Die andere Melisende war die Enkelin von Balduin II., Sohn seiner Tochter Hodierne und ihres Ehemanns Raimund II., des Grafen von Tripolis (1137-1152). Sie war es, die die Gattin von Manuel I. hätte werden können.
Stimmt, Jaufrés Angebetete war die Enkelin, nicht die Tochter von Balduin II.
Ist dem wirklich so? War die "Angebetete" nicht oft einfach nur ein Aufhänger für die Minnelyrik, weil der Dichter eben eine hochgestellte Frau als Bezugspunkt für seine Lieder brauchte? Gerade wenn er sie persönlich überhaupt nicht kannte, kann der Trieb doch nicht so groß gewesen sein.
Dass das Phänomen der Minne mehrere Aspekte hatte, darunter auch den von dir angedeuteten formalistischen, ist sicher richtig. Die Frage bleibt, welcher Aspekt für das Phänomen wesentlich ist. Beispiel Rockmusik: Auslöser und Wesen dieser Gattung ist der Protest gegen sexualfeindliche Spießbürgerlichkeit, wie er in den 50ern vor allem durch Elvis Presley zum Ausdruck kam und im folgenden Jahrzehnt durch gegenkulturell orientierte Rockbands noch eine Intensivierung erfuhr. Dass diese Gattung nach und nach kommerzialisiert und formalisiert wurde, liegt in der Natur des Musikbusiness, das zeigt sich in anderen Gattungen wie Hiphop und Techno noch deutlicher. Bekanntlich gilt für ´authentische´ Hiphopper ein kommerziell orientierter Kollege als ´Poser´, der die Sache des Hiphop ´verrät´. Das entspricht ungefähr dem Unterschied zwischen authentischer Minne (mit aufrichtig empfundener Sehnsucht) und der Art von Minne, auf die du anspielst.
Im Falle der Minne sahen die Anfangsbedingungen so aus, dass die späteren Ritter an Fürstenhöfen aufwuchsen und von ihrem 7. bis zu ihrem 14. Lebensjahr der Obhut und Erziehung durch die Burgherrin unterworfen waren. Ihr ganzes Dasein stand also in einer Phase unter dem Zeichen einer mächtigen Frau, in der im Jüngling die ´Triebe erwachen´. Es ist klar, dass in der Phantasiewelt der Heranwachsenden die Burgherrin die Funktion der begehrten Idealfrau annimmt. Dieses im Unbewussten verankerte Idealbild wird später, wenn aus den Jünglingen gestandene Ritter geworden sind, auf ähnliche Frauengestalten projiziert und das Begehren auf diese ausgerichtet. Zum Idealbild gehört aber die Unerreichbarkeit des Objekts. Wäre es erreichbar, verlöre es die Idealität, um deren halber das Objekt doch begehrt wird. Diese innere Widerspruch macht das Wesen der Minne aus. Zu diesem Widerspruch gehört notwendig der ´Triebstau´, also die Unmöglichkeit, am begehrten Objekt sexuelle Befriedigung zu finden.
Dass die Ritter daneben auch reale sexuelle Erfahrungen mit niedriger gestellten Frauen hatten, mindert die Macht jenes psychologischen Komplexes nicht entscheidend. Das Begehren nach dem Ideal, also der unerreichbaren Geliebten, bleibt bestehen und wird durch reale Sexualität oft eher noch bestärkt. Diese Dissoziation ´der Frau´ in das Profane und das ´Sakrale´ (also quasi-sakral Idealisierte) ist ohnehin typisch für die Jahrhunderte der Minne und im wesentlichen ein Produkt der christlichen Sexualmoral, die das Weibliche zum einen abwertet (als sündig) und zum anderen idealisierend verherrlicht (der hochbeliebte Marienkult jener Zeit). Dieser Drang zur Idealisierung spiegelt sich auch in der Minne wieder.
Hinzu kommen soziale Spannungen zwischen dem Ritter- und dem Fürstentum aufgrund der materiellen Abhängigkeit vieler Ritter von ihren fürstlichen Herren. Das dabei unweigerlich entstehende rebellische Aggressionspotential musste psychologisch verarbeitet, also in andere, sublimere Bahnen gelenkt werden, die zum einen halfen, einen offenen Konflikt zu vermeiden, und zum andern den Ritter mit seiner Erniedrigungssituation versöhnte. Diese Versöhnung konnte, da die Situation leidhaft war, nur durch eine masochistische Strategie realisiert werden, also als Versagungsbeziehung zur idealisierten, aber unerreichbaren Geliebten. Die aggressiven Regungen gegen den Fürsten (konkret und allgemein) konnten umso besser verdrängt werden, als der Ritter aufgrund des Triebverzichts im Rahmen seiner Liebe zur Idealfrau die eigene soziale Machtlosigkeit zu akzeptieren, ja zu idealisieren lernte.
An die Stelle des gefährlichen "Ich darf den gehassten Fürsten nicht töten" tritt also das harmlose "Ich darf die geliebte Fürstin nicht besitzen". Intuititv müssen die Fürsten diese Zusammenhänge geahnt haben, anders ist ihre Akzeptanz der öffentlich geäußerten Sehnsucht fremder Männer nach ihren Frauen kaum erklärbar.