandem begegnet sind, der ihnen Auskunft über das Bauwerk geben konnte. Die Spuren von Gebäuden auf Gran Canaria lesen sich so, als handele es sich eher um eine Wüstung, als eine intakte Siedlung.
Man muss auch allerdings fragen, ob die Herleitung des Namens Canaria nicht eine Pseudoetymologie ist. Denn dieser Name taucht in der Liste der Inselnamen von Juba auf, nicht in der von Sebosus (dort vermutlich Planasia).

Plinius selbst nennt an anderer Stelle einen mauretanischen Stamm Canarii.

Womöglich sind Sebosus (bzw. dessen Gewährsleute) und die Seefahrer des Juba nur niemandem begegnet, weil die Inselbewohner sich versteckt haben. (Nein, für plausibel halte ich das selber nicht.)
Jedenfalls spricht die Benennung einer Insel bei Sebosus - Capraria - für die Anwesenheit von Ziegen - oder ggf. Steinböcken. Fragt sich: wo kamen die her?
 
Heute in der WELT über folgenden Bericht gestolpert

Archäologie: Die Kanarischen Inseln wurden erst vor rund 2000 Jahren besiedelt – aber von wem? - WELT

Ein Forschungsteam um Jonathan Santana von der Universität Las Palmas stellt nun eine Studie mit folgendem Ergebnis vor:

Die Römer hätten die Kanaren erstmals im 1. Jahrhundert vuZ erreicht. Die Besiedlung der Insel Los Lobos wäre aber erst Mitte des 1. Jahrhunderts uZ erfolgt.

Unabhängig von den Römern hätten Berber die Inselgruppe in der Zeit vom 1. Jahrhundert uZ bis zum 3. Jahrhundert uZ besiedelt. Diese wären auch nicht mit römischen Schiffen auf die Insel gekommen, sondern auf eigenen Booten.

Ein Austausch zwischen den beiden Gruppen hätte es nicht gegeben.

Es gibt keinen Nachweis einer Anwesenheit von Phönizier oder Kartharger auf den Kanaren.

Es gibt auch keinen Nachweis eines Austauschs zwischen den Nachfahren der Berber auf der Insel zu Nordafrika in späteren Zeiten. Selbst zwischen den Inseln gab es keine größeren Kontakte. Die Europäer nach deren Ankunft auf den Kanaren hätten unterschiedliche Gesellschaften auf den einzelnen Inseln vorgefunden. Diese Auseinanderentwickeln der "Ureinwanderer" erklärt sich durch unterschiedliche Lebensbedingungen auf den einzelnen Inseln.

Im Prinzip ist das auch nur eine Zusammenfassung des Fadens. Ob das Forschungsteam bei uns mitliest ?
;)
... und ich hatte ganz vergessen dass @flavius-sterius diesen Bericht, auf deutsch, vor heute genau einem Monat schon vorgestellt hatte!
 
Noch einmal eine schöne Übersichtsarbeit, die darlegt dass die römische Erschließung der Kanaren keineswegs nur sporadische Funde hinterlassen hat:


