Da ich erst jetzt auf diesen Thread gestoßen bin ...
Zunächst:
der Mensch ist ein Gemeinschafts- oder Sozialwesen. Allerdings ist dieser Gemeinschaft immer auch eine Differenzierung zwischen "wir" und "die anderen" inhärent.
Auf welchen Kriterien diese Abgrenzung beruht, ist sehr unterschiedlich.
- Das können beispielsweise religiöse Kriterien sein (wir Christen gegen die anderen vom Islam, orthodox vrs. katholisch, katholisch vrs. evangelisch - 30jähriger Krieg - oder auch Sunniten gegen Schiiten). Wie sehr religiöse Gemeinsamkeiten auch heute noch zur Abgrenzung dienen und (trotz gemeinsamer Sprache) zur eigenen Staatenbildung führen, konnten wir beim Zerfall Jugoslawiens beobachten.
- Das können übernationale Zugehörigkeiten zu einem Herrscherhaus sein (Österreich-Ungarische Donaumonarchie),
- das können Sportgemeinschaften sein (Fußballfans verschiedener Clubs) oder auch
- sprachliche Gemeinsamkeiten (wobei im Fall "deutsch" dann Österreich und die Schweiz trotz der sprachlichen Nähe wieder zu "den anderen" gehören) .
- Das "wir" ist etwa bei den Chinesen nicht durch eine gemeinsame Sprache bedingt (die unterschiedlichen Dialekte haben sich so weit auseinander entwickelt, dass sich etwa Nord- und Südchinesen nicht mehr verständigen können, dazu kommen anders sprachliche Völker insbesondere im Süden Chinas) sondern durch eine gemeinsame kulturelle Identität.
- Ähnliches entwickelt sich auf europäischer Ebene - "wir Europäer" teilen trotz unterschiedlicher Sprachzugehörigkeit eine gemeinsame kulturelle Entwicklung (man erinnere sich nur an die Stilrichtungen im Kirchenbau), gemeinsame Werte wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die sich in der französischen Revolution etabliert haben, und grenzen uns damit von autokratischen Regimen oder autoritären Regierungen ab.
Konkret:
Für Deutschland und die Deutschen möchte ich das "wir Deutsche" erst mit der Vereinigung unter Bismarck beginnen lassen. Vorher waren es primär z.B. Badener, Bayern oder Preußen, Österreicher die sich untereinander als "Einheit" verstanden (und in Bayern dann auch noch die katholischen Altbayern - mia san mia - gegen die protestantischen Franken).
Diese Gemengelage ist dann nach der Teilung Polens z.B. auch im preußischen Kulturkampf (protestantische Preußen gegen katholische Polen) kumuliert. In dieser Zeit hat sich bei uns langsam die Sprache als verbindendes "wir" durchgesetzt.
Ähnlich ist das in den Nationalstaaten wie Ungarn, Polen, Tschechien oder der Slowakei, die ihre nationale Identität nach Jahrzehnten der "Fremdherrschaft" über die gemeinsame Sprache definieren und sich damit auch von anderen europäischen Völkern abgrenzen.
Das ist auch kein Wunder - der Mensch "denkt in Sprache". Gedanken und Ideen, auch Gemeinsamkeiten und Verbindendes, lassen sich über die Sprache kommunizieren.
Unterschiedlicher Entwicklungsstand:
In anderen Ethnien ist diese sprachlich basierende "Wir-Findung" erst in unterschiedlichen Stadien des Entstehens. Ich denke z.B. an die Araber, die nach Jahrzehnten der Unterbrechung jetzt wieder die eigene "Identität" gegen die türkische Intervention (Libyen, Syrien, Irak) entdecken und entwickeln - oder, weil wir gerade bei der Türkei sind, an die Ansätze einer gemeinsamen "turanischen" Identität der turksprachigen Bevölkerung bis nach Zentralasien.
Anderswo ist trotz sprachlicher Gemeinsamkeit diese "wir-Identität" (wie bei uns vor Bismarck) auf den jeweiligen Staat beschränkt (Kolumbien vrs. Venezuela) - oder wie in Afrika im Zuge der kolonialen Grenzziehung völlig konfus. Das "wir" beschränkt sich dort vielfach auf Stammeszugehörigkeiten, die aber quer durch mehrere Staaten verlaufen.