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KARTHAGER IN AMERIKA:
Ein Disput des 16. Jahrhunderts
Die Existenz und die Dynamik der phoinikischen Handelsunternehmungen und der daraus entstandenen karthagischen Niederlassungen im westlichen Mittelmeerraum sind häufig zu den geschichtlichen und wirtschaftlichen Beweggründen in Beziehung gesetzt worden, die im 16. J.h. die spanischen und portugiesischen Eroberungen in Amerika bestimmten: "Die einen wie die anderen profitierten davon, daß sie zwei Welten miteinander verbanden, in denen Schmuckgegenstände deutlich unterschiedlichen Marktwert besaßen"(1).
Dieser historische Vergleich, der in weitestem Sinne durchaus auch auf die Handelswege und Entdeckungsfahrten der Holländer zwischen Mittelmeer, Baltikum und beiden Indien im 17. Jh. zutrifft(2), führt uns zu einem der interessantesten Themen, welche die Antike hinterlassen hat: das sprichwörtliche Können und der kühne Unternehmungsgeist der phoinikischen und karthagischen Seefahrer.
Nachdem die letzte politische Grundlage für deren Aktivitäten mit dem Untergang Karthagos weggefallen war, scheint es nicht lange gedauert zu haben, bis zunächst die Römer selbst jene Eigenschaften zum Mythos erhoben; im Laufe des Mittelalters geriet dieses Phänomen in Vergessenheit, um dann - im Zeitalter der großen geographischen Entdeckungen - wieder in seiner ganzen Tragweite ans Licht zu kommen.
Die phoinikischen Städte und Karthago haben mit ihren Unternehmungen auf entscheidende Weise dazu beigetragen, den Mittelmeerhandel zu organisieren, indem sie die wichtigsten Einnahmequellen erkannt und ihre Ziele - auch im Auftrag Dritter - bis an die Grenzen der damals bekannten Welt verfolgt haben.(3) So kam es zum Versuch der Umsegelung Afrikas im Auftrag des Pharaos Necho(4), zu den Fahrten entlang der spanischen und französischen Atlantikküste bis zu den britannischen Inseln(5) und zu jenem umstrittenen "Periplus" des Hanno entlang der afrikanischen Westküste.(6)
In die Geschichte sind diese Expeditionen - unabhängig von ihrer Reichweite und selbst von ihrer Authentizität - zweifellos als Ausdruck der Überzeugung eines großen Seefahrervolkes eingegangen, daß sich in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs die Handelsbeziehungen insgesamt nicht auf den Seeverkehr im Mittelmeerraum beschränken ließen.
In dem bekannten Streit, der 1968 um die Echtheit der phoinikischen Inschrift von Parahyba entbrannte, war keine Rede von einer diesbezüglichen sagenhaften Nachricht und deren Wiederaufnahme seitens der Spanier und Portugiesen (die bereits zu Beginn der Entdeckung Amerikas in heftigem Konkurrentkampf standen) in einer Situation, in der dies politisch zweckmäßig erschien.(7) Während die Inschrift von den meisten für eine Fälschung gehalten wurde, die "gut in die Zeit um 1870 paßt, als die Phoinikien-Forschung sich in voller Blüte befand und erst kurz zuvor außerordentlich bedeutsame Entdeckungen gemacht worden waren"(8), verlagerte ich die Diskussion bald auf die Frage, ob ein phoinikisches Schiff tatsächlich Brasilien hätte erreichen können. Damit weckte das Problem das Interesse weiterer Kreise und verließ den engeren epigraphischen und linguistischen Rahmen, aus dem heraus es entstanden war.(9)
Bei diesem Streit bemerkten wenige - um nicht zu sagen niemand - , daß das Motiv "die Phoiniker und Karthager in Amerika" bereits vier Jahrhunderte zuvor eine sehr wichtige Rolle gespielt und mit seiner nicht geringen politischen Brisanz die Kanzleien der europäischen Großmächte beschäftigt hatte. Der Mythos der phoinikischen Seefahrer und ihrer karthagischen Erben war wieder in der Geschichte aufgetaucht und gestaltete selbst Geschichte - dazu bestimmt, zusammen mit dem Schiedsspruch Alexanders VI. zur Abgrenzung der spanischen und portugiesischen Interessen in der Neuen Welt beizutragen. Und es fehlte dieser Auseinandersetzung - wie wir noch sehen werden - nicht an wissenschaftlicher Gelehrsamkeit, so daß wir davon ausgehen können, daß die Unternehmungen der Phoiniker und Karthager im Hinblick auf ihre Zielsetzungen im Westen schon immer zu Überlegungen und Forschungen Anlaß gegeben haben, wie es im übrigen bei jeder grundlegenden historischen Erkenntnis zu erwarten ist.
