Kann man den Krimkrieg und den jetzigen Ukrainekrieg vergleichen?

Jaga

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Beide Kriege haben im selben geographischen Raum stattgefunden. Wie im 19. Jahrhundert ist der Westen auch heute in der Ukraine zumindest indirekt präsent.
 
Ist schon O.K. Es geht ja eigentlich eher um die Vorgeschichte zweier Konflikte bzw. um historisch bedingte russische "Staatsräson" (z.B. Wunsch nach Zugang zu eisfreien Häfen)
 
Vergleichen kann man alles miteinander. Denn vergleichen ist nicht gleich setzen.

Natürlich kann man, oberflächlich betrachtet, zwischen dem Ukrainekrieg und dem Krimkrieg Parallelen erkennen. Aber man muss nicht sehr in die Tiefe gehen, um diese Parallelen als nichtig zu erkennen.
Die größte Gemeinsamkeit zwischen beiden Kriegen ist wohl, dass die Aggression von Russland ausging.
Auch damals spielten durchaus ideologische Gründe eine Rolle, wobei damals das zaristische Russland gewissermaßen (vereinfacht gesagt) das oströmische Reich wiederherstellen wollte.
Heute soll hingegen die einstige Größe des zaristischen Russlands bzw. der SU wiederhergestellt werden und es geht gegen die westliche Demokratie, welche die Ukrainer haben wollen. Der Unterschied zwischen damals und heute ist, dass der Krieg explizit gegen die Interessen der Ukrainer geht. Zwar hat es schon im 19. Jhdt. eine Russifizierungspolitik gegeben, welche die ukrainische Sprache als ein polnisches verwässertes Russisch diffamierte, welches zu reinigen sei, aber der Krieg an sich richtete sich gegen das Osmanische Reich, das zwar nicht mehr die alte Stärke hatte ("Kranker Mann am Bosporus"), das aber seinerseits natürlich auch eine Kolonialmacht war.
Was nun "den Westen" anbelangt: Den gab es im 19. Jhdt. als politische Kraft nicht.
 
Russland ist bekanntlich ein sehr großes Land. Die Furcht, dass der Zentrale in Moskau etwas entgleiten könnte, ist geradezu eine Grundkonstante der russischen Politik. Aus dem Grund gab es immer bestimmte Grundziele der russischen Politik: Zugang zu den Meeren, Zugang zum Welthandel, Kontrolle über Satellitenstaaten. Man könnte sagen, dass Russland eine territorialstrategisch handelnde Macht ist. Andere Mächte sind kapitalistische Zentren und direkt in den Welthandel involviert. Bei Russland ist das etwas anders. Wie im 19. Jahrhundert ist das Land ökonomisch nicht gerade modern, aber natürlich rohstoffreich, straff regiert und militärisch mächtig. Russland war im 19. Jahrhundert ein agrarisches Land, daher war der Zugang zu den Weltmeeren gerade wegen des Getreideexports extrem wichtig. Im 20. Jahrhundert ist der ökonomische Aspekt ebenfalls nicht zu unterschätzen, da es eine ganze Menge Vasallenstaaten in der Welt gab. Russland benötigte Vasallen, da seine Produkte, Waffen ausgenommen, kaum wettbewerbsfähig waren. Mit anderen Worten: Russland ist autokratisch, weil es rückschrittlich ist, weil es rückschrittlich ist, muss es autokratisch regiert werden. Weil es rückschrittlich und autokratisch ist, braucht es autokratische und schwache Satellitenstaaten, die von ihm abhängig sind. Lässt sich diese Tendenz schon im 19. Jahrhundert beobachten? Spielen diese Faktoren in beiden Kriegen eine Rolle? Die Frage lautet: Brauchen klassische Machtstaaten Macht, um stabil zu bleiben?
 
