Theatergeschichte: wann verschwand die barocke Gestik?

Cécile

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Hallo zusammen,

neulich habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wann wohl die barocke Gestik aus den Theatern verschwunden ist...
Unter barocker Gestik (ich weiß nicht ob das der korrekte Fachbegriff ist) verstehe ich die dogmatisierte und sehr theatralische Form der Gestik, wie sie im 17./18. Jahrhundert auf den Bühnen im Gebrach war. Es gibt Lehrbücher aus der Zeit in denen man nachlesen kann, wie stark die Ausdrucksformen der Schauspieler reglementiert waren.

Irgendwann scheint diese Praxis aber verschwunden zu sein und machte einer "natürlicheren" Art des Schauspielerns platz, ich denke mal im 19.Jh.. Aber gab es dazu einen konkreten Anlass? Einen Theaterreformer der damit Schluss machen wollte? Oder war es ein schleichender Prozess??
Hat jemand von euch Infos zu diesem Thema?

Liebe Grüße
Cécile
 
Die barocke Prägung der Theater - also Schauspiel, Oper und Ballett - geht mit der Aufklärung und dem Erstarken des Bürgertums zu Ende. Die bürgerliche Theaterkultur emanzipiert sich vom Feudalismus und es gibt bei Lessing und anderen Autoren erstmals bürgerliche Schauspiele mit Protagonisten aus dem Bürgertum. Statt deklamierender und vortragender Schauspieler wird nun eher ein Schauspielertyp verlangt, der Charaktere empfindsam und natürlich spielt und auch psychologische Ebenen zu treffen weiß.

Man kann also sagen, dass mit Lessing und den Dramatikern der Weimarer Klassik ein neues Theaterkapitel aufgeschlagen wird und ein neues Verständnis dessen entsteht, was ein Schauspieler darstellen und verkörpern soll.

Allerdings ist hinzuzufügen, dass Schauspieler wie der 1858 geborene Josef Kainz und andere nach ihm in unseren Ohren sehr fremd klingen und eine Deklamationstechnik haben, die heute eher zum Spott herausfordern würde. Der private Ton, wie er heute an Schauspielschulen gelehrt wird, wäre noch bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs auf völliges Unverständnis gestoßen.
 
@ Dieter
Heißt, Du kennst auch keinen genauen Zeitpunkt dieses "Bruches"?

Ich muss mal nachschlagen, glaube aber schon von einem Buch zur Schauspielerei aus der Zeit Goethes gelesen zu haben, welches hinsichtlich der Gestik noch so ziemlich in der Formensprache der barocken Gestik verhaftet war. Daher war ich auch schon irritiert, weil ich auch gedacht hätte, dass diese im 18.Jh. ersetzt worden war.

Vielleicht gab es aber auch eine Zeit des fließenden Überganges.

Gibt es heute authentisch inszenierte Aufführungen der Schillerzeit, welche einen Eindruck der damaligen Schauspielkunst liefern? Ich kenne sowas derzeit nur von Stücken der Französischen Klassik (Molière).
 
@ Dieter
Heißt, Du kennst auch keinen genauen Zeitpunkt dieses "Bruches"?

Es gibt keinen Bruch zwischen dem barocken und dem frühbürgerlichen Theater, sondern - wie du schon sagtest - einen fließenden Übergang. Er erfolgt etwa in der Zeit zwischen 1780 und 1820, wobei die Epoche der Französischen Revolution als Beschleuniger wirkt.

Im allgemeinen wird speziell für das Schauspiel in Deutschland die Weimarer Klassik als Schnittstelle betrachtet, die den barocken Kosmos vom bürgerlichen Drama und Lustspiel trennt.
 
Ich würde hier mit dem Sturm und Drang einsetzen (etwa von 1767 bis 1785 ). Hier wurden doch alle Konventionen gebrochen, bevor sich die Klassiker in edler Einfalt und stiller Größe erschöpften.
 
Ich würde hier mit dem Sturm und Drang einsetzen (etwa von 1767 bis 1785 ). Hier wurden doch alle Konventionen gebrochen, bevor sich die Klassiker in edler Einfalt und stiller Größe erschöpften.

Vielfach werden Lessings "Miss Sara Sampson" (1755) als erstes bürgerliches Trauerspiel und "Emilia Galotti" (1772) als Vorläufer angeführt, doch geht es bei der Ausgangsfrage vor allem um darstellerische Veränderungen bei den Schauspielern im Gegensatz zum Barocktheater und das brauchte eine gewisse Übergangszeit. Während die einen noch dem alten Stil verhaftet waren, probierten andere bereits neue darstellerische Formen.

Es ist genau wie heute, wo wir ähnliche Experimente erleben; damals änderte sich freilich etwas ganz Grundsätzliches auch im Selbstverständnis der Schauspieler, ihrem Fühlen und Denken, das zu einer anderen Mentalität und Innerlichkeit führte.
 
"Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufgeschlagen."
Goethe, Werther
 
@ Mercy

Hatte jetzt mal das bisschen zusammengetragen, was ich daheim finden konnte.

Es scheint zwei Hauptquellen für die "barocke Darstellungskunst" zu geben:
Franziskus Lang: "Dissertatio de actione scenica" von 1727
und
Gilbert Austin: "Chironomia" von 1806.

Die Ausführungen Goethes in seinen "Regeln für Schauspieler" von 1803, fand ich leider nicht arg präzise.

"Bis weit in das 19.Jahrhundert hinein, bis zum Aufkommen des Naturalismus blieb die ebenso klare wie ästhetische Art des Bühnenschauspiels unangefochtene Grundlage des Theaterspiels."
erwähnt Nils Niemann (Regisseur).
 
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