Pronunciamientos als Kulturphänomen

Shinigami

Aktives Mitglied
Moin.

Ich habe mir kürzlich aus der Bibliothek einige Einführungswerke zur Geschichte Mexicos ausgeliehen und bin bei der Lektüre zu den entsprechenden Kapiteln, die vor allem das 19. Jahrhundert betreffen über den Umstand gestolpert, dass in der mexikanischen Geschichte des 19. Jahrhunderts mehrfach Militärs die politische Macht an sich rissen oder es zumindest versuchten.
Das an und für sich würde ich alleine nicht unbedingt für besonders bemerkenswert halten, was mir allerdings dabei augefallen ist, ist dass ein sehr starker Einfluss von Militärs und das Mittel durch einen Aufstand des Militärs die zivile Regierung zu stürzen, interessanterweise auch in Spanien durchaus eine Rolle spielten, wo es im Laufe des 19. Jahrhunderts ebenfalls mehrfach zu "Pronunciamientos" einzelner Generale kam.

Jetzt würde mich interessieren: Handelt es sich dabei um einen Zufall, oder könnte das kulturspezifische Wurzeln haben?
Denn jedenfalls in Europa waren diese Art des angestrebten oder tatsächlich vollzogenen Machtwechsels, was das 19. Jahrhundert angeht, eher eine Seltenheit.
Für frühere Zeitepochen wird man das in Europa wenigstens in Russland und im Osmanischen Reich, bei den diversen "Palastrevolutionen" und der Rolle, die die Befehlshaber der Janitscharen und Strelizen dabei spielten gegebenenfalls noch in ähnlicher Form finden.

Ansonsten fallen mir im Hinblick auf die Europäische Geschichte außerhalb der Iberischen Halbinsel aber eigentlich nur zwei bedeutende Episoden im 19. Jahrhundert (jedenfalls ungefähr) ein, die einem "Pronunciamiento" in ihrer Erscheinungsform einigermaßen nahekommen.
Das erste Ereigniss wäre der Staatstreich Napoléon Bonaparts gegen das Direktorium (eventuell als Kandidat noch die Rückkehr vom Exil auf Elba und der Sturz Louis XVIII), das zweite Ereignis wäre der "Dekabristenaufstand", nach dem Tod Zar Alexander I., wobei letzteres in der Form an ein Pronunciamiento erinnert, aber wohl keine tatsächliche durchdachte Konzeption dahinter steckte, tatsächlich die politische Macht in die Hände des Militärs zu bringen.

Wie würdet ihr das beurteilen?
Eher als Zufall oder mag das Ausdruck eines kulturell bedingten besonders straken Einflusses des Militärs als insitution in einigen spanischsprachigen Ländern sein?
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Pronunciamientos in Spanien - ich habe mich nicht intensiv damit beschäftigt, ich vermute @Bdaian könnte dazu fundierter etwas sagen - sind meiner oberflächlichen Beobachtung nach (ich rede jetzt von denen des 19. Jhdts.) ein Resultat des Verheizens von Militär in den Unabhängigkeitskriegen sowie Phänomen des Konflikts zwischen Liberalismus und Absolutismus.
Als Napoleon 1808 Spanien besetzen ließ, entstanden überall in Spanien Juntas (Selbstverwaltungen), die z.T. auch Guerilla gegen Napoleon führten, es wurden heimlich Wahlen abgehalten und im unbesetzten und gut geschützten Cádiz (seit Trafalgar 1805 hatten die Briten die Seeherrschaft und die hatten Napoleons Besatzung Spaniens politisch sofort genutzt, Bei Trafalgar hatten die Spanier ja noch auf Seiten Napoleons gekämpft) eine Verfassung ausgearbeitet und am 19. März 1812 veröffentlicht. Als Ferdinand VII. - der Ersehnte - aus dem frz. Hausarrest nach Spanien zurückkehrte, war eine seiner ersten Handlungen, diese Verfassung außer Kraft zu setzen und Militärs nach Lateinamerika zu schicken, um die abtrünnigen Kolonien wieder zu unterwerfen. 1820 hatten spanische Offiziere dann genug davon, sich von einem sturen König verheizen zu lassen und setzten die Verfassung von Cádiz wieder ein (Trienio liberal - liberales Jahrdritt), daraus erfolgte ein Bürgerkrieg. Insbesondere die Basken, die ihre günstigen mittelalterlichen fueros nicht zugunsten einer liberalen Verfassung aufgeben wollten (it‘s the Economy, stupid) ließen sich vor den Zug des Absolutismus spannen. Diesmal, 1823, konnten die Franzosen, die Ferdinand VII. zu seiner Unterstützung ins Land geholt hatte, Cádiz erobern. Die Kanonen hatten eine größere Reichweite und die britische Flotte stand nicht bereit, Cádiz zu verteidigen. Nach Ferdinands Tod im Oktober 1833 heiratete die Königswitwe und Regentin bereits im Dezember, als gerade zwei Monate nach dem Tod des Königs, einen Offizier. Ein Bruder des Königs, Carlos, beanspruchte entgegen der pragmatischen Sanktion Ferdinands, der seine älteste Tochter Isabel II. zur Thronfolgerin bestimmt hatte, die Krone für sich und konnte im Baskenland und Navarra entgegen dem liberaleren Madrid eine absolutistische Herrschaft errichten. Der Carlismus, der bis heute besteht (wenn auch politisch mittlerweile völlig unbedeutend und kurioserweise sogar mit einem linksextremen Flügel), war geboren und im Laufe des 19. Jhdts. gab es drei Guerras Carlistas (Karlistenkriege, 1833-40, 1847-49, 1872-76) und im Spanischen Bürgerkrieg 1936-39 mischten die Karlisten ebenfalls mit. Es ging bei diesen Kriegen eigentlich immer um den Konflikt nicht nur zwischen verschiedenen Zweigen der spanischen Bourbonen, sondern auch um die Ausrichtung Spaniens ob dieses eher liberal-konstitutionell (bzw. 1873/74 und 1931 - 39 republikanisch) oder eher absolutistisch regiert würde.
 