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Russland ist autokratisch, weil es rückschrittlich ist, weil es rückschrittlich ist, muss es autokratisch regiert werden. Weil es rückschrittlich und autokratisch ist, braucht es autokratische und schwache Satellitenstaaten, die von ihm abhängig sind. Lässt sich diese Tendenz schon im 19. Jahrhundert beobachten? Spielen diese Faktoren in beiden Kriegen eine Rolle? Die Frage lautet: Brauchen klassische Machtstaaten Macht, um stabil zu bleiben?
Ich glaube das dass hier ein klassischer Zirkelschluss ist. Demnach hätte auch das Russische Kaiserreich niemals solche Größe erreichen können, da es dank der Monarchie ja auch Autokratisch regiert wurde.
Wenn ich Russland sehe, sehe ich ein Land, welches immer wieder stark von außen bedroht wurde und die Bedrohung hat sich in einer Art Wagenburgmentalität verfestigt. Und dann der
Versuch durch expansion die Gefahr zu reduzieren.
Im Europäischen Teil als kleiner Auszug: Schweden <-> Russland, Russland <-> Preussen, Napoleon, Krimkrieg, dann die Polnischen Teilungen.
 
Ich glaube das dass hier ein klassischer Zirkelschluss ist. Demnach hätte auch das Russische Kaiserreich niemals solche Größe erreichen können, da es dank der Monarchie ja auch Autokratisch regiert wurde.
Wenn ich Russland sehe, sehe ich ein Land, welches immer wieder stark von außen bedroht wurde und die Bedrohung hat sich in einer Art Wagenburgmentalität verfestigt. Und dann der
Versuch durch expansion die Gefahr zu reduzieren.
Im Europäischen Teil als kleiner Auszug: Schweden <-> Russland, Russland <-> Preussen, Napoleon, Krimkrieg, dann die Polnischen Teilungen.

Ich glaube, dass das russische Machtstreben ein absorbierendes Element ist für die Kompensation fehlender innerer Stärke. Die Bedrohung von außen wurde immer auch als Bedrohung für den inneren Zusammenhalt gesehen. Russische Politiker sehen ihr Land als Anhängsel der Zentrale. Die Zentrale funktioniert nur dann, wenn die Außenglieder kontrolliert werden bzw. ausgebeutet werden können. Machtstreben ist ja nicht zwingend Ausdruck besonderer Fortschrittlichkeit, sondern kann ja auch Ausfluss innenpolitischer Probleme verstanden werden. Russland dürfte rund 200 mal so groß sein wie die Schweiz und hat nur doppelt soviel an Bruttosozialprodukt. Allein Oberbayern kommt auf 268 Milliarden Bruttoinlandsprodukt. Bei Russland sind es ungefähr 2,1 Billionen BNP. Nur mal so als Relation. Im 19. Jahrhundert waren die Relationen nicht zwingend anders. Eine klassische Handelsmacht hätte gar nicht das Interesse, wertloses Land zu unterjochen, sondern würde z.B. nur einzelne Zentren kontrollieren oder über Freihandelsunionen indirekten Einfluss ausüben.
 
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Das BIP ist eine vergleichsweise schlechtes Mass. Warum? Weil alles auf eine Währung umgerechnet wird. Und ist ein schlechter Umtauschkurs vorhanden habe ich per se ein niedriges BIP. Was einmal bezahlt ist und wie Häuser und ich sie selber Nutze erzeugen einen niedrigen BIP. Das selbe bei niedrigen Lohnkosten.
 
Die Bedrohung von außen wurde immer auch als Bedrohung für den inneren Zusammenhalt gesehen.
Schon das Ausgehen von einer konstanten Bedrohung ist mehr oder weniger Unsinn.

Von außen bedroht waren die russischen Fürstentümer im Hochmittelalter mal, im Besonderen von durch die mongolische Präsenz, im Spätmittelalter und über weite Teile der Frühen Neuzeit ist das aber gar nicht der Fall.

Die russische Expansion, wenn man da ungefähr bei Ivan dem Schrecklichen anfangen möchte, begann eigentlich in einer Phase, in der der äußere Druck von Osten zerfiel und von Westen noch kaum welcher vorhanden war.
Die Verwicklungen mit den europäischen Mächten begannen ja mehr oder weniger vor allem mit Ivans gescheitertem Livland-Krieg, aus dem Moskowien/Russland nichts nennenswertes herausholen konnte, dafür aber mit Polen-Litauen und Schweden aneinander geriet.