Interessant auch die hier vorgestellte Beschreibung des Plutarch, dass Sertorius
von Seeleuten aus Cadíz über die Islae fortunatae berichtet wurde: eine eindeutige Beschreibung der Lage und Topographie der nur durch einen schmalen Kanal getrennten Inseln Lanzarote und Fuerteventura. Unweit davon ist ja auch die römische Fundstelle der vorgelagerten Insel Isla de Los Lobos auf der Ostseite Fuerteventuras.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Plutarch-Stelle können wir ja mal diskutieren.
Sertorius lebte von 123 - 72 v. Chr.
Iuba II. lebte von ~50 v. Chr. - 23 n. Chr.
Plinius lebte von 24 n. Chr. - 79.
Plutarch lebte von 45 - 125.
Zu Zeiten des Sertorius war Spanien in zwei Provinzen aufgeteilt: H Citerior und H. Ulterior.
Augustus ändert das 27 v. Chr. und teilt Hispanien in die Tarraconensis (weitgehend die alte Citerior) und die Lusitanien und Baetica (die alte Ulterior) auf.
Sprich, wenn uns Plutarch berichtet, dass Sertorius Seeleuten in der Baetica begegnete, dann muss das nicht in der Sache falsch sein, stellt aber einen Anachronismus dar, da es die Baetica zu Sertorius' Lebenszeiten als solche noch nicht existierte.
Plinius berichtet uns früher von den Besuchen der Inseln durch Seeleute des Iuba.
Plutarch stellt uns die Islae Fortunatae (Μακάρων) als unberührtes Paradies dar, eine Art Utopia für einen kriegsmüden Sertorius, dass dieser gerne ansteuern würde, um sich dort niederzulassen, allein seine Verbündeten, die kilikischen Piraten, machen ihm einen Strich durch die Rechnung.
Die beiden Inseln werden nur kurz beschrieben: Regelmäßige Regenfälle und angenehme Winde machten ein angenehmes Klima, es gebe Früchte im Überfluss und man könne hier gut Ackerwirtschaft betreiben οὐ μόνον ἀροῦν καὶ φυτεύειν παρέχουσιν ἀγαθὴν καὶ πίονα χώραν.
Wenn man aber aufgrund der Engstelle, die zwischen beiden Inseln liege der Auffassung ist, dass es sich um Lanzarote und Fuerteventura handeln müssen, so sind dies doch die beiden Inseln der Kanaren, die sich gerade durch Ödnis auszeichnen.
Geht man nun hin und nimmt die Entfernungsangabe ernst - μυρίους δʼ ἀπέχουσι Λιβύης σταδίους - dann kann es sich nicht um die Kanaren handeln und man müsste eher 1.600 km von der afrikanischen Küsten entfernt suchen.
Also ich bin eher der Meinung, dass wir es hier mit einem Utopia zu tun haben - der kriegsmüde Sertorius würde sich gerne in ein von den Bürgerkriegen der römischen Republik unberührtes Fleckchen Erde zurückziehen, wo man ohne große Mühen ernten kann - als mit einer hsitorischen Begegnung von Sertorius mit zwei Seefahrern (zumal Sertorius ja mit Piraten unterwegs war).
 
Natürlich ist die Beschreibung bei Plutarch die einer Utopie.
Das ändert nichts daran dass er sich auf zeitgenössische Quellen stützt, und die parallelen Lebensläufe Fakten verwenden die seinen Lesern bekannt waren:
  • 10.000 Stadien von Libyen entfernt (und nicht von der späteren römischen Provinz Africa!)
  • Und es wird ja nicht behauptet dass diese Inseln westlich von Gibraltar im hohen Atlantik liegen, es ist nur die nautische Fahrtstrecke gemeint.
  • Die zitierten Gewährleute sind Seeleute irgendwo aus der Gegend von Cadiz. Und das sind nach griechischer und römischer Auffassung diejenigen, die die Küstenseefahrt westlich von Gibraltar beherrschten. Also im Sinne des Berichts und der Zeitgenossen "glaubwürdige Experten".
  • "Angenehme Winde", ein anderer Begriff für den Nordostpassat.
  • Regelmäßiger Regen: nein, mit < 300 mm Niederschlag je m² im Jahr trifft das für diese beiden Inseln "bar lo vento" nicht zu, auch wenn sie in antiker Zeit baumbestanden waren. Alle anderen Inseln der Kanaren haben wesentlich mehr Niederschlag und waren in der Antike dichter bewaldet.
 
  • 10.000 Stadien von Libyen entfernt (und nicht von der späteren römischen Provinz Africa!)

