Untergang des Römischen Reiches 306,800 oder doch 1917 ;)

Spät, aber immerhin. Das Jahr 711 hat auf den ersten Blick gar nichts mit dem Untergang des Römischen Reiches zu tun. Beim Überlegen kam ich auf folgendes:

Der Westgotenstaat war ein direkter Nachfolger mit spätantiken Traditionen des ehemaligen Weströmischen Reiches. Bis König Eurich wurde ja auch der Foedus mit dem Kaiser immer wieder erneuert. Die westgotische Verwaltungspraxis war ungleich enger an die vorgefundene römische Verwaltung ausgerichtet als alle späteren „Nachfolgestaaten“ des RR im Norden – insbesondere des fränkischen Reiches! Das westgotische Königtum fußte auf der Königserhebung durch das Heer, wie einst als römische Foederaten. Eine alles dominierende Dynastie und ein unbeugsamer Hochadel (wie die Merowinger bei den Franken) hatte sich nie ausgeprägt, eine Erblichkeit des Königstitels hielt sich immer nur kurze Zeit!

Auch waren die Gebiete des Gotenreichs niemals derart verheert worden wie während des römischen Untergangs etwa Gallien oder bei Justinians „Reconquista“ von Italien. Das „römische“ im Gotenreich konnte weiter bestehen und wachsen. Römisch/Antike Bildung hielt sich im Hispanien der Goten am Leben. Auch religiös gingen sie noch eine Weile einen Sonderweg, da das herrschende „Staatsvolk“ der Goten lange am arianischen Christentum hingen. Letztlich konvertierten die Goten auch offiziell zum Katholizismus und etablierten eine „Sonderkirche“ mit erheblichem Einfluß in ihrem Reich. Sie anerkannten zwar den Papst in Rom, doch hatten sie eine eigene Reichskirche. Diese Reichskirche wurde im Gegensatz zu der merowingisch-fränkischen Reichskirche im Norden aber ziemlich dominant im Reiche mit sehr viel Einfluß, auch auf die Könige und die Königswahl. Dabei trauten sich die Päpste lange Zeit nicht sich hier allzu direkt einzumischen, während die fränkische Reichskirche verkümmerte und nicht in der Lage war das fränkische Reich zu einem wirklich christlichen Reich zu machen indem sie erfolgreich missionierte. Erst nach dem Untergang der Westgoten gelang es den Päpsten die innerlich hohl gewordene fränkische Reichskirche, die auf die Person des Königs zugeschnitten war durch angelsächsische Mission und Benediktinermönche wirklich auf päpstlichen Kurs einzuschwören.

Aus dem maurisch gewordenen Spanien aber flüchteten zahlreiche, immer noch auf spätantik/christlicher Basis fußende Personen auch nach Rom. Spätantike Literatur war im gotischen Spanien noch vorhanden. Nicht die Mauren brachten all die vielen antike Bücher nach Toledo, sie fanden sie vermutlich überwiegend dort vor! Übersetzt ins Arabische und schließlich von den Schreibschulen Toledos, der alten westgotischen Königsstadt, ins Lateinische rückübersetzt gewann antike Bildung wieder Einfluss im christlichen Europa.

