Eugenik [...]
Angefangen hat es mit Linné und populär wurde es durch Darwin.
Mir fällt es nach Recherche gerade schwer, dir bereits in der Einleitung zu folgen: Bei Wikipedia zum Stichwort wird Carl von Linnée nicht unter den Vordenkern aufgeführt (
Eugenik ? Wikipedia), obzwar er wohl auch eine Art Rassentheorie entwarf:
Rassentheorie ? Wikipedia. Aber daß VonLinnée deswegen eine eugenische oder zunächst sozialdarwinistische Denkweise vertritt, halte ich für kurzschlüssig und anachronistisch. Rassistische Theorien mögen älter sein, aber Eugenik definiert sich durch Maßnahmen zur "Erhaltung & Verbesserung der Erbanlagen einer bestimmten Fortpflanzugsgemeinschaft" (Monika Löscher, S.221).*
Und auch wenn in "Sozialdarwinismus" der Name des als für die Evolutionstheorie bedeutenden Charles Darwin steckt, so habe ich mich persönlich noch nicht so sehr davon überzeugen können, daß Darwins Theorie einen Sozialdarwinismus nahelegen muß (vgl.
Sozialdarwinismus ? Wikipedia).
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Vorreiter der Vernichtung?: Eugenik, Rassenhygiene und Euthanasie in der ... - Google Books
Zunächst fand es Anwendung in der Kriminologie (da gab es bspw. das Museum von Cesare Lombroso), jedoch wurde der Wunsch der Wissenschaftler aus aller Welt immer stärker, den Lauf der Evolution mit den sozialen Entwicklungen zu synchronisieren. Die damaligen Genetiker waren der Auffassung, dass man den Eingriff in die Natur, die Stärkung der Schwachen (darunter kann man z.B. medizinische Errungenschaften, aber auch helfende Toleranz für geistig Behinderte verstehen), wieder durch "soziale" Maßnahmen (deswegen Sozialdarwinismus) zu "korrigieren".
Der Hinweis auf die Kriminologie ist durchaus weiterführend. In einer historischen Anthologie zum Borderlinesyndrom bin ich auf folgende Bemerkung gestoßen: "Lombroso (1870) found it useful to describe certain cases of criminality as occupying the border between madness & normality, since the idea of considering a criminal to be normal, simply because he was not delusional, was repugnant to Lombroso" (Michael Stone, 1986, pg.5 f) - es mag abstoßend (repugnant) erscheinen, aber Tatsache ist wohl, daß Kriminalität letztlich ein Problem der Legalität ist und diese nicht immer konform mit Normen verlaufen; mögen Gesetze auch Normativität explizieren, so ist mindestens soziohistorisch betrachtet doch immer eine gewisse Ungleichzeitigkeit zu berücksichtigen. Das Zitat von Caesare Lombroso aus dem 19. Jh. markiert in gewisser Weise die Medikalisierung dieses Problems, wenn mit ihm die konzeptuelle Einführung der Vorstellung des "geborenen Kriminellen" verbunden werden kann (z. B. Richard Wetzell, 2009, S.275). Solche Auffassungen zur Soziopathologie fanden auch außerhalb Deutschlands anklang.
Michael H. Stone,
Essential Papers on Borderline Disorders: One Hundred Years at the BorderState. University of New York Press, 1986
R. Wetzell, Psychiatry & Criminal Justice in Modern Germany, 1980-1933.
Journal of European Studies 39 (2009),pp.270-289
In den '20er Jahren fingen die ersten Politisierungen, in Form von neuen Arbeitsmethoden in der Krimologie an; Verurteilte wurden akribisch auf ihre somatischen Eigenschaften hin vermessen und eingerastert.
Die Genetiker-Kongresse in Edinburgh zeigen sehr deutlich, dass diese Ideologien alles andere als "typisch Deutsch" oder "typisch Nazis" sind/waren. Es war vor allem der damalige Geist der Naturwissenschaften.
Das, was die Nazis mit der Eugenik bzw. dem Sozialdarwinismus anstellten, gefiel den anderen Ländern.
Welchen Kongreß meinst du? Ich finde Informationen zu einem 7. Internationalen Kongreß in Edinburgh für 1939 (
Eine kurze Geschichte der Genetik - Rolf Knippers - Google Books) oder ansonsten über einen Kongreß "für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik" in Berlin von 1927 (ebd., S.52). Du meinst wahrscheinlich erst genannten, wo ein Manifest veröffentlicht wurde:
Trug die Evolutionstheorie zur NS-Ideologie bei? | hpd
Es wäre aber verharmlosend, die Tatsache der rassenhygienischen Maßnahmen, die in Dritten Reich erfolgten, herunterzuspielen.
Die deutsche Psychiatrie arbeite durchaus der Eugenik zu:
So war ich kürzlich auf die Arbeit von Charlotte Junk gestoßen, die nicht nur Verbindungslinien von Kraeplins Lehrbuch "Rassenhygiene" als unübersehbar ansieht (S.65). Sie referiert auch wenig bekannte Hintergrundinformationen über eine nationalsozialistische Maßnahme direkt im Anfang der 1940er Jahre zur "T4" genannten Eutanasiezentrale, die in kürzester Zeit das Ziel ihrer Tötungskapazität von 70 tausend lebenunwerten Belastungsexistenzen (in sozialhygienischer Terminologie formuliert) erreichte (S.70), deren Effizienz fast als vorbereitende Voraussetzung für die Beschlüsse der Wannseekonferenz zum eliminativen Antisemitismus angesehen werden könnten. Tatsächlich entnehme ich Charlotte Jung die an späterer Stelle (S.74) nicht näher ausgeführte Information, daß Kurt Schneider bis 1945 im "Geheimauftrag der SS" arbeitete und der den Lehrstuhl der Heidelberger Uniklinik "erbte", nach dem sein Lehrer Carl Schneider, wiederum Obergutachter des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms, nach WK II sich in Haft umgebracht hatte.
http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2006/2711/pdf/JurkCharlotte-2006-02-13.pdf - Dissertation (2005)
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Deine Rede zum "neuen Zeitalter der Eugenik" fällt in die Zeitgeschichte und ist kein Diskussinsthema in diesem Forum, auch wenn sich darauf hinweisen läßt, daß bioethische Theorien oder Soziobiologie durchaus in sozialdarwinistischer Tradition stehen dürften. Aber was du schreibst klingt doch sehr nach meinungspolitischem Statement ohne historische Perspektive.