ein Resultat des Verheizens von Militär in den Unabhängigkeitskriegen sowie Phänomen des Konflikts zwischen Liberalismus und Absolutismus.

Im Bezug auf die Napoléonische Zeit und die Unabhängigkeitskriege der lateinamerikanischen Staaten gegen Spanien und die damit verbundenen Belastungen des Militärs, erscheint die Rolle, die militärische Anführer bei Machtwechseln spielten und der Charakter von Umbrüchen als Militärrevolten durchaus plausibel.

Was ich persönlich interessant finde, ist dass im Besonderen Militärs in Spanien im 19. Jahrhundert offenbar zu Trägern sozialen Protests und Reformbewegungen avancieren und den Aufstand proben, während im restlichen Europa - so zumindest meine Wahrnehmung - in dieser Zeit die Rolle von Anführern von Reformbewegungen und Protesten zunehmend zivilen Personen zufällt.

Der Konflikt zwischen einem konservativen oder einem liberalem (was nicht unbedingt "demokratisch" meinen muss) Regime ist ja einer, der sich im 19. Jahrhundert sowohl in Europa, als auch in Lateinamerika abspielt und auch in Mexiko scheint dises hin und her zwischen Konservativen und "moderados" so wie die Frage der "fueros" eine Rolle gespielt zu haben.
Wobei mich insofern die Parallelität dieser Entwicklung überrascht, als dass die sozialen Hierarchien in Mexiko mit ihrer Rassistischen Prägung und dem "Kastensystem" (kann man das so nennen) "Gachupines" > "Kreolen" > "Mestizen" > "Mulatten", "Indios" und Schwarzafrikaner und der sehr extremen Latifundienwirtschaft und der wirtschaftlichen Dominanz der "hacendados" gegenüber einem verhältnismäßig kleinen Militär, doch insgesamt für mich deutlich anders aussehen als in Spanien.

So oder so finde ich es aber durchaus interessant, dass man sowohl in Spanien, als auch in Mexiko offenbar bereit war Militärs als träger von Reformbewegungen und damit verbunden letztendlich auch Militärjuntas im Stil von "Modernisierungs-" und "Entwicklungsdiktaturen" de facto zu akzeptieren, während in Europa und im Besonderen auch in der "angelsächsischen Welt" die Einmischung des Militärs in politische Angelegenheiten zunehmend als "no go" galt und das Modell einer Militärdiktatur immer mehr zum Schreckensszenario wurde.
Das scheint in Spanien und wohl jedenfalls auch in Mexiko interessanter Weise nicht so gewesen zu sein und da würde mich interessieren, woran das liegen könnte, was das 19. Jahrhundert betrifft.


