Kleiner Versuch über Geschichtsrevisionismus

Die interessanten Beiträge zu diesem Thema haben mich darin bestärkt, die Augen in Sachen "Revisionismus" aufzuhalten. Bei einem anderen Thema - http://www.geschichtsforum.de/f66/verhielt-sich-die-schweiz-im-2-weltkrieg-wirklich-neutral-27902/ - bin ich wieder fündig geworden.

In der Schweiz gab/gibt es eine Auseinandersetzung zwischen Historikern, welche die Rolle des Landes zwischen 1939 und 1945 heftig kritisieren, und solchen, die zwar Fehler einräumen, das Verhalten aber im Übrigen verteidigen.

Ein Teil der Letzteren hat sich vereinsmäßig zusammengeschlossen und und für diesen Verein (AGG) hat ein amerikanischer Historiker namens Reginbogin ein Gutachten verfasst: Der Vergleich - Google Buchsuche. Interessant nun, dass der Autor das Etikett "Revisionisten/revisionistisch" für die Seite der Kritiker (vulgo "Netzbeschmutzer") verwendet!

Leider erläutert der Autor nicht, warum er den Revisionisten-Begriff in dieser Weise verwendet. Es kann sein, es sein individueller Sprachgebauch ist (oder der des Übersetzers) - vielleicht wird der Begriff auch im angloamerikanischen Raum insgesamt anders konnotiert.
 
"Geschichtsrevisionismus" hört sich eigentlich ganz harmlos an. Ist es aber nicht aus meiner sehr persönlichen Sicht. Es geht hier um den "Krieg um die Köpfe" und diesen Aspekt nehmen die "Revisionisten" ausgesprochen ernst!

Wie ernst mag man sich sehr anschaulich bei "amazon" ansehen.

Es erfolgt folgender Ablauf der Phasen:
1. Es wird ein Buch publiziert, das im positiv auf andere Revisionisten verweist, seriöse Wissenschaftler sinnentstellend oder falsch zitiert oder direkt verscuht diese "lächerlich zu machen ("schönes" Beispiel ist dafür Scheil: 40/41) Damit entsteht ein "selbstreferentielles" System, das sich zitiert und gegenseitig als Beweis anführt. Es entsteht quasi ein pseudowissenschaftliches System. Der simplen Forderung von Popper, nach intersubjektiver Nachprüfbarkeit, als Kriterium für Wissenschaft, wird auf eine plumpe Art Rechnung getragen.
2. Eine Reihe von Rezensienten aus dem rechten Lager, meistens die gleichen, schreiben ihre Standardrezensionen nach folgendem Muster:
- neue Erkenntnisse
- nicht politisch korrekt
- sollte in den Schulen gelehrt werden
- Knoop als Feindbild benannt
3. Die rechte Partei- oder Bewegungsbasis wird aktiviert und beurteilt die "positive" Rezension, positiv. Mit der Folge, dass die rechten Rezensienten automatisch im Ranking bei amazon relativ weit oben als "Top-Rezensienten" in Erscheinung treten. Das erhöht für Außenstehende noch den Anschein der Objektivität und Kompetenz.
4. Buch erhält eine positive Bewertung und "Unbedarfte" greifen zu und halten es für ein seriöses Buch.
5. kritische Rezensionen werden durch heftige und beleidigende Kommentare der rechten Basis angegriffen und lächerlich gemacht

Als problematisch würde ich bei diesem System bewerten, dass bei amazon problemlos Bücher angeboten werden können, in denen der Holocaust gerechtfertigt wird, aber es ist nicht erwünscht, im Rahmen von Rezensionen, den rechtsradikalen Hintergrund dieser Bücher auch so zu benennen. Ich will nicht die Bücher verbieten, um Gottes willen nein. Aber es sollte für jeden ersichtlich werden, um was für ein Buch es sich handelt.

