Das ist sicher alles richtig. Doch bleibt die Frage:
War die Türkenzeit für die Balkanvöker ein Verhängnis oder ein Glücksfall?
Ich glaube, hier geht einiges durcheinander?
Zuerst zu deiner Frage:
Ich denke, weder noch. Rein auf das 20. Jh. bezogen, also welches Ergebnis wir noch vor 30 Jahren sahen.
Die Geschichtsschreibung des Balkans des 20. Jahrh. nimmt ja für die eigene Unzulänglichkeit und alle Probleme gerne die Türken als Sündenbock, die osm. Zeit als schuldig für alles mögliche.
Schaut man jedoch nach Polen, Weißrussland, Ukraine, Nordkaukasus, weite Teile Russlands, Kolumbien, Peru, aber auch Portugal, Irland vor dem EU-Beitritt mit seinen Hungersnöten, und, und, und, wird man feststellen, dass diese Staaten im 20. Jh. teilweise auch nicht "weiter" wie der Balkan waren. Und das ganz ohne osman. Herrschaft. (Bzw. für z.B. Ukraine das Ende noch mal 100 Jahre weiter in der Vergangenheit reichend.)
Der Balkan hatte ja nach der Unabhängigkeit Möglichkeiten im Rahmen der industriellen Revolution ein Wörtchen mitzureden.
Jedoch, wer nur 20 Minuten Zeit opferte, meine im letzten Post getätigten Zitate durchzulesen, der wird feststellen, dass der wirtschaftliche Aufschwung kurz vor den Unabhängigkeitsbewegungen (Spediteure vom Balkan auf der Leipziger Messe) sich in das Gegenteil verkehrte, und nach der Unabhängigkeit die Wirtschaft niederging. (Wer nicht so gut englisch versteht, der sage bitte Bescheid, und ich übersetze gerne die wichtigsten Teile der engl. Zitate)
Vielleicht hat dazu auch im letzten Drittel des 19. Jh. die massive Abwertung des Silbers auf dem Weltmarkt beigetragen, denn anders als die europäischen Währungen, die an den Goldpreis gekoppelt waren, war die osmanische Währung an den Silberpreis gekoppelt, so dass dieser Silberwertverfall mit dazu beitrug, dass das Osm. Reich in den Staatsbankrott geriet. Vielleicht waren die Währungen des Balkans ebenfalls an den Silberpreis gekoppelt und kamen dadurch ebenfalls in die Bedrouille?
Wie dem auch sei, die Misere des Balkans im 20. Jh. hatte IMHO zwei wesentliche Ursachen:
Die Kriege untereinander im 19./20. Jh., gerade in der Phase, wo andere europäische Staaten mit Riesenschritten in die Moderne schritten, und dann der Kommunismus, der auf dem Balkan letztlich ebensowenig funktionierte, wie in anderen osteuropäischen Ländern, die nie von Osmanen beherrscht wurden.
Wenn du allerdings nicht wissen willst, was die Auswirkungen auf die Verhältnisse der 2. Hälfte des 20. Jh. waren, sondern wie der Stand im Jahre 1800 oder 1830 war, so teilten der Balkan wie die anderen Teile unter osman. Herrschaft in etwa das gleiche Schicksal, also was z.B. eine nichtvorhandene Blüte an Wissenschaft und Kunst anbelangt. Solche Errungenschaften sind ja meist mit Geld verbunden, und mit Mäzenatentum, sei es durch ein Bürgertum oder durch Adlige, und da gab es im Osm. Reich nur begrenzte Mittel, ebenso wie in anderen europäischen Reichen oder Staaten, wie Irland, Teile Russlands, iberische Halbinsel, Polen, Finnland, usw. wo ebenfalls die Blüte an Forschung und Kultur wenn dann nur punktuell an wenigen Orten gedeihte.
Es wurden aber im 19. Jh. durchaus angefangen z.B. Schulen nach westlichem Muster auch auf dem Balkan zu errichten. Jedoch war im Zuge des 19. Jh. der Zugriff der Großmächte auf das Osm. Reich immer stärker, so dass es sich nicht mehr befreien konnte und sogar beim Staatsbankrott die finanzielle Hoheit an die Gläubiger verlor.
Hier mal eine interessante Aufstellung von Originalquellen, die osmanische Herrschaft den Balkan betreffend, aus einer Ausstellung des türkischen Staatsarchives:
http://www.devletarsivleri.gov.tr/so...da_osmanli.pdf
Auf Englisch steht der Wortlaut oder der Inhalt der Dokumente über die Jahrhunderte neben dem Original.
