Zur Rezeptionsgeschichte der Johannesoffenbarung
Wie kein anderer Text des NT beansprucht die Offb von sich aus Kanonizität. Dafür sprechen zwei Stellen:
(1) Der sog. Makarismus in Offb 1,3:
Selig ist, der da lieset und die da hören die Worte der Weissagung,
und behalten, was darinnen geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.
(2) und die Kanonisierungsformel in Offb 22,18f., angelehnt an die analogen deuteronomistischen Formeln Dtn 4,2 und 13,1, wodurch der Autor seinen Text auf die gleiche Ebene stellt wie das AT:
Offb 22:
18. Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in
diesem Buch: So jemand dazu setzet, so wird Gott zusetzen auf ihn
die Plagen, die in diesem Buch geschrieben stehen.
19. Und so jemand davontut von den Worten des Buchs dieser
Weissagung, so wird Gott abtun sein Teil vom Holz des Lebens und
von der heiligen Stadt, von welchen in diesem Buch geschrieben ist.
Der Autor, der sich selbst vier Mal ´Johannes´ nennt, wurde nach unserem Kenntnisstand bis in das 3. Jahrhundert unumstritten mit dem Apostel Johannes identifiziert. Natürlich war noch
Athanasius im 4. Jahrhundert davon nicht abgewichen, da zu seinen Kriterien für die Aufnahme in den Kanon u.a. und vor allem die Apostolität der Verfasser zählte. Bevor ich auf die Zweifler an der Identität von Apostel / Autor eingehe, kommen weiter unten einige Befürworter zu Wort (
Justin, Irenäus, Kanon Muratori, Tertullian).
Papias (um 140) scheint die Offb gekannt zu haben, was diverse Stellen in den Fragmenten nahe legen, wenn auch nicht beweisen. Dass sie ihm zugesagt hätte, ist auf jeden Fall anzunehmen, da er - gesichert - zu einem Chiliasmus neigte, der nicht nur mit der Offb konform geht, sondern direkt oder indirekt von dieser herzuleiten ist.
Die Offb gilt nämlich als der textliche Initiator des kleinasiatischen Chiliasmus. Darunter ist die Überzeugung zu verstehen, dass mit der zweiten ´Ankunft Christi´ (Parusia) der Anbruch eines 1000jährigen Reichs verbunden sei, dessen Sinn darin besteht, Ungläubigen die Chance zur Hinwendung zum Christenglauben zu geben, bevor nach Ablauf der 1000 Jahre das Endgericht erfolgt. Der Chiliasmus scheint nach der Publikation der Offb in der Provinz Asia der dogmatische Mainstream gewesen zu sein - nicht nur Papias, auch
Polycarp, Justin, Irenäus und natürlich
Montanus wurden dort von ihm, insbesondere durch seine Gestalt in der Offb, geprägt. Den Chiliasmus hatten Judenchristen aus Palästina nach Kleinasien mitgebracht, die in der jüdischen Apokalyptik des 2. Jh. BCE verwurzelt waren. Die 1000-Zahl verdankt sich wahrscheinlich iranischen (zoroastrischen) Einflüssen.
Justin, der vor seiner Niederlassung in Rom in Ephesus lebte, wo der Chiliasmus zu jener Zeit florierte, schreibt in seinem ´Dialog mit dem Juden Trypho´ 81,4:
Ferner hat einer, der bei uns war, Johannes hieß und zu den Aposteln Christi gehörte, in einer Offenbarung prophezeit, die, welche an unseren Christus glauben, werden in Jerusalem tausend Jahre verbringen, und dann werde für alle ohne Ausnahme die allgemeine und sogenannte ewige Auferstehung und das allgemeine und sogenannte ewige Gericht folgen.
Irenäus schreibt in ´Contra Haereses´, 26,1:
Noch deutlicher wies Johannes, der Schüler des Herrn, in der Apokalypse auf das Ende der Zeiten mit seinen zehn Königen hin, an die das jetzt herrschende Imperium verteilt werden soll.
Im
Kanon Muratori heißt es über die Offb:
An Offenbarungen anerkennen wir nur die des Johannes und des Petrus; die letztere wollen einige von uns freilich nicht in der Kirche lesen lassen.
Der chiliastische Montanist
Tertullian anerkennt die Autorität der Offb, die Autorschaft des Apostel Johannes voraussetzend, ebenfalls ohne Einschränkung:
(Über die Auferstehung des Fleisches)
5. Auch in der Apokalypse des Johannes wird der Verlauf der Zeiten entrollt, den auch "die Seelen der Martyrer unter dem Altare", welche um Rache und Gericht rufen, abwarten gelernt haben, damit erst der Erdkreis "aus den Schalen der Engel" seine Plagen austrinke, die Stadt der Unzucht durch die zehn Könige ihr verdientes Ende finde und das Tier, der Antichrist und sein Pseudoprophet, mit der Kirche Gottes den Kampf beginne, damit so, nachdem der Teufel inzwischen in den Abgrund verwiesen ist, die Auszeichnung der ersten Auferstehung von den Thronen aus geordnet und sodann den ins Feuer Geworfenen das Urteil der allgemeinen Auferstehung aus den Büchern gesprochen werde.