In mancher Beziehung war das westgotische Reich wie eine in Bernstein eingeschlossene Kostbarkeit der Spätantike. Sie lebten mit diesem Erbe ohne es sonderlich publik zu machen oder ihm gar eine besondere Bedeutung zuzumessen. Die maurischen Araber zerbrachen diesen Bernstein und erst so sollte er wieder eine Wirkung entfalten können. Fast wirkt es als ob die Spätantike in vielen Bereichen im Westgotenreich nur darauf gewartet hätte wieder erweckt zu werden. Sie wurde nicht von den Mauren erweckt, sondern entfaltete eine eigene Wirkung im Wechselspiel zwischen den Ideen und Ansichten des mittelalterlich/christlichen Europas und dem Islam zwischen arabischer Expansion und Reconquista mit dem endgültigen Aufstieg des Papsttums im Westen. Nur ohne die Sonderkirchen der Westgoten und Franken konnte sich der päpstliche, universelle Anspruch im christlichen Westeuropa zu einer der bedeutendsten Wirkungsmächte des Mittelalters entwickeln.
Im Bezug auf die Fragestellung zum Untergang des Römischen Reiches würde ich die Bedeutung des Jahres 711 nicht allzu hoch ansetzen. Mag sein das sich das christliche Europa einmal mehr konfrontiert mit islamischer Eroberung wieder auf das Erbe des Römischen Reiches besann, das von ihm bewahrt und vertreten wurde. Die römisch-päpstliche Kirche wurde zur „Universellen Kirche“ des Mittelalters. Was lag also näher als den römischen Papst endlich in gewisse Traditionen römischer Kaiser hineinwachsen zu lassen? Wie einst römische Kaiser die Könige foederierter Völker bestätigten, übernahm diese Rolle bald genug die katholische Kirche indem das fränkische Königtum der Merowinger – basierend auf halb heidnischen Vorstellungen vom Königsheil, der Dynastie und der Macht – durch das Königtum der Karolinger ersetzt wurde. So wie einst römische Kaiser durch Anerkennung oder Verweigerung germanische Könige stützen oder schwächen konnten. Ebenso wurde damit der Boden bereitet für die Kaiserkrönung des Franken Karl d. Gr. im Jahre 800 bei dem das Papsttum wieder eine entscheidende Rolle spielte. Das römische Erbe war spätestens von da an fast eine Art von Monopol für die katholische Kirche des Mittelalters geworden. Gut vorstellbar, das der Widerstand christlicher Herrschaften in Nordspanien (die sich auf gotische Wurzeln beriefen) und flüchtendes Volk („Goten“ nach Septimanien in Südfrankreich) und katholischen Klerus nach dem Frankenreich (auch nach Rom?) dem Papst nicht nur Ansehen, sondern auch personelle und geistliche Mittel zur Verfügung stellten die Bedeutung des Papsttums auf diese Weise zu stärken? Man bedenke auch die 4 Konzilien in Toledo zwischen den Jahren 400 und 684, welche auch auf der Stärke der iberischen – und später westgotischen Kirche zurückzuführen ist. Besonders Isidor von Sevilla betrieb intensiv den engen Schulterschluss der Kirche im westgotischen Reich mit dem Papst in Rom und die Einrichtung von Domschulen. Bei diesem Konzil (633) wurden die bischöflichen Insignien verbindlich festgelegt und Isidor verkündete die Einheit von Kirche und Reich: Beides Grundfesten der Herrschaft im späteren Heiligen Römischen Reich!
 
Das Jahr 1917 als Zeitpunkt des Untergangs des Römischen Reiches zu bestimmen scheint mir jedenfalls, mit Verlaub gesagt, absurd zu sein.

Möglicherweise hat manch ein Zar davon geträumt in der Tradition Roms zu stehen, dies wäre dann aber eben nur ein Wunschtraum, oder ein vorgeschobenes Argument für den Machtanspruch gewesen.

Russland hat weder kulturell noch geographisch, sondern höchstens in der Religion einen Bezug zum Römischen Reich. Hier ein "Drittes Rom" zu sehen ist wohl eher eine künstliche Definition, als eine historisch ableitbare Tatsache. Meines Erachtens ist es daher auch unangebracht.

Russland verfügt über eine eigene faszinierende Kultur und braucht sich nicht unter einen römischen Scheffel zu stellen.
Ich kenne auch keinen Russen (und ein paar kenne ich) die sich als Nachkommen von Rom betrachten.

Nur weil sich der Titel des Zaren (so wie z.B. auch der Titel des Kaiser) vom Begriff "Cäsar" ableitet, sollte kein Zusammenhang erstellt werden.

Wäre die Nachfolge Roms derart leicht zu begründen, wieviele Nachfolgestaaten des Römischen Reiches müßte es da geben?
 
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