Dabei kann man über das Googeln der Namen von Rezensienten relativ leicht die tiefen Verbindungen in das rechtsradikale Lager nachweisen. Ein gutes Beispiel ist "Thomas Dunskus". Aktiver und überaus "geistreicher" Rezensient revisionistischer Bücher. Beim Googeln wird man relativ schnell fündig und man sieht, dass er in den gleichen Plattformen publiziert wie beispielsweise "Horst Mahler". "Quod erat demonstrandum", wie Asterix sagen würde.

Interessant ist, dass sich offensichtlich die Revisionisten wesentlich intensiver mit der "Deutschen Kultur" bzw. Geschichte auseinander setzen. Für viele Andere, auch viele Jüngere, scheint dieser Aspekt schlichtweg "Banane" zu sein.

Das seriöse Nachdenken über Deutsche Geschichte und die Kriege wird nicht selten als "Landser-Kamellen" wahrgenommen, die einen sofortigen Brechreiz bei den Zuhörern erzeugen.

Und damit kommen wir zur Kernthese. Die Revisionisten wollen die Interpretationsoberhoheit über die Deutsche Geschichte erobern. Auf diesem Weg wollen Sie den Nationalsozialismus wieder gesellschaftsfähig machen.

Und diesem kann man nur durch ein couragiertes und kenntnisreiches Argumentieren entgegentreten. Nicht weil man die Revisionisten bekehren kann, sondern die Zweifler und die Unentschlossenen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Damit entsteht ein "selbstreferentielles" System, das sich zitiert und gegenseitig als Beweis anführt. Es entsteht quasi ein pseudowissenschaftliches System. Der simplen Forderung von Popper, nach intersubjektiver Nachprüfbarkeit, als Kriterium für Wissenschaft, wird auf eine plumpe Art Rechnung getragen.

Gut beobachtet! Es ist zwar nichts neues, daß sich Literatur im "passenden Spektrum" gegenseitig lobhudelt (nicht nur rechts, auch links), wie das aber nun im (verhältnismäßig neuen) Medium Internet durch Bewertungen im Handel immer neue Blüten treibt, ist eine neue Qualitätsstufe. Hier werden vor allem Privatpersonen ohne tieferes Hintergrundwissen manchmal in die Irre geführt.

Eine Möglichkeit Bücher zu finden, die ausserhalb dieses "Gefälligkeitskreislaufes" stehen, kann auch sein auf die Quellen- und Literaturangaben zu sehen. Wenn fast ausschließlich Sekundär- und kaum Primärquellen gelistet sind, ist das für mich immer schon ein schlechtes Zeichen. Das könnte darauf deuten, daß hier einer vom anderen abschreibt, nur die Beleuchtung geändert aber keine neuen Erkenntnisse gebracht hat. Man kann eine neue Meinung, bzw. Bewertung erwarten, aber mehr auch nicht.
 
Die interessanten Beiträge zu diesem Thema haben mich darin bestärkt, die Augen in Sachen "Revisionismus" aufzuhalten. Bei einem anderen Thema - http://www.geschichtsforum.de/f66/verhielt-sich-die-schweiz-im-2-weltkrieg-wirklich-neutral-27902/ - bin ich wieder fündig geworden.

@jschmidt,

hallo, interessanter Thread von Dir, gut rübergekommen und nachvollziebar!
Hat mir sehr gefallen und, leider zurzeit nicht möglich, aber später hole ich
den grünen * nach - okay und versprochen!

Mit best interessierten Grüßen

Simplex Simplicissimus
 
DER SPIEGEL hat in seiner letzten Ausgabe mit "Warum auf den ersten Weltkrieg ein zweiter folgen musste" aufgemacht und damit prompt eine heftige Diskussion ausgelöst (Heute in den Feuilletons vom 06.07.2009). [1]

Ich habe den Originalartikel nicht gelesen - vielleicht sonst jemand? Die Brisanz ergibt sich aus folgender Überlegung: Wenn der zweite Weltkrieg zwangsläufig kommen musste, dann werden diejenigen, die ihn nach bisheriger Auffassung entfesselt/verursacht haben, logischerweise entlastet. [2] Ihnen müssten sozusagen "mildernde Umstände" zuerkannt werden...