Auch wurde ja, seit den Stroganows immer fleißig in Richtung Osten expandiert, obeohl gerade in dieser Richtung nach dem sukzessiven Verfall der mongolischen Nachfolgereiche eigentlich keine wirkliche Bedrohung mehr vorlag.

Und auch was spätere Zeiten angeht, haut das mit dieser Litanei vom ewig angegriffenen Russland nicht hin.

Ja, Karl XII. von Schweden und Napoléon hatten versucht in Russland einzumarschieren und das führte zur Erfahrung der Invasion.

Aber was Karl XII. angeht, den "Großen nordischen Krieg" hatte nicht etwa Schweden vom Zaun gebrochen, sondern Peter der Große, weil er an Häfen und Seezugänge im Baltikum und in Ingermanland heranwollte.
Das es zum schwedischen Einmarsch weit nach Russland hinein kam, liegt einfach daran, dass der Plan grandios schiefgegangen ist.

Und was Napoléon betrifft, der hatte natürlich den Feldzug von 1812 gegen Russland angefangen, man darf daber aber auch nicht übersehen, dass Russland zuvor in den Koalitionskriegen 2-4 drei mal an der Seite Englands, Österreichs und Preußens gekämpft und dabei Truppen bis nach Süddeutschland, in die Schweiz und nach Norditalien geschickt hatte, ohne dass es seinerzeit vom revolutionären oder napoléonischen Frankreich angegriffen gewesen wäre.
Wenn man sich vergegenwärtigt, dass Russland kurz vorher drei mal aus eigenem Antrieb Krieg gegen Frankreich geführt hatte, dann wirkt Napoléons agieren, nachdem klar war, dass sich Russland nicht mehr an den Tilsiter Frieden hielt und sich wieder Großbritannien annäherte, deutlich weniger überzogen.


Auch was den Krimkrieg angeht: Da ging es nicht darum, dass Russland in irgendeiner Weise bedrängt gewesen wäre, sondern daraum das der Zar versuchte mittels eines Protektorats über die orthodoxen Christen innerhalb des Osmanischen Reiches seinen Einfluss vor allem auf dem Balkan auszudehnen.


Machtstreben ist ja nicht zwingend Ausdruck besonderer Fortschrittlichkeit, sondern kann ja auch Ausfluss innenpolitischer Probleme verstanden werden.
Der Denkfehler bei diesem immer wieder auftauchenden Modell ist, dass durch Eroberungen die inneren Probleme nur größer werden, weil es bedeutet dass immer mehr Gruppen, Teil eines Reiches werden, die damit mitunter wenig anfangen können, was die Zentrifugalkräfte erhöht.

Die Zentrale funktioniert nur dann, wenn die Außenglieder kontrolliert werden bzw. ausgebeutet werden können.
Diese Logik geht aber nur auf, wenn die äußeren Teile eines Reiches der Zentrale an Ressourcen mehr einbringen, als sie beanspruchen. Das geht aber in Russland in diversen Regionen nicht auf und war in diversen Regionen auch nie der Fall.

Sibiren und der Kaukasus z.B. sind interessant, seit dem es moderne Erdölwirtschaft gibt, vorher waren das mehr oder weniger reine Zuschussgebiete in deren Aufbau der Russische Staat mehr reinsteckte, als er rausholte.
Sibirien war vielleicht in der FNZ als Quelle von Pelztieren für den Pelzhandel noch von einer gewissen Bedeutung, aber das dürfte wirtschaftlich kaum schwerwiegend genug gewesen sein um den Aufbau von Städten und Verwaltungsinfrastruktur zu rechtfertigen, zumal Pelzjäger und -Händler da mehr oder weniger auch ohne staatlichen Rahmen hätten agieren können.

Russland dürfte rund 200 mal so groß sein wie die Schweiz und hat nur doppelt soviel an Bruttosozialprodukt. Allein Oberbayern kommt auf 268 Milliarden Bruttoinlandsprodukt. Bei Russland sind es ungefähr 2,1 Billionen BNP. Nur mal so als Relation.
Wenn du mit solchen Zahlen um dich wirfst, dann geht damit bitte auch entsprechend kritisch um.