  • Ich habe nicht von der römischen Provinz Africa (mit c) geredet, sondern von der afrikanischen (mit k) Küste.
    Die bei Plutarch gemachte Entfernungsangabe würde weit in den Atlantik verweisen, manche haben diese Stelle mit Madeira (Archipel, nicht Insel) in Verbindung gebracht. Aber auch die Inselgruppe liegt weitaus näher an der afrikanischen Küste, als die angegebene Entfernung. Darauf möchte ich mich aber auch gar nicht kaprizieren, da ich solche Entfernungsangaben für aus der Luft gegriffen halte. Für die Frage, ob es sich um ein Utopia oder um eine geographische Angabe handelt, also am Ende irrelevant.

    [*]Und es wird ja nicht behauptet dass diese Inseln westlich von Gibraltar im hohen Atlantik liegen, es ist nur die nautische Fahrtstrecke gemeint.
    Sertorius soll sich an der Mündung des Baetis aufgehalten haben, also im damaligen Lacus Ligurtinus, dem heute verlandeten Coto de Doñana, also irgendwo zwischen Huelva, Sevilla und Sanlúcar de Barrameda. Die Entfernugsangabe wird von der afrikanischen Küste aus behauptet. Die Kanaren liegen etwa 90 km von der afrikanischen Küste entfernt. Hier haben wir eine Angabe von ca. 1.600 - 1.800 km Entfernung von der afrikanischen Küste.

    [*]Die zitierten Gewährleute sind Seeleute irgendwo aus der Gegend von Cadiz. Und das sind nach griechischer und römischer Auffassung diejenigen, die die Küstenseefahrt westlich von Gibraltar beherrschten. Also im Sinne des Berichts und der Zeitgenossen "glaubwürdige Experten".
    Seemannsgarn ;)
    Genau wie Solon, der bei Platon als Gewährsmann für Atlantis zitiert wird. Und auch Thoma Morus behauptet, Seefahrer zu zitieren, als es um Utopia geht. Cervantes behauptet, seine Geschichte des Quijote aus alten arabischen Schriften zu haben und erzählt, wie der Übersetzer seiner arabischen Schriften in Toledo aus dem Lachen gar nicht mehr heraus kommt. Fidedigne Gewährsleute kommen in der fiktionalen Literatur alle Nase lang vor.
 
Nur handelt es sich beim „Sertorius“ nicht um einen von Platons philosophischen Dialogen und auch nicht um einen Dialog aus Plutarchs sog. „Moralia“, ebensowenig um eine Utopie oder um einen satirischen Roman, sondern um eine Biographie einer historischen Persönlichkeit.
Damit will ich nicht sagen, dass die Geschichte von der Begegnung mit den Seefahrern und den Inseln stimmen muss, nur dass ich nicht glaube, dass Plutarch sie einfach selbst erfunden und mit fiktiven Gewährsmännern „abgesichert“ hat.
Sertorius könnte außerdem durchaus Seefahrern begegnet sein, die ihm einen Bären aufbinden wollten, oder ihm vortäuschen, sie seien weitgereiste Seeleute.
 
Nur handelt es sich beim „Sertorius“ nicht um einen von Platons philosophischen Dialogen und auch nicht um einen Dialog aus Plutarchs sog. „Moralia“, ebensowenig um eine Utopie oder um einen satirischen Roman, sondern um eine Biographie einer historischen Persönlichkeit.
Du hast schon Recht, dass verschiedene Quellentexte zu verschiedenen Quellengattungen angehören. Nur leider ist es ja nicht immer so, dass Autoren die Grenze verschiedener literarischer Textzeugnisse konsequent und strikt einhalten. Ich rekurriere ja immer wieder gerne auf die Reiseberichte des Ritters Arnold von Harff. Diese sind recht nüchtern, fast langweilig und beschränken sich über weite Strecken auf Entfernungsangaben: "Von Y bis Y, ist ein vrijheit, VII lijgen", dann nüchterne Reisesprachführer (zahlen, Brot, Komm schöne Frau zu mir ins Bett). Aber als er von Kairo nach Jerusalem reist, behauptet er, nach einen Umweg nach Süden gemacht zu haben, dabei weicht er plötzlich von seinem nüchternen Stil ab, macht überhaupt keine Meilen- bzw. Leugenangaben mehr und erzählt, er sei allerlei seltsamen Wesen begegnet, wie wir sie von mittelalterlichen Karten aus Afrika finden (Kopffüßer usw.)
Also vom nüchternen, fast langweiligen Reisebericht, dem man nachreisen kann, zur Fabel und dann wieder zurück zum nüchternen, nachreisbaren Reisebericht. Es kommt also vor, dass historische Quellen plötzlich die Gattungsgrenzen überspringen.
 