Frage: Hat das Eurer Meinung nach mit Revisionismus zu tun?


[1] Eigenartig, dass noch niemand im GF darauf eingestiegen ist.
[2] Wenn mich nicht alles täuscht, sind solche Argumentationen hier im GF auch schon aufgetaucht.
 
[2] Wenn mich nicht alles täuscht, sind solche Argumentationen hier im GF auch schon aufgetaucht.

Soweit ich das übersehen kann, ist es eine gängige Interpretation im rechten Spektrum seit Jahren, diese Kausalkette von Versailles zum 1.9.1939. Man sehe sich dazu Autoren wie Scheil an. Ferguson (Krieg der Welt: Was ging schief im 20. Jahrhundert?) ist auch darauf angesprungen.

Was natürlich eine Diskussion darüber nicht überflüssig macht und Diskussionen hier nicht eine Ecke zuweisen soll.

Wie heißt es doch so oder ähnlich: die Halbwahrheit ist ein größerer Feind der Wahrheit als die Lüge.
 
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...sondern immer von den Personen an den Schaltstellen beeinflust werden kann.

Nur als Anschauungsbeispiel für Aktivismus, eines unter Tausenden in Dauerberieselung, Wahrnehmung und Realitäten:

Trampler, Kurt: Wie Frankreich und Rußland zum Weltkrieg kamen. Vortrag von Dr. Friedrich Stieve, gehalten am 26. Februar 1926 in der Münchener Universität. Im Auftrage des Akademischen Arbeitsausschusses gegen Friedensdiktat und Schuldlüge

Hinweis: 1926 waren die Untergangs-Prognosen wegen der territorialen und ökonomischen Verluste nicht eingetreten, bei den Reparationen war im Prinzip nicht viel passiert, politische Akzeptanz des deutschen Nationalstaates in Ost und West gesichert, also im Vergleich zur Stückelung von Ö-U war man recht gut wegbekommen.
 
Die Brisanz ergibt sich aus folgender Überlegung: Wenn der zweite Weltkrieg zwangsläufig kommen musste, dann werden diejenigen, die ihn nach bisheriger Auffassung entfesselt/verursacht haben, logischerweise entlastet. [2] Ihnen müssten sozusagen "mildernde Umstände" zuerkannt werden...

Frage: Hat das Eurer Meinung nach mit Revisionismus zu tun?
Die Zwangsläufigkeits-These ist Pseudo-Revisionismus pur (Ist "müssen" überhaupt eine historische Kategorie?).
Mit ihr wird die Zeit zwischen 1919 und 1939 für bedeutungslos erklärt und die Verwantwortung für den Ausbruch des 2. WK bei den Siegermächten des 1. WK abgeladen: Millionen von Deutschen, die bei den RT-Wahlen für eine andere Partei als die NSDAP stimmten, stimmten gegen das "Muss" der Geschichte; die demokratischen Politiker der Weimarer Republik, die einen anderen Weg einschlagen wolten als den eines zweiten Krieges, versuchten das Unmögliche; Adolf Hitler selbst wiederum beging keine freien Taten, sondern war ein getriebenes Opfer der Politik von Woorow Wilson, David Llyod George, Georges Clemenceau...

Von der Zwangsläufigkeitsthese abzugrenzen ist die These, dass der Friedensvertrag von Versailles eine Belastung für die Weimarer Republik und eine Mitursache für das Scheitern der ersten deutschen Republik darstellte. Hier ist aber noch Raum für andere (Mit-)Ursachen und für eine Gewichtung der einzelnen Ursachen. Doch wer würde schon einen Spiegel mit der Schlagzeile "Warum der Friedensvertrag von Versailles eine von mehreren Mitursachen für das Scheitern der Weimarer Republik war und selbst das Scheitern von Weimar noch nicht zum 2. WK führen musste" kaufen?
Der SPIEGL kann ja manchmal so ein Käseblatt sein.
 