Im weiteren Verlauf argumentiert er für die Auferstehung des Fleisches (im Unterschied zur paulinischen Aufstehung der Seele), deren Vorphase er sich so vorgestellt, dass die an eine Körperform gewöhnte Seele nach dem Tod ihres Körpers sehnsüchtig darauf wartet, am Tage der allgemeinen Auferstehung wieder mit ihrem Körper zusammenzugehen, der von ´Gott´ aus den zerfallenen Einzelteilen zusammengesetzt würde, und zwar inklusive Geschlechtsteile, die im Neuen Reich aber keine sexuelle Funktion mehr hätten.
Im frühen 3. Jh. setzten - wie eingangs angedeutet - erste Zweifel an der Autorschaft des Apostels Johannes ein, die ein Presbyter namens
Gaius in seinem ´Dialog mit Proclus´ zum Ausdruck brachte, von dem nur drei von Eusebius in der HE wiedergegebene Fragmente erhalten sind. Gaius zufolge war der Gnostiker
Cerinth der wahre Autor der Offb. Diesem Gaius wird von nicht wenigen Fachleuten auch die Autorenschaft des Kanon Muratori zugeschrieben, siehe englisches Wiki ´Caius (presbyter)´:
(...) the Muratorian fragment, an early attempt to establish the canon of the New Testament, is often attributed to Caius (...)
Bei dieser Zuschreibung sehe ich allerdings das Problem, dass Gaius sicher nicht den Text eines - in seinen Augen - häretischen Gnostikers in eine Kanonliste aufgenommen hätte. Bekanntlich enthält der Kanon Muratori aber die Offb. Ist der laut Eusebius von Gaius dem Cerinth zugeschriebene Text also vielleicht gar nicht identisch mit der Offb? Der Entdecker des Kanons,
F.A. Muratori, hatte als erster diese Verfasserzuschreibung vorgenommen, die aber wegen vorgenanntem Widerspruch extrem unwahrscheinlich ist.
Eine weitere Unstimmigkeit zeigt sich in Gaius´ Beschreibung des 1000jährigen Reiches:
HE III 28:
Gaius (...) schreibt über ihn in seiner Untersuchung: „Und Cerinth gibt uns in Offenbarungen die den Anschein erwecken, als wären sie von einem großen Apostel geschrieben, falsche, wunderliche Berichte, von welchen er behauptet, dass sie ihm von Engeln gegeben worden seien. Er erzählt nämlich, dass nach der Auferstehung das Reich Christi auf Erden sein werde und dass die Leiber in Jerusalem leben und sich wiederum Leidenschaften und Vergnügungen hingeben werden. Und im Widerspruch mit den Schriften Gottes und in verführerischer Absicht erklärt er, dass ein Zeitraum von tausend Jahren in freudiger Hochzeitsfeier verfließen werde.
Darüber, dass sich diese Darstellung auf die uns bekannte Offb bezieht, besteht weitgehender Konsens, obwohl von einer Schilderung von "Leidenschaften und Vergnügungen" im Rahmen einer "freudigen Hochzeitsfeier" während des 1000jährigen Reiches im Offb-Text überhaupt keine Rede sein kann. Dort heißt es lapidar:
Offb 20:
6. Selig ist der und heilig, der teilhat an der ersten Auferstehung; über
solche hat der Tod keine Macht, sondern sie werden Priester Gottes
und Christi sein und mit ihm regieren tausend Jahre.
7. Und wenn tausend Jahre vollendet sind, wird der Satanas loswerden
aus seinem Gefängnis (...)
Gaius scheint bei seiner Darstellung die in der Offb beklagten ´babylonischen´ Sitten (
vor dem 1000jährigen Reich) und die ´Hochzeit´ des Lammes mit der himmlischen ´Braut´ Jerusalem (
nach dem 1000jährigen Reich) miteinander zu vermengen und auf die Verhältnisse
im 1000jährigen Reich zu projizieren, was eine chaotische Fehllesung wäre. Vielleicht hat Gaius die Ankündigung der Hochzeit in
Offb 19:
7. Lasset uns freuen und fröhlich sein, und ihm Ehre geben! Denn die
Hochzeit des Lamms ist kommen, und sein Weib hat sich bereitet.
als Vollzug der Hochzeit vor dem anschließenden 1000jährigen Reich missinterpretiert. Sie wird in Kap. 21 aber erst nach Ablauf der 1000 Jahre und dem endgültigen Sieg über den ´Satan´ vollzogen:
Offb 21:
2. Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von
Gott aus dem Himmel herabfahren, bereitet als eine geschmückte Braut ihrem Mann.
Ein kleiner Restzweifel an der Identität der Offb mit dem von Gaius angesprochenen Text ist also, meine ich, nicht auszuschließen.