Zumindest hat sich Plutarch diese Geschichte nicht selbst ausgedacht, sondern sie fand sich so ähnlich bereits in den wesentlich zeitnäheren, leider nur fragmentarisch erhaltenen „Historien“ Sallusts:
„Quas duas insulas propinquas inter se et decem milia stadium procul a Gadibus sitas constabat suopte ingenio alimenta mortalibus gignere.“
„Insulas fortunatas {quas Sallustius ait} inclitas esse Homeri carminibus.“
„Traditur fugam in Oceani longinqua agitavisse.“

Also auch bei Sallust ging es um zwei Inseln und um eine angedachte Flucht. Allerdings drückt hier das Wort „traditur“ („es wird überliefert“) aus, dass es sich eher um ein Gerücht handelte: "Es wird berichtet, dass er eine Flucht in die Weiten des Ozeans erwog."

Einen ganz wesentlichen Unterschied gibt es freilich: Während Plutarch die 10.000 Stadien Entfernung von Afrika aus maß, sind sie bei Sallust von Gades aus gemessen. D.h. die Inseln sind nicht 10.000 Stadien von der Küste des afrikanischen Kontinents entfernt, sondern 10.000 Stadien von Gades. Das allerdings kommt der Realität schon sehr viel näher.
 

Im griechischen Original ist die Rede von Libyen, in der englischen Übersetzung von Africa.
So oder so ist hier nicht die einfache Fahrt strikt nach Westen in den hohen atlantischen Ozean gemeint.

Es gibt aber ein ganz anderes und sehr wichtiges Detail:
  • Die Nebelfeuchte aus den Wolken, die der Bewässerung dient.
Das ist sehr charakteristisch für den Hackfruchtbau auf den Kanaren, ein ganz wichtiges Detail im Bericht des Plutarch.

Als ich 1991 mit dem Fahrrad auf Lanzarote, La Graciosa und Gran Canaria war, hat mich die Fruchtbarkeit der eigentlich ariden Landschaft überrascht. Bezaubernd die Palmenhaine im Talkessel von Haria, und nördlich davon der Weinanbau mit angehäufelten Lapilli.

Im Famaragebirge von Lanzarote gab es in der Antike Bäume oder zumindest Lorbeerwald, und am Südwesthang des Famaragebirges, in Entfernung vom Meer, sind ja die römischen Fundplätze von El Bebedero, da wo die Quellen austreten.
Der fruchtbare Süden und die Landesmitte Lanzarotes sind in historischer Zeit erst durch die verheerenden Vulkanausbrüche zur Wüste geworden.

Natürlich hast Du recht, dass die Beschreibung des Sertorius eine literarische Zuspitzung ist, ein Topos, eine Utopie.

Dem liegen aber in ihren Details ganz eindeutige und realistische Beschreibungen der Inseln zugrunde.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dass die Kanaren zu Plutarchs Zeit bekannt waren. zweifle ich ja gar nicht an. Sue waren mindestens seit Iuba bekannt.
Was ich als Problem sah war die Entfernungsangabe 1800 km von der afrikanischen Küste. Ravenik hat diesen Zweifel mit dem Verweis auf Sallust und Cádiz gemildert, die Entfernung ist zwar immer noch zu weit, aber nicht mehr so extrem.
 
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