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Die Zwangsläufigkeits-These ist Pseudo-Revisionismus pur.
Sehr kreativ: "Pseudo-Revisionismus" - was ist der Unterschied zum puren Revisionismus?:winke:
Der SPIEGL kann ja manchmal so ein Käseblatt sein.
Ich sehe, Du bevorzugst eine "harmlose" Erklärung. Gern würde ich mich dem anschließen, aber eine Miszelle von Otto Köhler im neuen August-Heft der "Blätter für deutsche und internationale Politik" (S. 117) belehrt mich eines Schlechteren.

Der Spiegel-Artikel vom 06.07.2009 befasst sich insbesondere mit Clemenceau, einem "klein gewachsenen" Mann mit "pergamentfarbener Haut", dem folgender Satz in den Mund gelegt wird: "Der Fehler der Deutschen ist es, dass es 20 Millionen zu viel von ihnen gibt." Die gleiche Zuschreibung hatte Augstein schon in der Spiegel-Ausgabe vom 02.01.1995 vorgenommen [1], was von Ultrarechts begeistert bis heute zitiert wird. (Links dazu schenke ich mir.)

Nun ist seit Jahr und Tag bekannt, dass der Satz nicht von Clemenceau stammt, sondern nach Köhler von "Generalleutnant Eduard Liebert, den Anführer des Reichsverbands gegen die Sozialdemokratie. Er hatte so etwas ähnliches 1910 in einem Vortrag vor dem Alldeutschen Verband gesagt, um dessen expansive Kriegspolitik zu begründen."

"Warum auf den Ersten Weltkrieg ein zweiter folgen musste" (Spiegel-Titel)? Um Clemenceau daran zu hindern, 20 Millionen überzählige Deutsche zu eliminieren?

Käseblatt? Und ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode.

[1] Artikel - Artikel - SPIEGEL WISSEN - Lexikon, Wikipedia und SPIEGEL-Archiv
 
Zu der Thematik würde ich spontan sagen, daß eine geschichtliche Problematik nicht zwangsläufig als einen einzelnen Vorgang zu betrachten ist.

So kann man am Beispiel der Thematik des Spiegelartikels festhalten, daß die Ursachen und Gründe für den Kriegsbeginn 1939 sicherlich auf das Handeln Hitlers im innenpolitischen- wie auch außenpolitischen Bereich der treibende Keil waren, aber ein Mensch allein, kann kaum die Weltgeschichte beeinflussen.

Aber kann man diesen Geschichtsabschnitt gesondert sehen, oder sollte man doch alles in einem Gesamtzusammenhang sehen?

Dieses Rad, nach "Warum auf den Ersten Weltkrieg ein zweiter folgen musste", kann man doch mit im Zusammenhang stehenden Ereignissen weiter zurückdrehen, ohne dabei ein Ende oder besser gesagt einen Anfang, zu finden. Das ist doch dass, was Geschichte ausmacht.
Dabei werden natürlich Begebenheiten und Stimmungen von jedem Menschen anders interpretiert und nur eine große Übereinstimmung von diesen interpretierten Begebenheiten und Stimmungen ergeben die Richtlinie für den Ablauf der Geschichte.

Aber einen Streckenabschnitt herauszuschneiden, ohne zu schauen, woher die Strasse kommt, wäre m.E. falsch. Dabei ist natürlich auch zu untersuchen, welche Wege sich von der Geschichtsstrasse trennen und in Sackgassen münden, bzw. versuchen eine parallele Strasse zu erbauen, die mit falschen Informationen begründet werden.

Um nun aber die große Übereinstimmung von den Sichtweisen der Ereignisse der Geschichte objektiv zu ermitteln, sind viele Informationen darüber wichtig, egal ob diese nach späterer Einsicht falsch oder richtig waren, denn nur so, kann die Größe der Übereinstimmung sicherer werde und uns allen die objektivste Geschichte erzählen.
 