Der spanische Soldat und Schriftsteller Gonzalo Fernandez de Oviedo y Valdés übernahm in seiner "Historia general y natural de las Indias" die Aufgabe, die spanischen Ansprüche mit einem historischen Hintergrund zu versehen. Seine Argumentation stützt sich auf eine Stelle in der von der modernen Textkritik noch nicht zufriedenstellend bearbeiteten pseudo-aristotelischen Schrift "De mirabilibus auscultationibus", in der eine große unbewohnte Insel erwähnt ist, die von den Karthagern entdeckt und besiedelt worden sei; ein Erlaß der obersten Staatsbeamten habe die Beziehungen zu der Insel endgültig beendet.(10) Nach Oviedo habe es sich bei der Insel um den amerikanischen Kontinent gehandelt, der nach der Entdeckung und Inbesitznahme durch die Karthager von Spaniern unter Führung des Königs Hesperos angesteuert und kolonisiert worden sei.(11)
Die Portugiesen reagierten auf diese spanische Argumentation, indem sie die Gleichsetzung der pesudo-aristotelischen Insel mit Amerika bestritten und jeden spanischen Anspruch darauf als unbegründet zurückwiesen: Nicht Amerika, sondern die Azoren seien das von den Karthagern entdeckte Land gewesen.(12)
Die Spanier gaben ihre Theorie jedoch keineswegs auf; sie gingen im Gegenteil soweit, mit Bartolomé de las Casas zu behaupten, daß die Eingeborenen von den Karthagern abstammten.(13)
Den entscheidenden Beitrag zur Argumentation der Spanier lieferte Alejo Vanegas del Busto, der - ausgehend von der bereits erwähnten Passage des Pseudo-Aristoteles - zwei Phasen in der antiken Geschichte der Entdeckung und Kolonisation Amerikas unterschied. Die erste Phase basiert auf einigen Angaben aus einer anderen Passage derselben Abhandlung(14): Damals hätten die Phoiniker Madeira besetzt und die Sargassosee erreicht; in der zweiten Phase seien die Karthager von Spanien aus auf dem gleichen Weg wie die Phoiniker bis nach Amerika gelangt, das zu dieser Zeit völlig unbewohnt gewesen und dann von ihnen kolonisiert worden sei.(15)
Die Hypothese von Vanegas, der insbesondere Kuba für den Ausgangspunkt der karthagischen Besiedlung Amerikas(16) hielt, brachte indessen einige sachliche Schwierigkeiten mit sich. Besonders die Behandlung des Problems der Schrift ist bezeichnend für die Arbeitsweise des spanischen Gelehrten: Während die Phoiniker die Erfinder des Alphabets waren, benutzten die amerikanischen Eingeborenen Begriffszeichen oder Bilderschrift. Dies stellte jedoch nach Vanegas keinen Widerspruch dar: Die Phoiniker hätten bei ihren Entdeckungsfahrten Madeira erreicht; es seien indessen die Karthager gewesen, die Amerika kolonisiert hätten, und zwar genau zu der Zeit, als sie - ebenfalls nach der Ansicht des Spaniers - das phoinikische Alphabet aufgegeben hatten, um mit den später in Amerika benutzten Ideogrammen identische Begriffszeichen einzuführen!(17) Neue Analogien wurden hergestellt und in unterschiedlichem Zusammenhang aufgegriffen, wobei auch bauliche Gesichtspunkte wie die strukturelle Ähnlichkeit der indianischen und karthagischen Tempel eine Rolle spielten.(18)
Nachdem so die Entdeckung Amerikas den Karthagern zugeschrieben war, galt es nun, eine direkte Verbindung zwischen letzteren und den Spaniern herzustellen - eine Aufgabe, die durch Floriàn de Ocampo in die Tat umgesetzt wurde. Der Darstellung dieses Hofchronisten Karls V. zufolge wurde Amerika ausschließlich durch Punier als Andalusien, und zwar gegen den Willen Karthagos, kolonisiert: Jene iberischen Karthager aber seien die Vorfahren der Spanier gewesen.(19) Wiederaufgegriffen wurde die Theorie von D. A. Rocha, der daraus den Anspruch ableitete, daß den Spaniern die amerikanischen Gebiete zustünden, da sie allein von den iberischen Karthagern abstammten, die Amerika entdeckt und besiedelt hätten.(20)