In Sachen Eingrenzung würde mich das vor allem im Bezug auf das 19. Jahrhundert interessieren, der 1. Weltkrieg bringt in dieser Hinsicht ja einiges an sozialen Umbrüchen, die auch im übrigen Europa das Modell einer Militärdiktatur salonfähig machten, so dass da der auffallende Unterschied etwas verschwindet.
 
Was ich persönlich interessant finde, ist dass im Besonderen Militärs in Spanien im 19. Jahrhundert offenbar zu Trägern sozialen Protests und Reformbewegungen avancieren und den Aufstand proben, während im restlichen Europa - so zumindest meine Wahrnehmung - in dieser Zeit die Rolle von Anführern von Reformbewegungen und Protesten zunehmend zivilen Personen zufällt.
Ich weiß nicht, ob man von sozialem Protest sprechen kann. Bei den Basken, die immer wieder zum Absolutismus tendieren - das taten die Basken ja nicht, weil sie besonders stur und konservativ waren, sondern - ich wies mit dem Clinton-Zitat "It's the economy, stupid" darauf hin - weil sie die mittelalterlichen Handels- und Zollprivilegien nicht aufgeben wollten, gab es eben andere Gründe, als bei den Offizieren, welche sich nicht in unsinnigen - und vor allem nicht endenden - Bruderkriegen in den Amerikas verheizen lassen wollten.

Die Unabhängigkeitsbestrebungen in den Amerikas (du hast dich mit Mexiko befasst und wirst mir sicher den Grito de Dolores und Hidalgo entgegenhlten) waren ja nicht von den verarmten Massen, den indigenen Bevölkerungen oder den afrikanischstämmigen Sklaven getragen, sondern von den Amerikaspaniern. Wenn du in Lima (Perú) mal die die Gegenheit hast, das Haus der Familie Aliaga (im historischen Zentrum) zu besuchen: Das Grundstück neben dem peruanischen Präsidentenpalast ist dem "Stammvater" des Aliaga-Clans, Jerónimo de Aliaga, von Pizarro höchstselbst gegeben worden. Es gehört der Aliaga-Familie bis heute (ob die Aliaga-Familie mit dem derzeitigen Bürgermeister von Lima verwandt ist, weiß ich nicht, der heißt auch Aliaga) und dort wird stolz sowohl der Stammvater Jerónimo präsentiert, wie er auch der Nachfahre, der etwa 300 Jahre später für die Unabhängigkeit von Spanien kämpfte.

Das war in México nicht anders. Als Napoleon 1808 Spanien besetzte, gerieten viele Dinge in Bewegung. Die Amerikaspanier waren unzufrieden, dass sie nur Spanier zweiter Klasse waren. Der gesellschaftliche "Wert" von Personen einer Familie hing davon ab, ob das einzelne Individuum in den Amerikas oder in Spanien geboren war. Also identische Eltern aber Geburtsort Madrid, Vera Cruz oder Lima, das machte einen Ansehensunterschied aus. Legaler Handel auch zwischen den amerikanischen Kolonien untereinander oder mit den Philippinen musste über Spanien laufen. Also theoretisch musste ein Produkt, das im Vizekönigreich Perú hergestellt wurde und nach Kalifornien verkauft wurde, in Lima verschifft werden, in México oder Panamá ausgeschifft werden, an den Atlantik transportiert werden, den Atlantik überqueren, in Spanien registriert werden, wieder zurück nach Vera Cruz und an die Pazifikküste, um dann im Pueblo de Santa María Virgen de los Ángeles de Porciúncula wieder ausgeschifft zu werden. Damit konnten die Amerikaspanier nicht zufrieden sein. Als dann plötzlich ein Machtvakuum entstand, weil Carlos IV. und sein Sohn Fernandon VII. in frz. Hausarrest kamen und die Legitimität der Kolonialbehörden in Frage stand, gab es erste Unabhängigkeitsbestrebungen. Die amerikanischen Deputierten in Cádiz kämpften sehr hart um ihre Gleichsetzung mit den Europapaniern, sowohl bzgl. der Gleichberechtigung bei den Wahlen, als auch bei der Gleichberechtigung später in der Verfassung. Als dann sechs Jahre nach der Besatzung Spaniens bzw. zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Pepa (die spanische Verfassung von 1812) diese vom aus dem Hausarrest zurückgekehrten König direkt außer Kraft gesetzt wurde, war das natürlich ein weiterer Schlag für die Legitimität der spanischen Monarchie in den Kolonien.
 
Zurück
Oben