Goerdeler schreibt im juli 1940 in der sg. Juli-Denkschrift sinngemäß:

"Wenn England und Frankreich 1939 neutral geblieben wären, hätte sie Hitler mit Sicherheit 1940/41 angegriffen, die immens steigende Staatsverschuldung hätte Hitler nur mit Krieg auffangen können, hätte ihn zu einer Umkehr seiner Politik, was nicht zu erwarten war, oder zum Krieg gezwungen"
 
Ist der Spiegelartikel wirklich revisionistisch, d. h. manipulativ und geschichtsverfälschend? Den reißerischen Titel (daß der II. Weltkrieg folgen "mußte") finde auch ich befremdlich, zumal wenn man damit, wie schon geschrieben wurde, Hitler und Konsorten mildernde Umstände einräumen wollte.

Merkwürdigerweise findet sich allerdings im Artikel selbst keine Beweisführung in diese Richtung: Als Quintessenz lese ich heraus, daß "alle wichtigen Beteiligten - Briten, Amerikaner, Franzosen und Deutsche - am Ende die große Chance [vergaben], nach dem Sterben auf den Schlachtfeldern einen dauerhaften Frieden zu stiften", daß der Versailler Vertrag "zu hart [war], um die Deutschen und ihre Nachbarn dauerhaft zu versöhnen" und "zu weich, um die Rückkehr Deutschlands als Großmacht und einen Revanchekrieg für immer auszuschließen". Auch der Schluß ("Frankreich feierte den Frieden. Deutschland hingegen lauerte auf eine Revanche") erscheint mir plausibel und nicht verfälschend.

Darüber kann man sicher streiten, aber ist das revisionistisch? Doch vielleicht habe ich nicht genau genug gelesen?

Eine persönliche Bemerkung am Rande: Der Spiegelartikel war für mich eine willkommene Initialzündung, mich wieder mehr für Geschichte zu interessieren und hat letztlich dazu geführt, daß ich - erst vor wenigen Tagen - diesem Forum beigetreten bin.
 
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Ist der Spiegelartikel wirklich revisionistisch, d. h. manipulativ und geschichtsverfälschend? Den reißerischen Titel (daß der II. Weltkrieg folgen "mußte") finde auch ich befremdlich, zumal wenn man damit, wie schon geschrieben wurde, Hitler und Konsorten mildernde Umstände einräumen wollte.
Vermutlich muss man doch hier eher auf die Wahrnehmung, nämlich auf das, was sich hier "aufdrängt", abstellen. Das ist die behauptete Kausalkette.


Merkwürdigerweise findet sich allerdings im Artikel selbst keine Beweisführung in diese Richtung:
Ein Beweisführung ist auch schlecht möglich.
Warum sollte eine die Behauptung einer Kausalkette für die Kritik nicht ausreichen?

Auch der Schluß ("Frankreich feierte den Frieden. Deutschland hingegen lauerte auf eine Revanche") erscheint mir plausibel und nicht verfälschend.
Was mehr mit dem Kriegsausgang und weniger mit der Kausalkette zu tun hat? Der Zusammenhang dieser Schilderung ist mir auch nicht klar.

Eigentlich wird es hier kritisch, denn die gewagte Spekulation beginnt darin, die Dinge auf den Kopf zu stellen und im Kern anzudeuten: Ein milder Frieden (bzgl. territorialer Verluste und Reparationen) hätte Hitler sicher verhindert und die Unterstützung der Republik durch die breite Masse der Bevölkerung gesichert. Wieso eigentlich, es gab Probleme genug nach 1929 und den Gegensatz der Extremen? Ebenso spekulativ ist, dass sich weitere Schlachtfelder gefunden hätten; Tatsache ist, dass sich auch andere gefunden haben. Der Nationalsozialismus läßt sich nicht auf "Anti-Versailles" reduzieren.
 