Das BIP ist erstmal als Größe nur bedingt aussagekräftig, weil es mitunter einen Großteil der erbrachten Arbeitsleistung überhaupt nicht erfasst.
Es erfasst und das ist gerade bei historischen Diskussionen nicht unwichtig, ausschließlich Leistungen, die über Märkte vermittelt werden.
Das wiederrum ist eine größe, die in einem Land von der Größe der realiter erbrachten Leistungen deutlich abweichen kann, weil alles was auf Subsistenzbasis, auf Schwarzmärkten etc. stattfindet im BIP nicht auftaucht, realiter aber vorhanden ist.
Und gerade in einem Land mit vielen abgehängten, ländlichen Regionen und repressiven politischen Regimes spielen solche Faktoren durchaus eine erhebliche Rolle.
Auch kommt hinzu, dass mitunter natürlich aus strategischen gründen wirtschaftliche Potentiale nicht in dem Maße ausgefahren werden, wie es theoretisch möglich wäre.

Ohne jetzt allzu tagespolitisch werden zu wollen, wir wissen alle, dass Russland in den vergangenen 20 Jahren Öl und Gas nach Zentraleuropa zu Vorzugskonditionen verkauft hat, mit der Implikation diese Märkte zu übernehmen und Abhängigkeiten zu schaffen.
Da wurde also zum Teil um strategischer Vorteile willen schlicht und einfach auf ein höhere Preise und damit ein höheres BIP verzichtet, obwohl möglicherweise durchaus größere Profite drinn gewesen wären.

Ein weiterer Punkt, den du nicht berücksichtigst, im Besonderen, wenn es um wirtschaftliche Probleme von Staaten geht, ist der Umstand, dass das BIP vielleicht eine sinnvolle Messgröße dafür sein kann, wie viel in einem Land produziert wird, aber nicht zwingend eine dafür ist, wie viel davon dem Staat zum Verausgaben zur Verfügung steht.
Wenn ein Staat mit einer wunderbar laufenden Industrie, nur geringe Zoll- und Steuersätze erhebt, bedeutet die große Produktionsleistung im Land nicht automatisch auch großen Spielraum für die Regierung mit diesen Mitteln Probleme zu regeln.

Wenn die Schweiz gemessen an Russland ein hohes BIP hat, nutzt das der schweizer Regierung insofern nur bedingt etwas. In Russland sind heute mehr oder weniger alle Wirtschaftszweige, die Gewinne abwerfen, im Besonderen der Rohstoffsektor, in weiten Teilen entweder direkt oder halb verschleiert in staatlicher Hand.
Das heißt, Russlands BIP mag zwar nicht groß sein, die russische Regierung kann aber jederzeit durch Gewinnabschöpfung bei den Staatskonzernen auf erhebliche Mittel zugreifen, ohne dafür an der Steuerschraube drehen zu müssen.
Mit dieser Konstruktion dürfte Russlands Regierung in der Lage sein mehr Mittel und Spielräume zu acquirieren, als so mache Regierung eines Landes, dessen Wirtschaftsleistung auf dem Papier erheblich größer ist.

Deswegen lässt sich eine nach BIP weniger gut laufende Wirtschaft nicht zwangsläufig mit mehr Problemen für die Regierung gleichsetzen.



Im 19. Jahrhundert waren die Relationen nicht zwingend anders.
Kommt ganz drauf an, in Relation zu wem. In Sachen Industrie hing Russland natürlich den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland hinterher, dem Rest der Welt nicht so unbedingt, jedenfalls, wenn man so auf die letzte Dekade des 19. Jahrhunderts schaut.
Und Russland war durchaus in der Lage mit seiner extrem großen Agrarproduktion, auf Europas Lebensmittelmärkten eine ganz erhebliche Rolle zu spielen. Als im 1. Weltkrieg Zufuhren russischer Argrarexporte wegfielen, wurde das in Deutschland schnell zum Problem.


Eine klassische Handelsmacht hätte gar nicht das Interesse, wertloses Land zu unterjochen, sondern würde z.B. nur einzelne Zentren kontrollieren oder über Freihandelsunionen indirekten Einfluss ausüben.
Erzähl das mal den Kolonialmächten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die sich in Afrika im großen Stil Kolonialreiche unterwarfen, die wirtschaftlich absolut unattraktiv waren und die Kosten für den Aufbau der Infrastruktur und die Kolonialverwaltungen nicht deckten.

