Objektivität im Geschichtsdenken

"Was hast du an dem Begriff Geschichtswissenschaft auszusetzen? Besteht hier vielleicht ein begriffliches Missverständnis?"

Ich meide den Begriff "Geschichtswissenschaft", weil Geschichte keine exakte Wissenschaft ist, sie bedient sich zwar wissenschaftlicher Methoden (z.B. Quellenkritik oder bei einigen historischen Hilfswissenschaften etc.), kann die Ergebnisse resp. die Erkenntnisse, jenseits der einfachen Faktendarstellung, m.E. aber nicht eindeutig und umunstößlich formulieren. Daher mein rein persönliches Unbehagen an dem Begriff "Geschichtswissenschaft".

"Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung sind zwei ganz unterschiedliche Dinge."

Vollkommen d'accord. Eventuell habe ich hier unscharf formuliert.


"Das Problem ist, dass wir immer nur einen Ausschnitt aus der Geschichte überliefert haben und diesen immer nur subjektiv wahrnehmen und rekonstruieren. Natürlich gibt es Fakten. Dass wir die Wahrheit nicht objektiv wahrnehmen können und jeder deshalb seine subjektive Wirklichkeit erschafft (sic!), ist kein Freibrief für eine willkürliche Interpretation von Sachverhalten, doch letztendlich bleibt es nur Rekonstruktion und die ist eben subjektiv, da jeder einzelne von uns den Sacherhalt nachrekonstruieren muss..."

Völlige Übereinstimmung. Nur:

"...dass es sehr wohl Objektivität gibt. Allerdings ist Objektivität ein Ideal, welches wir nur schwerlich erreichen können. Man kann das mit einem Funktionsgraphen, bei dem x=0 ist vergleichen. Obwohl dieser sich der x-Achse immer weiter nähert, wird er sie nie erreichen. Man spricht daher von Intersubjektivität, aber das ist eben auch etwas dekonstruktivistisch gedacht."

Mein sehr begrenztes mathematisches Wissen sagt mir, daß die Ableitung von f(x)=0 die x-Achse ist. Um in Deinem Beispiel zu bleiben, wäre diese Ableitung der idealtypische Zustand, in dem ich als Historiker die Objektivität einer historischen Tatsache erkenne. Dem widerspricht aber, daß ich nur subjektiv Erkenntnisse wahrnehme und selbige widerspiegele. Ergo, ist die erkenntnistheoretische Kategorie "Objektivität" in der Geschichte und deren Rezeption eigentlich nicht zu verwenden.

M.


P.S.: "...nur weil ein Historiker eine Abhandlung über einen historischen Sachverhalt schreibt, ist diese ja nicht gleich in allen Köpfen..." der Traum aller Autoren, Diktatoren ;)
 
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"Was hast du an dem Begriff Geschichtswissenschaft auszusetzen? Besteht hier vielleicht ein begriffliches Missverständnis?"

Ich meide den Begriff "Geschichtswissenschaft", weil Geschichte keine exakte Wissenschaft ist, sie bedient sich zwar wissenschaftlicher Methoden (z.B. Quellenkritik oder bei einigen historischen Hilfswissenschaften etc.), kann die Ergebnisse resp. die Erkenntnisse, jenseits der einfachen Faktendarstellung, m.E. aber nicht eindeutig und umunstößlich formulieren. Daher mein rein persönliches Unbehagen an dem Begriff "Geschichtswissenschaft".

Wie definierst du denn Wissenschaft? Wissenschaft ist doch genau das benutzen von wissenschaftlicher Methoden. :grübel: Ist denn jede Wissenschaft exakt?
 
Wie definierst du denn Wissenschaft? Wissenschaft ist doch genau das benutzen von wissenschaftlicher Methoden. :grübel: Ist denn jede Wissenschaft exakt?

@ursi

Wollte ich hier im Forum den Begriff "Wissenschaft" zu definieren versuchen, würde ich mich eindeutig überheben. Das kann ich nicht. Als exakte Wissenschaften sehe ich Physik, Chemie, Geologie etc., also die "klassischen" Naturwissenschaften. Wie schon geschrieben, es ist ein persönliches Unbehagen.

Beispiel: Der Nachweis der mathematischen Richtigkeit des Satzes des Pythagoras wird immer gelingen; der Nachweis, ob ein Gavrilo Principe am Ausbruch des I. WK verantwortlich war bringt m.E. unschärfere Ergebnisse und somit jenseits der Faktendarstellung, Interpretationsbedarf.

M. :winke:
 
"Was hast du an dem Begriff Geschichtswissenschaft auszusetzen? Besteht hier vielleicht ein begriffliches Missverständnis?"

Ich meide den Begriff "Geschichtswissenschaft", weil Geschichte keine exakte Wissenschaft ist, sie bedient sich zwar wissenschaftlicher Methoden (z.B. Quellenkritik oder bei einigen historischen Hilfswissenschaften etc.), kann die Ergebnisse resp. die Erkenntnisse, jenseits der einfachen Faktendarstellung, m.E. aber nicht eindeutig und umunstößlich formulieren. Daher mein rein persönliches Unbehagen an dem Begriff "Geschichtswissenschaft".
Wollte ich hier im Forum den Begriff "Wissenschaft" zu definieren versuchen, würde ich mich eindeutig überheben. Das kann ich nicht. Als exakte Wissenschaften sehe ich Physik, Chemie, Geologie etc., also die "klassischen" Naturwissenschaften. Wie schon geschrieben, es ist ein persönliches Unbehagen.

Beispiel: Der Nachweis der mathematischen Richtigkeit des Satzes des Pythagoras wird immer gelingen; der Nachweis, ob ein Gavrilo Principe am Ausbruch des I. WK verantwortlich war bringt m.E. unschärfere Ergebnisse und somit jenseits der Faktendarstellung, Interpretationsbedarf.
Deshalb nennt man die Geistes- und Kulturwissenschaften 'weiche', die Naturwissenschaften 'harte Wissenschaften'.


"Das Problem ist, dass wir immer nur einen Ausschnitt aus der Geschichte überliefert haben und diesen immer nur subjektiv wahrnehmen und rekonstruieren. Natürlich gibt es Fakten. Dass wir die Wahrheit nicht objektiv wahrnehmen können und jeder deshalb seine subjektive Wirklichkeit erschafft (sic!), ist kein Freibrief für eine willkürliche Interpretation von Sachverhalten, doch letztendlich bleibt es nur Rekonstruktion und die ist eben subjektiv, da jeder einzelne von uns den Sacherhalt nachrekonstruieren muss..."

Völlige Übereinstimmung. Nur:

"...dass es sehr wohl Objektivität gibt. Allerdings ist Objektivität ein Ideal, welches wir nur schwerlich erreichen können. Man kann das mit einem Funktionsgraphen, bei dem x=0 ist vergleichen. Obwohl dieser sich der x-Achse immer weiter nähert, wird er sie nie erreichen. Man spricht daher von Intersubjektivität, aber das ist eben auch etwas dekonstruktivistisch gedacht."

Mein sehr begrenztes mathematisches Wissen sagt mir, daß die Ableitung von f(x)=0 die x-Achse ist. Um in Deinem Beispiel zu bleiben, wäre diese Ableitung der idealtypische Zustand, in dem ich als Historiker die Objektivität einer historischen Tatsache erkenne. Dem widerspricht aber, daß ich nur subjektiv Erkenntnisse wahrnehme und selbige widerspiegele. Ergo, ist die erkenntnistheoretische Kategorie "Objektivität" in der Geschichte und deren Rezeption eigentlich nicht zu verwenden.

Nein, es gibt eine objektive Wahrheit und die historischen Fakten. Dieser objektiven Wahrheit können wir uns aber in Ermangelung der historischen Fakten, die uns nicht überliefert sind, z.B. der Geistes- und Gefühlszustände der involvierten Personen, nicht vollständig annähern.
 
Ist die Mathematik eine Naturwissenschaft? Sie ist doch reinste Geisteswissenschaft. Exakt ist sie allerdings, was aber kein Kunststück ist, sie beruht auf Axiomen. Das Faszinierende ist eigentlich, daß Mathematik mit Erfahrungswissen in gewisser, sogar weitgehender Weise korreliert ist. Das beruht vielleicht darauf, daß das Universum in bestimmter Weise konstruiert ist und Wesen, die in diesem Universum entstehen, zum Erfolg bewußt oder unbewußt wenigstens eine Ahnung von bestimmten Gesetzmäßigkeiten haben müssen.

Naturwissenschaften sind doch auch nur begrenzt exakt, da sich die Nachweise aufgrund allgemeiner Gesetze nur in dem definierten Bereich der Gesetze bewähren. Die Gesetze reichen für uns aus, in der Welt zu überleben und ein gewisses Verständnis über mögliche Zusammenhänge zu gewinnen, objektive Wahrheit sind sie nicht. Es ist z.B. unmöglich zu entscheiden, ob die Gesetze die Ursachen der Phänomene beschreiben oder nur mit Phänomenen irgendwie verknüpfte Vorgänge und Eigenheiten (ich glaube (!) als moderner Mensch allerdings eher an ersteres).

Fragen, die die Quantenmechanik aufwirft, z.B. die Kopenhagener Deutung, will ich dabei gar nicht erst ansprechen (weil ich sie wahrscheinlich auch nicht richtig verstehe ;)).
 
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Bin gerade zufälligerweise über einen Reader von Andreas Hartmann, Althistoriker der Katholischen Universität Eichstätt gestoßen:

Folgt nun aus dem eben Gesagten nicht, dass die Geschichtswissenschaft eigentlich gar nicht „wissenschaftlich“ ist? Das hängt zunächst davon ab, wie man den angewandten Begriff der „Wissenschaft“ definiert. Unser heutiger Wissenschaftsbegriff ist stark durch einen naturwissenschaftlichen Objektivitätsbegriff geprägt, und in diesem Sinne erscheinen dann die Kulturwissenschaften in der Tat als „weiche“ Wissenschaften. Die Ursachen dafür liegen freilich nicht in irgendwelchen methodischen Unzulänglichkeiten, sondern in ihrem im Vergleich zu den Naturwissenschaften ungleich weiteren Fragehorizont. Auch die heutigen „harten“ Wissenschaften waren über den längsten Zeitraum ihrer Geschichte durchaus „weich“: Erst durch das Ausblenden all dessen, was seit Aristoteles als Metaphysik bezeichnet wird, d. h. durch eine Beschränkung der Fragestellung auf das objektiv Messbare, wurde die Physik zu einer „Wissenschaft“ im modernen Sinne. Dieser Weg stünde prinzipiell natürlich auch dem Historiker offen. Er müsste sich eben nur auf die Feststellung dessen beschränken, was unzweifelhaft gewesen ist. Nur Kausalzusammenhänge zwischen den Ereignissen herstellen, nach Motiven und Ursachen fragen – das dürfte er dann nicht, denn im Moment der Interpretation verlässt er notwendig den Bereich des objektiv Feststellbaren. Eine solche „harte“ Geschichtswissenschaft müsste sich also auf das Kompilieren chronologischer Listen beschränken.* Würde der Physiker umgekehrt nicht nur feststellen, dass sich zwei Massen gegenseitig anziehen, sondern im Letzten erklären wollen, warum sie das tun, müsste er ebenso den Boden der Objektivität verlassen. Kurz gesagt: Die Kulturwissenschaften sind deshalb so „weich“, weil sie etwas leisten, was die Naturwissenschaften vor etwa 200 Jahren aufgegeben haben – nämlich Sinn zu stiften.
ILIAS - Tutorium Quercopolitanum - Andreas Hartmann

*Aber dann würde Geschichte als Suppe gesehen doch das Salz verlieren. Mehr noch, eigentlich wäre sie nur noch erhitztes Wasser.
 
Auch wenn das Offtopic ist, an der Uni Bonn benutzen wir diesen Reader übrigens ebenfalls für unsere Tutorien. Kann ich nur empfehlen :D
 
Ich finde den Reader anregend, aber er ist auch ein bißchen ungerecht. ;) Denn zumindest in der Physik beschränkt man sich nicht grundsätzlich auf die Feststellung des Unzweifelhaften. Es wird der modernen Physik von manchen doch sogar vorgeworfen, man begebe sich zunehmend auf den Weg des Nebulösen, z.B. bei den Versuchen, eine allgemeine Theorie zu finden, die Relativitätstheorien und Quantenmechanik vereinigen soll. Warum macht man diese Versuche?: um Sinn zu stiften.

Grundsätzlich unterscheiden sich Physik und Geschichtswissenschaft nur in der Ausdehnung des Bereichs, in dem allgemeine Übereinstimmung zu finden ist. Es gibt z.B. wenig Zweifel an der Tatsache, daß der spätere 2. Weltkrieg am 01.09.1939 ausgebrochen ist. Warum die polnischen Armeen so (merkwürdig) aufgestellt waren, wie sie es waren (unstreitig waren), ist dagegen schon schwieriger objektiv (angenähert) zu beantworten. Daß durch einen Doppelspalt gesendete Elektronen ein Interferenzmuster erzeugen, ist allgemein unstreitig. Was ein Elektron aber eigentlich ist, weiß man nicht. Und schon gar nicht ist allgemeinverbindlich klärbar und daher umstritten, ob dem Vorgang eine objektive, (noch) mangelhaft beschreibbare Realität zugrunde liegt, oder ob es nichts anderes gibt als bestimmte Messungen, die ein fundamental nicht weiter hinterfragbares Verhalten erzeugen.
 
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Ich möchte mit dir mhorgran widersprechen, dass es sehr wohl Objektivität gibt. Allerdings ist Objektivität ein Ideal, welches wir nur schwerlich erreichen können. Man kann das mit einem Funktionsgraphen, bei dem x=0 ist vergleichen. Obwohl dieser sich der x-Achse immer weiter nähert, wird er sie nie erreichen.
Also kurz:
Es gibt Objektivität - die man aber "nur schwerlich" erreichen kann.

Da aber obiges Ideal nicht erreichbar ist, nmA, kann man durchaus sagen -
Es gibt keine Objektivität.

Natürlich sollte man versuchen an eine (jede) Bewertung ... neutral herangehen und sich seine eigene - subjektive- Sichtweise reflektieren und bewußtmachen.
 
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