Vermutlich muss man doch hier eher auf die Wahrnehmung, nämlich auf das, was sich hier "aufdrängt", abstellen. Das ist die behauptete Kausalkette.
Bin mir nicht sicher, ob ich Dich richtig verstehe: Meinst Du, daß der Spiegelartikel hier mit Andeutungen von Ursache und Wirkungen darauf zielt, daß der II. Weltkrieg zu vermeiden gewesen wäre, wenn Clemenceau maßvollere Bedingungen gestellt hätte, die in Deutschland akzeptiert worden wären? Falls ja: Wäre das "revisionistisch"?

Was mir bei der Diskussion nicht ganz klar ist, und die Bewertung des Versailler Vertrags ist ja nur ein Beispiel: Wo ist z. B. die Grenze zwischen einer wissenschaftlich durchaus legitimen Spekulation über mögliche Folgen alternativer Entscheidungen (was wäre, wenn?) und einer revisionistischen, Fakten manipulativ einsetzenden Konstruktion? Oder ist jede Spekulation ohne hinreichende Untermauerung durch Fakten schon "revisionistisch"?
Eigentlich wird es hier kritisch, denn die gewagte Spekulation beginnt darin, die Dinge auf den Kopf zu stellen und im Kern anzudeuten: Ein milder Frieden (bzgl. territorialer Verluste und Reparationen) hätte Hitler sicher verhindert und die Unterstützung der Republik durch die breite Masse der Bevölkerung gesichert.
Behauptet das der Spiegelartikel, außer in seinem reißerischen Titel? Ich meine, nein.
Der Nationalsozialismus läßt sich nicht auf "Anti-Versailles" reduzieren.
Natürlich nicht; versucht dies der Spiegelartikel, unternimmt es etwas, das weiter oben so definiert wurde:
Beim "Gechichtsrevisionismus" geht es darum, ein bestimmtes Bild der Geschichte zu malen und zu diesem Zweck erwiesene historische Tatsachen (wie z.B. den Holocaust) zu leugnen, oder auf "neue Erkenntnisse" zurück zu greifen, die auf Fälschung und Manipulation beruhen.
?

Also zwei Fragen (Grenzen des Revisionismus, Bewertung des Spiegelartikels), wobei ich die erste noch interessanter finde.
 
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Weil dieses "mein" Thema ist, verlinke ich ab und an auf Beiträge, die an anderer Stelle stehen, so aktuell auch Schloss-Wiederaufbau - ein deutscher Trendsport? - Geschichtsforum.de - Forum für Geschichte. Dort wurde ein Doppelstein ins Wasser(glas) geworfen:

  • Unsere Erinnerungskultur "kommt von oben"... die populäre Hauptströmung geht in Richtung Rekonstruktion... (Mummius Picius)
  • ...Rekonstruktionen als Parodie der Vergangenheit. ... Und immer der latente Vorwurf der Geschichtsfälschung... (Pelzer)
Die bau-ästhetische Diskussion danach lasse ich - mitsamt der Asbestproblematik - weg und konzentriere mich darauf, dass der "Fälscher"-Topos alsbald von einem noch virulenteren abgelöst wird. Danach steckt in der Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Rekonstruktion von historischen Gebäuden (oder Artefakten schlechtin?)
... der Stachel des Revisionismus und des "den 2. Weltkrieg wegrekonstruieren" im Fleisch, und er geht nicht raus.
Damit ist der Topos genannt, der unter Historikern stets eine gewisse Erregung verursacht (und im GF, siehe #1 dieses Threads, bisweilen als Begründung für das Sperren von Mitgliedern dient).
Der Revisionismus-Vorwurf ist in Deutschland, erhoben im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg, nach dem Vorwurf der Holocaust-Leugnung, der schwerwiegendste überhaupt.