Wenngleich dies die offiziellen Verlautbarungen sind, mit denen der spanische Hof die eigenen Eroberungs- und Gebietsansprüche gegenüber den anderen europäischen Mächten geltend zu machen versuchte, so war doch die Position der spanischen Kolonisten in Amerika eine deutlich andere. Während nämlich die Krone als Verfechterin des Gedankens der gemeinsamen karthagischen Abstammung durchaus bereit war, sogar für eine Art Brüderschaft zwischen Spaniern und Indianern einzutreten, nur um den Besitz der amerikanischen Gebiete zu legitimieren, hielten die spanischen Siedler das Zugeständnis der gemeinsamen Herkunft für äußerst gefährlich.
Die Idee der Stammesverwandtschaft drohte nämlich, die Rechtmäßigkeit der Unterdrückung und Versklavung der Eingeborenen in Frage zu stellen, während die Kolonisten doch zu deren Ausbeutung entschlossen waren. Also entkräfteten die Spanier in Amerika die Argumentation der Regierung, indem sie sie auf den Kopf stellten. Die Eingeborenen stammten zwar von Phoinikern und Karthagern ab, doch seien letztere nicht die direkten Vorfahren der Spanier gewesen, sondern deren damalige Herren: Die Karthager hätten die Spanier versklavt und ausgebeutet, seien dann nach Amerika gefahren, das bis dahin unbevölkert war, und hätten es besiedelt. Nun hatte das Schicksal die Rollen vertauscht: Die conquistadores hielten die amerikanischen Nachkommen jener Karthager in Knechtschaft, durch die einst ihre Vorfahren so rücksichtslos unterdrückt worden waren.(21)
Innerhalb dieser Vorstellung fehlte es auch nicht an Stimmen, welche die verbindenden Elemente negativer Art zwischen Karthagern und Amerikanern - wie z.B. die gemeinsame Praxis des Menschenopfers - besonders betonten: Der Hinweis auf die schändliche Wesensart der Karthager - der Vorfahren von Spaniern wie Amerikanern - war gleichbedeutend mit einer Deklassierung beider Völker in den Augen der Öffentlichkeit. Genau dies war die Absicht von P. Viret, einem Schweizer Calvinisten, der eben jene Menschenopfer als das zentrale kulturelle Element der beiden Völker darstellte.(22)
Von gewissem Interesse ist außerdem die Entwicklung, die sich hinsichtlich der Interpretation der bereits genannten pseudo-aristotelischen Passage vollzog. Auf der Suche nach einem Motiv, welches die Beamten von Karthago dazu bewogen haben könnte, das Fortbestehen der Kolonien auf der Insel (= Amerika) zu verbieten, stellte T. Ferrari folgende Hypothese auf: Man habe dies beschlossen, um zu vermeiden, daß andere Völker - angezogen durch die Reichtümer des neuentdeckten Landes - dieses besetzen und von dort die Mutterstadt bedrohen könnten.(23)
Komplizierter ist die Begründung, die Michel-Eyquem de Montaigne in seinen "Essais" für das Verbot angibt: Nur einige Familien der punischen Oligarchie hätten Amerika kolonisiert, sich dort politisch organisiert und - gestützt auf die Reichtümer der neuen Gebiete - einen Staatsstreich versucht, der Karthago selbst gefährlich geworden sei; daher das Verbot, zukünftig die Insel zu bewohnen, und der Beschluß, jegliches Andenken daran auszulöschen.(24)
So wird bei Montaigne ein Mythos greifbar, der - auf sicherlich ungewöhnliche, aber für die Epoche dennoch erstaunlich realistische Weise - eine politische Dynamik innerhalb der karthagischen Institutionen andeutet, die erst durch die heutige Forschung wieder in ihrer ganzen Tragweite zu einem Bestandteil der Geschichte Afrikas und in weiterem Sinne des gesamten Mittelmeerraumes geworden ist.
