Dieter schrieb:
Ich habe es stets interessant gefunden, fingalo, dass historische Ereignisse des frühen Mittelalters bzw. der Völkerwanderungszeit im Nibelungenlied auftauchen. Selbst wenn diese Ereignisse - wie du dich sehr richtig ausdrückst - Knetmasse oder Steinbruch sind, so sind sie doch vorhanden und müssen auf irgendeiner Schiene über mehr als 700 Jahre tradiert worden sein. Das heißt also, dass bestimmte geschichtliche Katastrophen trotz der enormen Zeitspanne so lebendig blieben, dass sich ein Nachhall im Nibelungenlied findet. Das ist doch eine unerhörte Sache, nicht wahr?
Die Katastrophe der Burgunder z.B. muss die Leute derart nachhaltig beeindruckt haben, dass die Kenntnis über so lange Zeit nicht verloren ging. Das Nibelungenlied hat das Ereignis zumindest rudimentär bewahrt, und erst wiederum mehrere Jahrhundert später konnten Historiker feststellen, dass die Aussage des Liedes auf Wahrheit beruhte. Selbst wenn der hochmittelalterliche Dichter am germanischen Tatbestand kein Interesse gehabt haben sollte, so hat er uns dennoch informiert. Eine starke Leistung!
Och, die mussten nur
Prosper Tiro Aquitanus lesen (nach ihm wurde die Niederlage 436 allerdings durch den römischen Heermeister Aetius mit hunnischen Hilfstruppen herbeigeführt), oder Paulus Diaconus. Also die Burgunden - Hunnen-Auseinandersetzung ist auch anderweitig und zeitnäher überliefert. Wenn's ausschließlich das Nibelungenlied wäre, dann würde ich auf die Historizität dieses Bausteins soviel geben wie auf die Schilderung von König Artus' Tafelrunde.
Dieter schrieb:
Ferner hat er uns informiert über Attila und seine Ehe mit der Germanin Ildico, die man durchaus mit der "Kriemhild" des Nibelungenliedes identifizieren könnte.
Umgekehrt: Er hat uns über Kriemhild informiert, die man an Hand anderer (seriöser) Quellen mit Ildico identifizieren konnte.
Dieter schrieb:
Das alles sind Tatbestände, die ich für sehr beeindruckend halte, auch wenn möglichwerweise das höfische Epos an ganz anderen Aussagen interessiert war.
Tut mir leid, aber ich kann das aus 2 Gründen nicht nachvollziehen: 1. Selbstverständlich gab es im 12. Jh. Aufzeichnungen über die Vergangenheit, Annalen usw., die am Kaiserhof vorhanden waren, aber später verloren gingen. Dass einer am Hofe des Kaisers die dort vorhandene Literatur gelesen hat, ist nun so erstaunlich nicht. 2. Und wenn - was ist das mehr als das erstaunte Offenstehen eines Mundes?
Dieter schrieb:
Was nun Parallelen zur fränkischen Reichsgeschichte angeht, so kann ich mir solche Parallelen durchaus vorstellen. Ich kann mir z.B. vorstellen, dass bewusster Siegfried der Sohn eines fränkischen Kleinkönigs war, der als junger "Schlagetot" am Hof des Gundahar ...
Das halte ich für ganz unwahrscheinlich, dass so ein kleiner Spund eine solche tragende Rolle in einem solchen Epos erhält.
Allerdings bin ich dagegen, das Nibelungenlied gleich als Schlüsselroman zu betrachten: Konstanze von Sizilien = Brünhild, Siegfried = junger Schlagetot am Hof eines fränkischen Kleinkönigs usw. Das ist sicher falsch. Aber man kann sehr wohl Elemente von bedeutenden historischen Figuren ausmachen, die in die Sigfriedgestalt eingeflossen sind. So scheint mir eine Inspirationsquelle für die Formung der Siegfriedgestalt die Vita des Richard Löwenherz gewesen zu sein.
Dass Siegfried über die Kleidermode Brünhildes Bescheid wusste, ist ein Anklang an die Tatsache, dass Richard Löwenherz bereits vor Heinrich VI., nämlich 1191 in Sizilien bei seiner Schwester Johanna zu Besuch war und die dortige Pracht gesehen hatte.