Nun ist offensichtlich, dass hier niemand gegen einen Anwesenden einen ebensolchen Vorwurf erhoben hat. Revisionismus ist nämlich auch als kleinere Münze im Handel, nämlich insofern er "nur"

  • ... die Wiederherstellung eines durch den Gang der Geschichte überholten Stadtbildes (El Quijote)
meint. Der Begriff hat noch weitere Konnotationen. Ein historisches Beispiel und ein Alt-neu-Vergleich (Cephalotus):
[1] ..."Revisionismusdebatte" der SPD auf dem Dresdener Parteitag im Jahr 1903...
[2] ... man wirft dem "Revisionisten" ja i. d. R. vor neuere Erkenntnisse und Errungenschaften zu Gunsten älterer, überwundener Ansichten aufgeben zu wollen.[/quote]
Dagegen wird argumentiert, der Revisionismusbegriff sei ein für alle Mal festgelegt, "belegt", und zwar so, wie das NRW-Innenministerium ihn definiert:
[Zitat]"Zum gesetzlichen Auftrag des Verfassungsschutzes gehört auch die Befassung mit dem Revisionismus, da dieser ein verbindendes Ideologieelement zahlreicher rechtsextremistischer Strömungen darstellt.
Ziel des Revisionismus ist es, die Geschichtsschreibung über die Zeit des Nationalsozialismus zu widerlegen und dadurch langfristig die nationalsozialistische Ideologie zu rehabilitieren. ... Den Großteil revisionistischer Agitation bilden leugnende, relativierende oder verharmlosende Darstellungen in einem pseudowissenschaftlichen Gewand."

Revisionismus im Sinne jener Behörde muss also buchstabiert werden als "Geschichts(schreibungs)revisionismus" in Bezug auf die Jahre 1933-1945.

Aber die Diskussion entwickelte sich ja nicht daran, sondern am "Revisionismus mit der Abrißbirne", den z. B. Degenhardt als "Verwischung von Spuren" markiert hat (schönes Zitat von El Quijote).

Soviel zur Ausgangslage. [Man verzeihe die Verkürzungen.]

Ich skizziere nun grob die Abfolge der historischen Ereignisse an unserem Beispiel, so wie es sich mir darstellt:

  1. In Berlin gibt es eine Fläche, die mit dem Stadtschloss bebaut wird. Es symbolisiert das absolute, meinetwegen auch aufgeklärte Königtum; es gehört so oder so zu dem, was man "Herrschaftsarchitektur" nennt.
  2. Machtwechsel. Das Stadtschloss wird im totalen Krieg, den die Machthaber begonnen haben, beschädigt. Was symbolisiert das?
  3. Machtwechsel. Das beschädigte Stadtschloss wird nicht restauriert, sondern als Symbol bzw. Teil der Herrschaftsarchitektur abgerissen.
  4. Weiter: Die nunmehr wieder leere Fläche wird mit einem "Palast" bebaut, der der "Republik" gewidmet ist. Die Republik ist realiter eine (sozialistische) Parteidiktatur.
  5. Machtwechsel. Der renovierungsbedürftige Palast - Symbol der vorherigen Machthaber - wird abgerissen.
  6. Weiter: An die Stelle des Palastes tritt die Rekonstruktion des Stadtschlosses. Was symbolisiert diese Entscheidung?
Preisfrage: Wann kann man von Revisionismus sprechen und warum?
 
Auch für den Fall dass das alles schon gesagt worden ist:

Vielleicht hilft es weiter, die unter "Revisionismen" angesprochenen Vorgänge als Versuche zu betrachten, das "kulturelle Gedächtnis" (i. S. der Assmanns) zu formen.

Revisionismus wäre dann das bewusste "Bedeutsam-Machen" vergangener Ereignisse für die gegenwärtige Lebenswirklichkeit der Menschen in unserer Gesellschaft. Solche Bestrebungen hat es nun aber immer gegeben, sind sie doch m. E. ein Teil des menschlichen Bestrebens, dem eigenen Dasein, der eigenen Herkunft Sinn zu verleihen.