Diese ideale Handelsmacht findest du nicht.

Selbst die Niederlande und Portugal, denen man das nachsagen könnte (in der FNZ stimmte es auch, nur später dann eben nicht mehr) haben im Laufe der Jahrhunderte am Ende bei ihren Kolonialprojekten flächenmäßig große abhängige Einflusszonen geschaffen, die wirtschaftlich nicht unbedingt sinnvoll waren (das niederländische Kolonialreich noch mehr als das Portugiesische, weil Indonesien insgfesamt relativ rohstoffreich ist)

Hinzu kommt, dass die Vorstellung einer reinen "Handelsmacht" auch nicht mehr in die Zeit nach der Industrialisierung passt, weil im Industriezeitalter Produktion gegenüber Handel die erheblich größere Rolle spielt.
Die dafür benötigten Ressourcen sind andere.
 
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Von außen bedroht waren die russischen Fürstentümer im Hochmittelalter mal, im Besonderen von durch die mongolische Präsenz, im Spätmittelalter und über weite Teile der Frühen Neuzeit ist das aber gar nicht der Fall.
Man sollte aber nicht die Ostexpansion des Großfürstentums Litauen vergessen, das im Mittelalter so manche ehemals russischen Teilfürstentümer (wie Smolensk) schluckte. Diese Gebiete konnten erst in der Neuzeit wieder von der Herrschaft der nunmehrigen Union aus Polen und Litauen „befreit“ werden. Noch Anfang des 17. Jhdts. war Polen-Litauen in der Zeit der „Smuta“ expansiv unterwegs, als es den falschen Dmitri auf den Zarenthron brachte und sich bei dieser Gelegenheit von ihm Gebiete abtreten ließ.

Auch der Norden, insbesondere die Region um Nowgorod, war im Mittelalter durch Expansionsbestrebungen von Schweden, Dänen und Schwertbrüderorden sowie Deutschem Orden bedroht.

Die Bedrohung durch die Mongolen schwand übrigens mit dem Untergang der "Goldenen Horde" nicht. Noch bis weit ins 17. Jhdt. fielen die Krimtataren alle paar Jahre tief in Russland ein und zerstörten einmal sogar Moskau.
 
Man sollte aber nicht die Ostexpansion des Großfürstentums Litauen vergessen, das im Mittelalter so manche ehemals russischen Teilfürstentümer (wie Smolensk) schluckte.
Sicher, Halytsch, Smolensk, Polotzk, Kiew und Tschernigow betraf das, aber das Fürstentum Vladimir-Susdal, nachmalig Moskau war davon ja selbst nicht so unbedingt direkt betroffen.
Und hier könnte man durchaus auch argumentieren, dass der Umstand, dass Litauen in Richtung Osten expandierte, den Aufstieg Moskaus als Keimzelle des späteren russischen Staates durchaus sogar begünstigte, weil es "innerrussische" Rivalen unter den anderen Fürstentümern abräumte.

Wenn man das von einer fiktiven gesamtrussischen Perspektive betrachtet, hast du recht. Wenn man das aus der speziellen Perspektive des moskowitischen Fürstentums betrachtet, dann waren vielleicht die Reste der Goldenen Horde und vielleicht in gewissem Maße das Osmanische Reich, mit seinem faktischen Protektorat über das Khanat der Krimtartaren noch eine abstrakte Bedrohung, aber Litauen eher nicht.

Noch Anfang des 17. Jhdts. war Polen-Litauen in der Zeit der „Smuta“ expansiv unterwegs, als es den falschen Dmitri auf den Zarenthron brachte und sich bei dieser Gelegenheit von ihm Gebiete abtreten ließ.
Aber da sind wir ja bereits zwei Generationen nach dem Livlandkrieg Ivans des Schrecklichen.

Natürlich haben Großmächte und solche, die sich dafür hielten immer wieder versucht Gelegenheiten zu ergreifen auf Kosten ihrer Nachbarn zu expandieren.
Nur war das im Fall der "Smuta", ja nicht der, um es pointiert zuzuspitzen programmatische polnisch-litauische "Drang nach Osten", als ein stets widerkehrendes, altbekanntes Phänomen, sondern mehr der Versuch einfach mal zu sehen, was im krisengeschüttelten msokowiter Reich gerade so ging.