Die Stärke Brünhilds und die Schwäche Gunthers findet eine Parallele in Konstanzes Ehe mit König Heinrich. Sie war 11 Jahre älter als Heinrich und stand ihm zeitweise sogar feindlich gegenüber. Ihr Sohn wurde erst 8 Jahre nach der Hochzeit beim Italienzug Heinrichs 1194 geboren. Dieser Zug wurde von der Lösegeldsumme des Richard Löwenherz finanziert.
Das selbstbewusste Auftreten Brünhilds gegenüber Gunther erinnert daran, dass Konstanze selbstbewusste Regentin des Königreichs Sizilien war, wo sie aus eigener Machtvollkommenheit ohne Kaiser nur auf Grund ihres Erbrechts geurkundet hat.
Siegfried geht ja zurück ins Land der Nibelungen und bietet dort 1000 Ritter auf. So reich ist er, wie die Handschrift C betont, durch der Nibelunge Hort. Also kein "junger Schlagetot". Das passt eher zu der zeitgenössischen Auffassung von Richard Löwenherz, der den Zeitgenossen unermesslich reich vorkam, einerseits aus dem Königreich England, andererseit von seinen Besitzungen in Frankreich (Aquitanien, Normandie) und sein Einfluss in Brabant und Sachsen. Aber der Dichter behält auch hier seine dichterische Freiheit gegenüber seiner Figur: Siegfried stirbt durch einen Speer, Richard durch einen Pfeil. Der Verfasser der ersten Bilderhandschrift des 15. Jh. lässt Siegfried allerdings durch einen Pfeilschuss sterben. Der wusste wohl noch besser Bescheid! (Das Nibelungenlied in spätmittelalterlichen Illustratioenen. Die 37 Bildseiten des Hundeshagenschen Codex. Bozen 1983.).
Aber die Sensation war ja damals die Gefangennahme des englischen Königs Richard bei seiner Rückkehr von seiner Kreuzfahrt. Das konnte keinen Dichter kalt lassen. Es gibt eine bildliche Darstellung dieses Ereignisses mit erläuterndem Text aus Sizilien 1195 (Petrus Ebulo, Liber ad honorem Augusti sive derebus Siculis..., Sigmaringen 1994). Gezeigt wird die Gefangennahme Richards und seine Auseinandersetzung mit Kaiser Heinrch VI. Richard trägt zur Tarnung über seiner Rüstung einen Mantel mit Cappa (die in der Tarnkappe ihre Entsprechung findet), dazu einen Köcher voller Pfeile, und er trägt das Schwert in der Hand. Auf dem Pilgermantel ist ein kleines Kreuz aufgenäht, das ihn als Kreuzfahrer ausweist. Das entspricht dem Kreuz, das Kriemhild auf den Rat Hagens hin auf den Mantel Siegfrieds näht: Es ist das zeichen der Verwundbarkeit und des nahen Todes. Das ist aber nicht die Absicht der Kriemhild. Sie wählt es als Schutz. Beides zu vereinen war schon immer schwierig. Denn eigentlich vordergründig ist das Verhalten schlicht dämlich. Denn ohne dieses Zeichen hätte niemand genau diese (unbekannte) Stelle treffen können. Aber in der politischen Situation des 12. Jh. war das aufgenähte Kreuz durchaus gleichzeitig Schutz- und Todeszeichen. Denn ein Kreuzzug war kein Spaziergang! Aber die Besonderheit, dass er nicht durch einen Feind, sondern durch einen Gefährten den Todesstoß erhält, erfährt eine gewisse Parallele darin, dass Richards Mitstreiter Herzog Leopold VI. von Österreich seine Gefangennahme und Auslieferung an Heinrich VI. bewirkt.
Bezüge gibt es im Nibelungenlied zu Richard Löwenherz mehrere: Siegfrieds Zweikampfforderung, sein einjähriger müßiger Aufenthalt in Worms, sein unklarer Status als König und Lehnsmann, seine Liebesheirat, der kurzfristig abgeblasene Zug gegen die Sachsen und der Transport des Nibelungenhortes nach Worms. Letzteres ist wohl der gewaltige normannische Schatz, den Heinrich der VI. 1194 nach seinem Zug nach Sizilien auf den Trifels bringen ließ, darunter auch die Reichskleinodien.
Dieser Schatztransport und die Beschreibung der Krone im Lied hat mannigfache Bezüge zu diesem historischen Ereignis.
Das 5. und 6. Jh. tritt nur ganz rudimentär in Erscheinung. Nicht mal Nibelungen gab's da! Die Haupthandlung ist vollgestopft mit Bezügen zu Personen und Ereignissen des 12. Jh.