Ein Vorteil dieser Betrachtungsweise bestünde nun darin, singuläre Revisionsbestrebungen in einem weiteren Kontext zu verorten. Im Falle unseres Beispiels könnte man dann den Wiederaufbau des Schlosses zum einen mit der Erinnerungsarchitektur Berlins insgesamt in Verbindung bringen (hier wäre das Holocaustmahnmal als herausstechendes Beispiel zu nennen) und müsste zum anderen zugestehen, dass Punkt 6 nicht einfach nur die Wiederherstellung des status quo von Punkt 1 bedeutet, sondern einen - umkämpften - Brennpunkt der Geschichte dieses Ortes in allen seinen Phasen von 1-6 darstellt - so wie es auch Berlin insgesamt oftmals war und so wie es hier gerade geschieht.

Revisionismus in Reinform, um auf die Frage zurückzukommen, wäre es hingegen, die Bedeutung einzelner Elemente der Geschichte in den Debatten, die sich um das kulturelle Gedächtnis entspannen, schlichtweg zu leugnen - auch ohne dass gesagt wäre, dass alle Aspekte zu allen Zeiten auch thematisiert würden (dies ist ja die Crux der Geschichte, deren Gegenwartsbedeutung immer nur partiell öffentliches Interesse zu bestimmen vermag).

Ohje... ziemlich verquast, mein Beitrag, wie ich beim zweiten Lesen feststelle... vielleicht mag er aber doch als Denkanstoß herhalten können, weshalb ich ihn mal trotz Bedenken einstelle.
 
Der italienische Faschismus war in vielen Aspekten anders als das deutsche NS-System. Auch die Form der Verarbeitung dieser Vergangenheit ist anders und seine Form des Revisionismus ist auch anderes. Italinischer? Für meine Begriffe deutlich problematischer, auch für eine angemessene Erinnerungskultur.

In diesem Sinne ergibt sich für Mussolini eine ähnliche Verklärung, Stichwort Hitler und Autobahnbau, die der Anknüpfungspunkt für eine - in Italien wohl teilweise erfolgreiche - Rehabilitierung bildet. Und schrieben: "Many Italians do glorify Mussolini: under his leadership post offices were opened in every Italian city, he had the swamps of the Maremma in southeastern Tuscany dried out and paved over with roads. And of course, as is often mentioned, the trains ran on time when Mussolini was in power."

Im Ergebnis kommt der Autor des Beitrags zu dem Ergebnis: "It's this trivialization that has given extreme right-wing fringe groups the courage to show themselves openly".

Souvenirs Bearing Fascist Dictator Mussolini Popular in Italy - SPIEGEL ONLINE

Dabei geht es mir gar nicht um die aktuellen Bezüge des Beitrags, sondern um den gesellschaftlichen Mechanismus, der zur Trivialisierung führt.

In diesem Sinne führt eine von Fakten und kritischer Sichtweise losgelöste Diskussion der Periode zwangsläufig zu einer Verharmlosung der "faschistischen Epoche". Und dieses gilt natürlich in ähnlicher Weise auch für die Trivialisierungen von anderen autokratischen Regimen wie den "Stalinismus".

Und an diesem Punkt wird in der Tat eine kritische Historiographie politisch, ob sie es will oder nicht, da sie durch den Versuch der objektiven Rekonstruktion der damaligen Ereignisse, zwangläufig die Kreise von links- und rechts-extremen Ideologen stören muss.

Vor dem Hintergrund dieses italienischen Musters der Trivialisierung ist es verständlich, warum manche in Deutschland die Deutungshoheit über den Faschismus ebenfalls aus den Händen der etablierten Fach-Historiker "befreien" möchten und stattdessen ihre eigene Form der Geschichtsinterpretation vornehmen wollen. Dieser Akt der "Befreiung" ist die zwingend notwendige Voraussetzung für die eigentlich intendierte und dann gesellschaftlich sanktionierte Legendenbildung um Hr. Hitler.

Deswegen kann ich für mich nur festhalten, dass jedem zu widerprechen ist, der seriöse und fundierte Deskription, Analyse und Fakten durch Meinung und Halbwissen ersetzen möchte.
 
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