Dann muss man verschiedene Bevölkerungsgruppen anschauen, denn für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen war die Herrschaft unterschiedlich. So wurde z.B. durch die Bogomilen die Herrschaft anders beurteilt, als von den katholischen Kroaten. Oder der griech.-orthodoxe Klerus beurteilte die Herrschaft wiederum anders, durch die immense Ausweitung ihres "Herrschaftsgebietes", im Gegensatz zum bulg.-orthodoxen Klerus.
Oder die Juden beurteilten wiederum die Herrschaft anders, als die enteigneten serbischen Großgrundbesitzer. Oder der einfache Bauer oder der ungarische Protestant beurteilte seine Lage wiederum anders als der rumänische Intellektuelle im Exil.
Man stellt es sich gemeinhin ja oft vor, dass es homogene Völker des Balkan gab, die nur darauf warteten, dass vom Ausland intellektuelle Zirkel, die mit dem Nationalismus Bekanntschaft machten, zu ihnen einreisten, um sie zum Aufstand aufzurufen.
Dumm nur, dass diese Aufrufe meistens nur ein begrenztes Echo wiederfuhren. Letztlich konnte kein Aufstand erfolgreich aus eigener Kraft durchgesetzt werden, sondern nur mit Hilfe der Großmächte, die die Gelegenheit beim Schopfe packten, die Peripherien des OR sukzessive herauszulösen. (Nicht immer aus Barmherzigkeit...)
Siehe bitte die Links des vorigen Post für weitere Infos.
Apropos Homogenität: Da kommen wir zum nächsten Problem, nämlich die meisten Nationalbewegungen machten sich ja an der Sprache fest, wer nun Grieche, wer Bulgare, usw. war.
Allerdings waren nicht selten die Bewohner bilingual, worauf aber keine Rücksicht beim Ziehen von Sprachgrenzen durch Gelehrte am Schreibtisch nach vorherigen Feldbegehungen genommen wurde.
Letztlich wurde die Ethnizität, das Gemeinschaftsgefühl von Hunderttausenden von Menschen des Balkans konstruiert. Kein Wunder, dass Aufstandsbewegungen anfangs nicht immer so verliefen, wie gewünscht.
Wir hatten ja schon die Stadien des Nationbuilding angesprochen:
"HOBSBAWN nennt 3 Stadien bei der Schaffung einer nationalen Identität:
1) Im ersten Stadium befasst sich eine kleine Gruppe von großteils apolitischen Wissenschaftlern und Amateuren mit extensiven Literaturstudien und Folklorestudien.
2) Im zweiten Stadium verwendet eine hochgradig politisierte Gruppe die akkumulierten Untersuchungen, oft in einer sehr ideosynkretischen Art. Sie konstruiert ein politisch-nationales Programm, eine nationalistische Ideologie oder einen Mythos. Dieser wird zum Brennpunkt einer intensiven politischen Agitation.
3) Im letzten Stadium wird dieses nationalistische Programm in großem Stil propagiert. "
S. 81:
http://www.univie.ac.at/ksa/html/inh/stud/studmate_files/zentralas_0607/GesamtversionNewZas1_7.pdf
Schaue auch nochmals in dieses Buch, ab S. 232, wie nationale Identitäten konstruiert wurden, Reichsgrenzen z.T. total willkürlich anhand von Phantasiegrenzen oder geographischen Gegebenheiten gezogen wurden, ohne Rücksicht auf tatsächliche Sprachgebiete:
Die Erfindung der Balkanvlker ... - Google Bcher
Diese Landkarten wurden nicht selten Grundlage am Beratungstisch der Großmächte, um die Gebiete aufzuteilen, wodurch dann wieder Konflikte vorprogrammiert waren, als dann im Laufe des 19. Jh. der Nationalismusgedanke sich langsam ausbreitete.
Z.B. waren die Serben in Serbien im 19. Jh. anfangs nur zu 1-20% autochtone Serben! Der Rest sind serb. Immigranten, die im Laufe des 19. Jh. in Serbien einströmten. (lt. EI, Artikel Sirb).
