Rotwelsch und Studentenlatein

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Rotfälscher

Gast
Auf Wikipedia heißt es:
Handwerker, die ihren Beruf als Fahrende ausübten oder, wie z. T. noch heute, einen Teil ihrer Ausbildung als reisende Handwerker auf der Walz erwerben.[...]
Schüler und Studenten, die im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zu den Vaganten zählten und auch lateinisches Wortgut in das Rotwelsche einbrachten.
Quelle: Rotwelsch ? Wikipedia

Reisende Handwerker wirken auf den ersten Blick plausibel, aber nicht mehr, wenn man bedenkt, dass Handwerker früher in einigen Orten ihren Heimatort nicht verlassen durften, damit ihre Kenntnisse und Fähigkeiten nicht "exportiert" wurden.

Doch warum zählten die Studenten zu den sozial ausgeschlossenen?
Zumindest François Villon scheint dieses Schicksal erlitten zu haben, so heißt es über sein letztes Werk:
Vermutlich stammen aus dieser Zeit, d.h. 1462, seine schwer verständlichen Balladen im Gaunerjargon, in denen er in der Rolle eines Gauners zu den Pariser Gaunern spricht, vielleicht um sich so endgültig mit ihnen zu identifizieren.
Quelle: François Villon ? Wikipedia

Wie war der Zusammenhang historisch?
 
Reisende Handwerker wirken auf den ersten Blick plausibel, aber nicht mehr, wenn man bedenkt, dass Handwerker früher in einigen Orten ihren Heimatort nicht verlassen durften, damit ihre Kenntnisse und Fähigkeiten nicht "exportiert" wurden.
Es gab ortsfeste Handwerker, und es gab reisende Handwerker.
Dass Gesellen nach der Lehrzeit auf der Suche nach Arbeit umherwanderten, war in vielen Branchen absolut üblich.

Doch warum zählten die Studenten zu den sozial ausgeschlossenen?
Nicht "die" Studenten, sondern die fahrenden Scholaren.
 
"Reisende Handwerker", die nicht auf der Walz waren, werden häufig keinem "zünftigen", also Zunft-gebundenem Handwerk nachgegangen sein. Dem spirchwörtlichen Kesselflicker verbot niemand das Herumziehen oder die Weitergabe seines Wissens. Eher wurde es für reisende Handwerker schwierig, sobald Zünfte ins Spiel kamen, da diese von der ortsungebunden Konkurrenz selten begeistert waren.
 
Geht es jetzt primär um Handwerker auf der Walz oder eher um diejenigen, welche oft von der Obrigkeit verfolgt wurden, weil sie für die zünftigen, einheimischen Handwerker eine Bedrohung darstellten?
 
Geht es jetzt primär um Handwerker auf der Walz oder eher um diejenigen, welche oft von der Obrigkeit verfolgt wurden, weil sie für die zünftigen, einheimischen Handwerker eine Bedrohung darstellten?

Weder noch. Es geht um Studenten und deren Gebrauch der Gaunersprachen. Der von Rotfälscher zitierte Wikibeitrag "Rotwelsch" beschäftigt sich mit der Gaunersprache, nicht mit den Fachsprachen der Zünfte. Und die Frage lautete: waren Studenten sozial niedrig eingestuft? M.E. eine gute Frage. Wer waren eigentlich Studenten im Mittelalter?

Schon im "Faust" kommt ja auf, dass die Scholaren ein raubeiniges Volk waren, der Erfahrung des Rausches ebenso zugetan wie dem Rausch des Wissens. Das Langzeitstudenten sich einer Gaunersprache bedienten, erscheint plausibel. Geheimsprachen sind immer sexy, das Rotwelsche war für den Scholaren vielleicht so eine Art Gangsta-Rap.

Die Studenten kamen doch aus besseren Verhältnissen und wollten da auch wieder hin - oder? Gibt es Quellen über die Soziologie der Studenten im MA bzw. Frühe Neuzeit?
 
Weder noch. Es geht um Studenten und deren Gebrauch der Gaunersprachen. Der von Rotfälscher zitierte Wikibeitrag "Rotwelsch" beschäftigt sich mit der Gaunersprache, nicht mit den Fachsprachen der Zünfte. Und die Frage lautete: waren Studenten sozial niedrig eingestuft? M.E. eine gute Frage. Wer waren eigentlich Studenten im Mittelalter?

Schon im "Faust" kommt ja auf, dass die Scholaren ein raubeiniges Volk waren, der Erfahrung des Rausches ebenso zugetan wie dem Rausch des Wissens. Das Langzeitstudenten sich einer Gaunersprache bedienten, erscheint plausibel. Geheimsprachen sind immer sexy, das Rotwelsche war für den Scholaren vielleicht so eine Art Gangsta-Rap.

Die Studenten kamen doch aus besseren Verhältnissen und wollten da auch wieder hin - oder? Gibt es Quellen über die Soziologie der Studenten im MA bzw. Frühe Neuzeit?

Ja, gibt es! Sehr interessant ist die Lebensgeschichte des Thomas Platter. Platter (1507-1582) war ein Bauernsohn aus Grächen im Schweizer Kanton Wallis, der es zum Rektor der Lateinschule und erfolgreichen Verleger in Basel brachte. Vorher war er allerdings Jahre als Vagant unterwegs, ehe er in Schlettstadt, Solothurn und Zürich sein Studium absolvierte. Sein Wanderleben führte ihn kreuz und quer durch das Reich. Er reiste in Begleitung eines Vetters und gemeinsam mit anderen wandernden Scholaren. In diesen Gruppen herrschte oft Eigennutz und Brutalität. Die Schützen, so nannte man die jüngeren Schüler wurden von den älteren "Bachanten" betteln geschickt und übel misshandelt, wenn sie zu wenig brachten oder erbettelte Lebensmittel selbst aßen. Die Bachanten kontrollierten die "Ehrlichkeit" der Schützen, indem sie mit Wasser gurgeln mussten, "dass sie sähen, ob sie etwas gefressen hätten". Platter schrieb, dass er, obwohl Bürger und Bauern den "Schützen" reichlich Almosen gaben, oft so hungrig gewesen sei, dass er den Hunden auf der Straße die Knochen abgejagt und Brosamen aus den Dielenritzen der Schulen aufgesammelt habe. Allerdings hatte Platter das Glück, sich nach den Vagantenjahren eine bürgerliche Existenz aufbauen zu können, so dass sein eigener Sohn Felix (1536-1614) zu Pferd nach Montpellier aufbrechen konnte, wo er Medizin studierte. Felix brauchte auch die Kosten für die Promotion und das anschließende Festbankett nicht zu scheuen. Wie repräsentativ die Vita des Thomas Platter war, ist schwer zu sagen, sicher ist jedenfalls, dass die Hoffnungen vieler armer Studenten, aber auch einiger Doktoren und Magister auf eine sichere Existenz unerfüllt blieben. Auch wenn Landesfürsten wie Philipp von Hessen, der in Marburg die erste protestantische Universität und später Georg II. August von Hannover, der in Göttingen die Universität gründete mit Vergünstigungen und Zuschüssen Gelehrte anzuziehen versuchten, erhielten noch im 16. Jahrhundert viele Gelehrte kein festes Gehalt oder nur ein geringes Gehalt und wurden von den Studenten direkt bezahlt.

In Goethes Faust gibt Mephisto, mit Faust Kleidung und Perücke ausstaffiert eínem Studenten, der ihm die Aufwartung macht einige Ratschläge, vor allem "pünktlich und zu allen Malen Wirt, Schneider und Professor zahlen".
 


Was soll man von jungen Männern erwarten, die in Bologna, Paris Prag, Heidelberg oder einer anderen Universitätsstadt die Verlockungen kennenlernten die das Studentenleben bot.

Um die rauhbeinigen Studenten wenigstens ein wenig zur Räson zu bringen, wurde den Dekanen der Universität die Gerichtsbarkeit über Studenten übertragen, und ein Aufenthalt im Universitätsgefängnis, dem Karzer zu verbringen, gehörte fast schon zum guten Ton.

Duelle waren ein Problem, trotz Verbotes kam es manchmal kam zu tragischen Todesfällen. Im 19. Jahrhundert setzte sich die Mensur als Ersatz für die Duelle durch, und ein Schmiss gehörte bis zur 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts fast zum Merkmal mitteleuropäischer Akademiker. Der junge Bimarck schlug in Göttingen häufig über die Stränge. Göttingen verfügt noch über ein Schreiben, in dem Bismarck versicherte, eine Karzerhaft, die er noch in Göttingen zu verbüßen hatte, in Berlin abzusitzen. Marburg verfügt über einen sehr schönen Karzer der liebevoll von Insassen mit Zeichnungen versehen wurde. In Marburg traf man sich zum Duell nahe des Schlosses, in Göttingen hinter der Reithalle. Bei einem Todesfall oder bei schweren Vergehen von Studenten, fiel die Gerichtsgewalt an den Landesherr, nicht an den Dekan der Uni. Ein Göttinger Student, der einen Komilitonen im Duell getötet hatte, hielt es für klüger, sich aus dem Staub zu machen, worauf sein Porträt am galgen befestigt wurde, als Ehrenstrafe, da man den Delinquenten nicht zur Rechenschaft ziehen konnte.

Prinzipiell aber blieb die Gerichtsbarkeit der Dekane noch bis zum 1. Weltkrieg vielerorts bestehen. Ein kanadischer Philosophiestudent namens Winthrop B. Bell wurde 1914 vom Ausbruch des 1. Weltkriegs überrascht. Da ihm die Inhaftierung in einem Interniertenlager als feindlicher Ausländer drohte, nahm ihn der Dekan der philosophischen Fakultät unter seine Fittiche und verhängte eine Karzerstrafe Bell wohnte darauf bis zum Ende des Krieges im Göttinger Karzer und blieb von Internierung verschont. Nach dem Krieg kehrte er noch einige Male nach GÖ zurück.
 
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