Auch der Norden, insbesondere die Region um Nowgorod, war im Mittelalter durch Expansionsbestrebungen von Schweden, Dänen und Schwertbrüderorden sowie Deutschem Orden bedroht.
Ja, um 1200-1300 +/- herum war das sicherlich so.
Aber auch da wäre wieder die Frage, nach der gesamtrussischen oder der moskowiter Perspektive. Aus einer anachronistischen gesamtrussischen Sicht mögen sich die Nowgoroder als iregendwo Russen im Spätmittelalter von den skandinavischen Reichen bedroht gesehen haben.

Moskau betraf das weniger, so weit reichte der Arm der Dänen und Schweden nicht (mehr) und der Umstand, dass Nowgorod im Ostseeraum entsprechenden Gegnern gegenüberstand dürfte auch hier dem Moskauer Fürsten beim Aufbau ihres Reiches eher in die Karten gespielt haben.
 
Ich glaube, man sollte den Blick auf „Russland“ nicht auf die Perspektive Moskaus verengen. Auch wenn es im Hoch- und Spätmittelalter keinen gesamtrussischen Staat gab, gab es allem Anschein nach doch so etwas wie ein „russisches“ Bewusstsein. Wenn man etwa mittelalterliche russische Chroniken liest (wobei ich gestehen muss, dass ich erst zwei gelesen habe), zeigt sich, dass sie sich auch immer für Ereignisse in den anderen russischen Staaten interessierten, aber kaum für außerhalb (ausgenommen etwa die Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer 1204, die auch im orthodoxen Russland für mächtig Aufsehen sorgte).
Auch einen politischen Zusammenhang gab es durchaus in Form der (im Laufe der Zeit zwischen den Teilfürstentümern wechselnden) Großfürstenwürde und der mit ihr verbundenen zumindest theoretischen Hegemonie.
 
Die Sache ist ja die, dass der Anstoß, der von @Jaga kam ja nun explizit auf eine vermutete, wenn man so möchte "Elitenkultur" abzielt und ja mehr oder minder auf die Wahrnehmung russischer Machthaber selbst abstellt.

Jetzt kann man natürlich nur Vermutungen darüber anstellen, wie die russische Geschichte hinter den Türen des Kreml von den Machthabern tatsächlich rezipiert wird und rezipiert wurde.

Die Vorstellung des ewig von äußeren Feinden belagerten Russlands, ist ja etwas, dass vor allem in der Sowjetunion hochgekommen ist und von Stalin und Nachfolgern nach außen hin auch als Propagandanarrativ recht offensiv vertreten wurde, weil dass natürlich nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege und der auswärtigen Interventionen in den russischen Bürgerkrieg gut ins Bild passte.

Stellt sich allerdings die frage, glaubten die anderen Herrscher das selbst und passte eine solche Vorstellung überhaupt auch in das Herrschaftsethos der Machthaber in einer Zeit, in der Kriege durchaus noch als legitimes Mittel der Politik betrachtet wurde?

Warum hätten die Nachfolger Peters des Großen, die Erfahrung des "Großen nordischen Krieges" etwa aus einer (eingebildeten) Opferrolle heraus betrachten sollen?
Peter I. hatte diesen Krieg mit Eroberungsabsichten angefangen und er hatte ihn auch gewonnen. Welchen Anlass hätten Peter und Nachfolger gehabt, dass nicht einfach als kluge, aktive, erfolgreiche und überlegene Politik mit nen paar Kollateralschäden, zu verkaufen und sich stattdessen zum Opfer der Angelegenheit zu imaginieren?

Bei Napoléon 1812/1813 sah das natürlich etwas anders aus, weil die Einnahme und der Brand von Moskau ein Ausnahmeerlebnis sind, dass man schwerlich in einen kollateralschaden überlegener politischer Klugheit, Strategie und Fähigkeiten umdeuten konnte, ähnlich diverse Ereignisse innerhalb der beiden Weltkriege.