Siehe auch hier:
http://www.geschichtsforum.de/320511-post31.html
Hinzu kommt, dass beginnende Aufstände durch die osman. Hohe Pforte, aber manchmal auch durch lokale Gruppierungen (nicht immer türkisch-sprachig geführt oder selber türkisch-sprachig), die manchmal ganz eigene Interessen hatten (z.B. Beute), überhart niedergeworfen wurden, mit zahlreichen Verlusten an Zivilbevölkerung, weil die Separatisten kaum von der Bevölkerung zu unterscheiden waren. Dieses rief dann erst den Willen zum Widerstand breiterer Bevölkerungsschichten auf dem Plan, auch mit Vergeltung an Muslimen, z.T. angepeitscht von den Separatistenführern. Oder die Rebellenführer führten genau so eine perfide Situation erst herbei, dass viele zivile Opfer entstanden, um dadurch erst richtig die Revolte zum Laufen zu bekommen (nicht unähnliche Taktik von den heutigen Terroristen in Irak und Afghanistan).
Siehe auch den Beitrag zur Durchmischung der Volksgruppen auf dem Balkan:
Forces Population Transfers in Early Ottoman Imperial Strategy
Weiteres siehe Links hier im Post und im vorigen Post.
Kommen wir zu der Frage, was ist mit den
Türken auf dem Balkan?
Dies ist eine schwierige Frage, denn es wurden meist keine "Türken" auf dem Balkan erfasst, also turksprachige Gruppen, sondern die Gruppe der Muslime. Und da gibt es halt einen sehr großen Anteil an Konvertiten, teilweise schon seit hunderten von Jahren.
Wie will man dieses auseinander halten?
Zu
Zokis These von den teilweise nichtvorhandenen Muslimen auf dem Balkan einige Zahlen:
"Flüchtlinge und Umsiedler bzw. Aussiedler zwischen 1923 und 1991 aus den ehemaligen Balkanprovinzen. (8)
1923 bis 1991 Aussiedlung und Flüchtlinge aus Bulgarien ca.
700.000 Tsd.
1929 - 1936 Umsiedlung aus Rumänien ca.
120.000 Tsd.
1949 - 1960 Umsiedlung und Flüchtlinge aus Jugoslawien ca.
300.000 Tsd.
1930 -1960 Flüchtlinge aus Griechenland ca.
60.0000 Tsd.
"
Wie es vorher aussah, siehe meine Links im Post vorher, besonders den dort erwähnten Anhang. Und den kompletten Artikel hier:
Flucht und Vertreibung
Osmanisch muslimische Flüchtlingsbewegungen in und aus den Balkanprovinzen zwischen 1814 - 1926 und in die türkische Republik zwischen 1923 - 1991
Flucht und Vertreibung
Siehe auch in diesem Thread, wieviele muslimische Flüchtlinge es gab, die vor den Massakern flohen:
http://www.geschichtsforum.de/f42/migration-im-osmanischem-reich-20365/
Daneben schreibt die Encyclopaedia of Islam (=EI):
im Abschnitt: Balkan:
"During the 10th/16th century the Balkan peninsula enjoyed one of the rare periods of peace and prosperity in its history; everywhere new lands were brought under cultivation, the population increased (5 million about 1535), cities developed, as we can observe in the regular Ottoman land and population surveys,
defters, preserved in the Turkish
archives. After Greek, Turkish became a common language of civilisation in the Balkans.
..."
Ich habe nochmal einen Zensus der EI nach Religionen des Balkans in den Anhang gestellt, zu Ende des 19. Jh.
Ausserdem hier noch einsehbar:
http://img19.imageshack.us/img19/9550/v8p610.jpg
Weitere Statistiken zur Bevölkerungszusammensetzung des Balkans wie gesagt im vorigen Post.
Du findest auch in deinem Klaus Kreiser ein Beispiel für eine osmanische Zeit in Griechenland, welches neuerdings wohl nicht als "Goldenes", aber zumindest als "Silbernes Zeitalter" gelten darf. So wird es schwierig sein, für alle Zeit und jede Region ein Gesamturteil abzugeben.
Letztlich teilte sich der Balkan aus heutiger Sicht das Schicksal fast der gesamten Erde, mit Ausnahme der Mittel- und Nordeuropäischen Reiche und Staaten und später nach dem WK1. den USA.
Einer der spezifischen Gründe, warum Europa davon zog, und das osm. Reich zurückblieb und nicht mehr aufholen konnte, stehen auch hier:
Europas islamisches Erbe Orient und Okzident zwischen Kooperation ...
Oder du sagst uns, worauf du hinaus willst, was die These in deinem Kopf ist. Dann wird es vielleicht genauer.
So, höre erstmal auf, liest wahrscheinlich eh wieder nur ne Minderheit...
:winke: