Es ist immer wieder festzustellen, dass Forenmitglieder Probleme mit der historischen Arbeitsweise, bzw. dem Umgang mit Quellen/der Quellenkritik haben. Meist werden da zwei Extreme gefahren:
1.) Historiker glauben den Quellen alles.
2.) Historiker wandeln die Aussagen der Quellen in ihr glattes Gegenteil um.
Nichts davon ist natürlich richtig.
Was ist Quellenkritik tatsächlich?
Wir unterscheiden die innere und die äußere Quellenkritik.
Die Äußere Q-Kritik befasst sich mit der Überlieferung und Gestalt der Quelle.
Nehmen wir beispielsweise Goebbels Sportpalastrede vom Februar 1943.
Ich mutmaße jetzt mal, dass uns neben dem eigentlichen Manuskript auch verschiedene Entwürfe vorliegen. Außerdem haben wir Tonband- und Filmaufnahmen der Rede. Gerade aber die müssen auch kritisch betrachtet werden. Denn die gezeigte begeisterte Volksmenge waren geladene Gäste, treue Anhänger des Regimes, zumindest nach außen hin, kein echter Bevölkerungsquerschnitt. Und Goebbels wäre nicht Goebbels, wenn die Aufnahmen nicht ordentlich ausgewählt wären. Hier schließt sich also die Frage an, ob es Filmaufnahmen der Rede gibt, die Goebbels verworfen hat und ob diese nachweisbar sind.
Oder nehmen wir die Annalen des Tacitus. Die sind nur unvollständig erhalten, in zwei mittelalterlichen HSS, die sich leider nicht decken. Sprich wir haben nicht einmal - wie wir das bei anderen Quellen haben - verschiedene Textzeugen zur Verfügung sondern nur die jeweils eine Abschrift mit all ihren Fehlern. Also zwei Textabschnitte, die auf Pergament in karolingischer Minuskel überliefert sind und in verschiedenen Klöstern in Deutschland und Italien lagen und in der Renaissance entdeckt und einer breiteren Öffentlichkeit durch den Buchdruck zugänglich gemacht wurden.
Die Innere Q-Kritik fragt erst einmal danach, ob die Quelle geschaffen wurde, um die Mit- und Nachwelt von einer Sache zu unterrichten oder ob sie zufällig erhalten und nicht dazu geschaffen wurde.
Man unterscheidet zwischen Traditions- und Überrestquellen bzw. Monumenten und Dokumenten. Das Problem ist, dass zwischen Tradition/Monument und Überrest/Dokument nicht immer leicht zu unterscheiden ist. Ein Zeitungsartikel beispielsweise wird i.d.R. als Dokument/Überrest gefasst: Nichts ist so alt, wie die Zeitung vom Vortag.
Eine andere Unterscheidung ist die nach Primär- und Sekundärquellen. Die Primärquelle ist annähernd unmittelbar zum Ereignis, die Sekundärquelle eben nicht. Die Sekundärquelle ist daher i.d.R. als Monument zu fassen, der Umkehrschluss erlaubt sich aber nicht. Ein Monument kann auch eine Primärquelle sein.
So sind Memoiren von Politikern Sekundärquellen par excellence, da sie im Nachhinein versuchen, die Deutungshoheit über einen Sachverhalt zu behaupten oder wiederzuerlangen. Wenn es allerdings keine Quellen gibt, die unmittelbar zum Ereignis stehen, das ist etwa bei den wenigen mittelalterlichen Memoiren, die uns vorliegen, der Fall, dann sind diese durchaus als Primärquellen zu werten.
Die Quellen, mit denen Historiker bis ins 19. Jhdt. fast ausschließlich arbeiteten und die i.d.R. auch die sind, mit denen v.a. jüngere Studenten (und Schüler in der Schule sowieso) arbeiten, sind meist Historiographie, also Monumente oder Traditionsquellen. Erst im ausgehenden 19. Jhdt. begann man, die Archive für die historische Forschung zu entdecken und Überrestquellen in die historische Forschung ernsthaft einzubeziehen.
Eine Überrestquelle ist z.B. eine Urkunde, die unmittelbar Zeugnis von einem Rechtsakt gibt, oder ein Brief - wobei manche Briefe auch als Traditionsquellen zu fassen sind: So hat z.B. Cicero seine Briefe an Atticus mit dem Ziel geschrieben, dass dieser diese veröffentliche. Sie sollten nicht nur an den Empfänger sondern an die ganze stadtrömische Öffentlichkeit, bzw. den Teil davon, der für Cicero zählte, gehen.
Auch Tagebücher sind i.d.R. nicht für die Öffentlichkeit und somit Überrestquellen/Dokumente. Was Lieschen Müller am 30. April in ihr Tagebuch schreibt, wird sie nach dem 1. Mai nie wieder lesen. Goebbels Tagebücher dagegen waren für die Veröffentlichung bestimmt und der Propagandaminister redigierte die Texte immmer wieder, sie sind also nicht unmittelbar tagesaktuell, wie das bei Tagebüchern normalerweise der Fall ist sondern Ergebnis eines fortwährenden Schreibprozesses und kontinuierlicher Überarbeitung. Sie müssen als Monumente gefasst werden. Nur dort, wo wir dank der Überlieferung Einblick in den Schreibprozess haben, können wir die Goebbels-Tagebücher noch - bedingt, da er sich ja immer einer späteren Veröffentlichung gewahr war - als Überrestquellen fassen. Ganz anders dagegen Hitlers Tischgespräche; Gedankenfetzen, die ohne Hitlers Wissen im Auftrag Bormanns mitstenographiert wurden und von Bormann genutzt wurden, um Befehle herauszugeben bzw. Gegner innerhalb des Führungsapparates auszubooten.
Eine sehr reichhaltige Überrestquelle bot die Kairener Genizah: Juden entsorgten hier ihre Schriftstücke auf denen das Tetragramm JHWH stand, da sie diese nicht vernichten durften. Die Kairener Genizah erlaubte daher nach ihrem Auffinden eine Rekonstruktion jüdischer Verwandtschafts, Heirats- und Handelserbindungen im Mittelmeerraum des Mittelalters, vom 'Iraq bis nach Andalusien.
Text- und Bildquellen können lügen. Das gilt sowohl für Traditions- als auch für Überrestquellen. Ein Wechselbetrug in einem hanseatischen Dokument ist ein Überrest, auch eine Wucherrechnung ist ein Überrest.
Wir können das als Historiker nicht immer zweifelsfrei feststellen, ob eine Quelle "die Wahrheit" sagt. Wir können aber versuchen Quellen zu vergleichen, wenn wir in der glücklichen Lage sind, mehrere Quellen zu einem Sachverhalt zu besitzen, oder aber textimmanente Widersprüche zu detektieren.
Haben wir mehrere Quellen zu einem Sachverhalt, dann gilt zunächst einmal deren Abhängigkeit voneinander zu prüfen. Sueton etwa ist abhängig von Tacitus und Flavius Josephus. Wenn er etwas berichtet, was die beiden berichten, dann bestätigt er deren Version nicht, er gibt sie nur lediglich ebenfalls wieder, eben weil er sie von diesen abgeschrieben hat. Besonders interessant für Historiker sind daher Quellen die
- unabhängig voneinander geschaffen wurden
- im Konfliktfall die jeweilige Sicht beider Seiten auf die Dinge bieten.
Wir müssen uns fragen,
- was der Anlass gewesen ist, die Quelle zu schaffen (bei Traditionsquellen immer, bei Überrestquellen nur dann, wenn sie aus einem bestimmten Anlass geschaffen wurde).
- wer der Verfasser/Urheber war (ist ja nicht jede Quelle schriftlich verfasst)
- wer der Adressat war
- welches Ziel erreicht werden sollte
Also beispielsweise die Sportpalastrede:
Anlass war die sich abzeichnende Niederlage des Dt. Reiches, ihr Verfasser waren der Reichspropagandaminister und womöglich einige seiner Mitarbeiter, der Adressat eine ausgewählte Menge überzeugter und fanatischer Nazis, zu einem Großteil Personen, die mit dem Frontalltag wenig zu tun hatten. Das Ziel welches erreicht werden sollte, war, die Kriegsbereitschaft aufrecht zu erhalten und den Menschen am Volksempfänger oder in den Kinovorstellungen zu signalisieren, dass die Mehrheit nach wie vor von dem Krieg begeistert war etc. Die Fortführung des Kriegs gewissermaßen als Umsetzung des Volkswillens. Wir können hier also eine primäre und eine sekundäre Adressatenebene ausmachen.