Anmerkungen:
1. S. Moscati, Il mondo die Fenici, Mailand(2) 1979, 205. An dieser Stelle möchte ich mich bei Herrn Dr. Fabio Martelli für seine wertvolle Hilfe bei der Zusammenstellung des Materials bedanken.
2. Vgl. u.a. C.R. Boxer, The Dutch Seaborne Empire 1600-1800, New York-London 1965.
3. Vgl. zuletzt J. Desanges, Recherches sur l’activité des Méditerranéens aux confins de l’Afrique, Rom 1978, 3-173.
4. Vgl. zuletzt Y. Janvier, Pour une meilleure lecture d’Hérodote. A propos de l’Egypte et du ‘périple de Néchao’: Les études classiques, 46 (1978), 97-111.
5. Vgl. G.-Ch. Picard/C. Picard, Vie et mort de Carthage, Paris 1970, 101-102.
6. Vgl. zuletzt J. Ramin, Le Périple d’Hannon, Oxford 1976; R. Lonis, Les conditions de la navigation sur la côte atlantique de l’Afrique dans l’Antiquité: Le problème du ‘retour’, in: Afrique noire et monde méditerranéen dans l’antiquité, Dakar 1978, 147-170.
7. Vgl. zuletzt I. Joffily, L’inscription phénicienne de Parahyba: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, 122 (1972), 22-36.
8. M. G. Guzzo Amadasi, Sull’autenticità del testo di Parahyba: Oriens antiquus, 7 (1968), 260.
9. Vgl. zuletzt S. Moscati, Segreti del Passato, Mailand 1978, 265-269; C. Finzi, Ai confini del mondo, Rom 1979, 180-184.
10. Aristot., Opera Omnia Graece et Latine, Paris 1878, IV, 88-90; T. Ferrari (Hrsg.), Praepositiones, Venedig 1943, De inv. A Carth., 119-120.
11. G. F. deOviedo, Historia general y natural de las Indias, Sevilla 1535-1537, I, I-III, 14-20.
12. Vgl. F. Colombo, L’Histoire, Mailand 1930, I, I, 82. Interessant ist die Feststellung, daß die Theorie der Portugiesen im Jahre 1749 durch die Entdeckung eines punischen und neupunischen Münzschatzes eine unerwartete Bestätigung erfuhr: vgl. Th. Monod, Les monnaies nordafricaines anciennes de Corvo (Acores): Bulletin de l’Institut fondamental d’Afrique noire, sér. B. 35 (1973), 231-238, 548-550.
13. B. de las Casas, Historia de las Indias, I, IX: Obras escogidas 1, Madrid 1552, 39-41.
14. Aristot. A.a.O., IV, 101.
15. A. Vanegas, Primera parte de las diferencias de libros que hay en el universo, Salamanca 1572, 96-98.
16. Vgl. B. Ponce de Leon, Var. Disp., Salamanca 1611, VIII, 466-479. Die Lehre Vanegas’, der die Indianer Amerikas von der damals überwiegend anerkannten Theorie der direkten und gemeinsamen Abstammung aller Völker der Erde von den Söhnen Noahs ausnahm, wurde in der Folge durch verschiedene Theologen der damaligen Zeit als häretisch verworfen: B. Arias Montano, Ant. Jud., Leiden, I, 3-10.
17. A. Vanegas a.a.O., 98.
18. Vgl. G. Garcia, Origen de los Indios del Nuevo Mundo é Indias Occidentales, Valencia 1607, I, II, 88.