In der Mitte des 3. Jh. nimmt dessen ungeachtet der Patriarch von Alexandria,
Dionysius, auf die Meinung von Gaius Bezug, zwar ohne ihr in der konkreten Zuschreibung, aber doch in der Grundannahme zuzustimmen, dass der Offb-Autor nicht mit Johannes dem Zebedaiden identisch ist. Er schreibt zunächst:
HE VII, 25:
Einige unserer Vorfahren haben das Buch verworfen und ganz und gar abgelehnt. Sie beanstandeten Kapitel für Kapitel und erklärten, daß der Schrift Sinn und Zusammenhang fehle und dass der Titel falsch sei. Sie behaupten nämlich, dieselbe stamme nicht von Johannes und sei überhaupt keine Offenbarung, da sie in den so dichten Schleier der Unverständlichkeit gehüllt sei. Der Verfasser dieser Schrift sei kein Apostel, ja überhaupt kein Heiliger und kein Glied der Kirche, sondern Cerinth, der auch die nach ihm benannte cerinthische Sekte gestiftet und der seiner Fälschung einen glaubwürdigen Namen geben wollte.
Dionysius´ Begründung für seine Ablehnung der Identität von Apostel und Autor möchte ich hier ausführlich zitieren.
Nachdem Dionysius auf Gaius´ Cerinth-Hypothese eingeht und bestätigt, dass für Cerinth - laut Gaius - das "Reich Christi"
(...) in der Befriedigung des Magens und der noch tiefer gelegenen Organe, also in Speise und Trank und ehelichen Genüssen (...) und in Festen, Opfern und Schlachtungen von Opfertieren (...)
bestand, führt der Patriarch aus:
Ich aber möchte nicht wagen, das Buch zu verwerfen; denn viele Brüder halten große Stücke auf dasselbe. Ich möchte vielmehr glauben, dass es über meine Fassungskraft hinausgehe. Ich vermute nämlich, dass die einzelnen Sätze einen verborgenen und ganz wunderbaren Sinn in sich schließen. Wenn ich die Worte auch nicht verstehe, so ahne ich doch, dass ein tieferer Sinn in denselben liege. Ich messe und beurteile sie nicht nach meiner eigenen Klugheit, lege vielmehr dem Glauben ein höheres Gewicht bei und halte die Worte für zu erhaben, als dass sie von mir begriffen werden könnten. Und ich verwerfe nicht, was ich nicht erfasst, bewundere es im Gegenteil um so mehr, eben weil ich es nicht begriffen.
Die hier demonstrierte und offensichtlich weitverbreitete Faszination (trotz oder gerade wegen Unverständnis) dürfte neben zwei anderen Faktoren (traditionelle Zuschreibung zum Apostel Johannes und selbstbehauptete Kanonizität) ganz entscheidend zur Akzeptanz des Buches beigetragen haben. Bei Dionysos fällt der Faktor ´apostolische Autorschaft´ allerdings weg, da er die traditionelle Identifizierung des Autors von JohEv und 1 Joh mit dem Autor der Offb bestreitet, womit er Eusebius in diesem Punkt stark beeinflusst.
Dionysius schreibt:
Dass es ein Johannes war, der diese Worte schrieb, muß man ihm glauben, nachdem er es sagt. Welcher Johannes es aber war, ist nicht bekannt. Denn er bezeichnete sich nicht, wie es oft im Evangelium heißt, als den Jünger, den der Herr liebte, oder als den, der an seiner Brust geruht, oder als den Bruder des Jakobus, oder als den, der den Herrn mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört. Eine dieser Bezeichnungen hätte er sich wohl beigelegt, wenn er sich deutlich hätte zu erkennen geben wollen. Doch gebraucht er keine davon (...)
Nachdem Dionysios detailliert auf das JohEv und 1 Joh eingeht, die er - ganz konventionell - dem Apostel Johannes zuordnet, weist er auf die von jenen abweichenden Eigenarten der Offb hin:
Völlig anderer und fremder Art ist gegenüber diesen Schriften die Apokalypse. Es fehlt jede Verbindung und Verwandtschaft. Ja sie hat sozusagen kaum eine Silbe damit gemein. Auch enthält weder der Brief — vom Evangelium nicht zu reden — irgendeine Erwähnung oder einen Gedanken der Apokalypse noch die Apokalypse vom Briefe (...) Weiterhin lässt sich auch aus dem Stile die Verschiedenheit des Evangeliums und des Briefes gegenüber der Apokalypse feststellen. Jene nämlich sind nicht nur in fehlerlosem Griechisch geschrieben, sondern mit höchster Gewandtheit im Ausdruck, in der Gedankenentwicklung, in der Satzverbindung; man wird kaum einen barbarischen Laut oder Solöcismus oder überhaupt einen Vulgarismus darin finden. Denn ihr Verfasser besaß, wie es scheint, beide Gaben — beide ein Geschenk des Herrn —, die Gabe der Erkenntnis und des Stiles. Zwar bestreite ich nicht, dass jener andere Offenbarungen geschaut, Erkenntnis und Prophetengabe empfangen hat Doch ich sehe, dass seine Rede und Sprache nicht rein griechisch sind und dass er barbarische Wendungen und gelegentlich auch Solöcismen gebraucht. Das hier auszuheben, erachte ich nicht für notwendig. Niemand möge indes glauben, dass ich dies spottweise sagte. Ich wollte nur die Ungleichheit dieser Schriften dartun.