Aber was das 19. Jahrhundert angeht, also eine Zeit, in der Imperiale Größe und Expansion nichts anrüchiges waren, sondern mehr so die Messlatte für politischen Erfolg, warum sich zum Angegriffenen und somit zum Objekt, nicht Subjekt des großen politischen Spiels stilisieren?
Das passt für mich nicht ins Bild.


Und das passt vielleicht für die Kreml-Herrscher in der Sowjetzeit ins Bild, insofern die Sowjetunion nach dem 2. Weltkrieg aufhörte eine expanisve Macht zu sein und sich mit den antikolonialen Nationalbewegungen verbündete.

Aber um den Bogen dann auch ins 21. Jahrhundert zurück zu schlagen, ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand wie Putin, der ganz deutlich darauf zielt an die imperiale Tradtion Russlands anzuschließen mit dem "Opfermythos" des ewig angegriffenen Russlands im Kopf durch die Gegend läuft.
Das lässt er vielleicht propagandistisch verkünden, um sein Handeln zu rechtfertigen, aber daran glaubt der nie und nimmer.
 
Ich würde sagen, dass Russland stets ein Reich war, das sich vor der inneren Implosion mehr zu fürchten hatte als vor der äußeren Explosion. Niederlagen in der Peripherie waren selten deshalb gefährlich, weil Rivalen an den Grenzen ernsthaft bedrohlich werden konnten, sondern deshalb, weil Großreiche dieser Art wie Kartenhäuser zusammenbrechen können, wenn sie innere Schwäche zeigen. Der Untergang des Ostblocks ist ein Beispiel dafür. Die Rohstofflastigkeit Russlands und seine äußere Macht gaben nie den Anlass dazu ernsthaft produktiv zu werden. Im Gegenteil: Großreiche neigen aufgrund ihrer Militärkomplexe an den eigenen Kosten zu Grunde zu gehen. Der Krimkrieg und der japanisch-russische Krieg waren keine lebensgefährlichen Niederlagen in dem Sinne das fremde Mächte das Riesenreich hätten überwältigen können, sie waren kritische Ereignisse, weil sie die Zentrale innenpolitisch schwächten. Das System der UDSSR hatte sich kaputt gerüstet und durch einen ineffizienten Wirtschaftsapparat ad Absurdum geführt. Putin hat das alte System nach dem Zusammenbruch der russischen Staatswirtschaft wiederbelebt und an die Bedingungen der Globalisierung angepasst. Vor allem darf nicht vergessen werden, dass Russland zwar exportiert, aber sich Importe nur bedingt leisten kann. Das heißt, dass eine Modernisierung des Landes außerhalb der Zentren praktisch unmöglich ist. Das bedeutet umgekehrt, dass Russland eben auf Rohstoffe angewiesen ist und das setzt territoriale Kontrolle voraus. Die kostet wieder Geld, das für die Modernisierung des Landes fehlt. Russland bleibt damit eine Macht an der kapitalistischen Peripherie. Die russische Regierung hat große Spielräume nach Innen, aber nicht nach Außen.

Der Denkfehler bei diesem immer wieder auftauchenden Modell ist, dass durch Eroberungen die inneren Probleme nur größer werden, weil es bedeutet dass immer mehr Gruppen, Teil eines Reiches werden, die damit mitunter wenig anfangen können, was die Zentrifugalkräfte erhöht.

Das ist kein Widerspruch, sondern zeigt die traditionellen inneren Widersprüche des russischen Systems. Russland expandiert, Russland fällt zusammen, Russland expandiert, Russland fällt zusammen. Eigentlich so etwas wie eine Grundkonstante. Die Paranoia vor dem Zusammenbruch russischer Staatsmänner ist deshalb eine logische Konsequenz.

Diese ideale Handelsmacht findest du nicht.

Doch die USA. Und China ahmt es bereits nach. Es ist klüger ökonomische Einflusszonen zu haben als Länder zu besetzen und kostspielig zu finanzieren. Russland kann das nicht, weil ihm die ökonomische Potenz fehlt. Auch im 19. Jahrhundert spielte dieser Faktor eine Rolle, nämlich im Bezug auf das Osmanische Reich.
 
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