Verschwörungstheorien im MA und früher Neuzeit

fingalo

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Einen ersten Markstein bilden die Verschwörungsvorwürfe gegen Juden. Als im Jahre 1009 der Kalif AI Hakim das Heilige Grab in Jerusalem und viele Kirchen im Heiligen Land zerstörte, eilte das Gerücht durch Europa, die Juden hätten sich bei diesen Untaten mit dem Kalifen verschworen. Folge waren die antijüdischen Pogrome des Jahres 1010, ein Wendepunkt auf dem Weg zum modernen Antisemitismus. 1161 beschuldigte man in Böhmen jüdische Ärzte, sich verschworen zu haben, um die dortige christliche Bevölkerung zu vergiften. Seit dem 12. Jahrhundert verband sich das Verschwörungsmotiv gegen Juden mit Ritualmordbeschuldigungen. 1241 schließlich ging das Gerücht um, die Juden hätten sich mit den nach Europa einfallenden Mongolen verbündet.
Die propagandistische Bekämpfung von Häretikern geht auf die Kirchenväter zurück und fand im 12. und 13. Jahrhundert in der Verfolgung der katharischen Gegenkirche einen vorläufigen Höhepunkt. Mit der Bulle Vox in rama Papst Gregors IX. von 1233 nahm der Typus des unzüchtigen, idolatrischen Häretikers als festes Stereotyp der inquisitorischen Ketzerverfolgung seinen Anfang. Größere Ketzerbewegungen wurden fortan nicht mehr allein als religiöse Abweichler vom rechten Glauben, sondern vorrangig als eine Sekte ruchloser Teufelsdiener betrachtet, die sich gegen Gott, Kirche und Gesellschaft „verschworen" hatte, um die Christenheit zu unterwandern und zu vernichten.
Die zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen des 14. Jahrhunderts führten zu einer massiven Verschärfung der Propaganda mit Hilfe von Verschwörungstheorien. Als der französische König Philipp der Schöne im Zusammenspiel mit dem in Avignon residierenden Papst Clemens V. und der Inquisition in den Jahren 1307 bis 1314 den Templerorden vernichtete, bediente er sich dabei nicht zuletzt des Vorwurfs einer geheimen, diabolischen Verschwörung. Die politischen Prozesse Papst Johannes XXII. gegen Kleriker und Laien an seiner Kurie sahen die Angeklagten nicht nur als Teufelsdiener, Dämonenanbeter, Wahrsager und Zauberer, sondern auch als „Feinde des Gemeinwohls" (communis salutis hostes) und „Feinde des Menschengeschlechts" (humani generis inimicos). Solche Anhänger der Dämonen (sectatores daemonum) würden die Glaubensgemeinschaft und die Gesellschaft gleichsam mit einer Seuche (pestis) anstecken (inficere) und ein Bündnis mit dem Tod (cum morte foedus) eingehen, so die aussagekräftigen Formulierungen zweier Bullen dieses Papstes von 1318 und 1320. Zur selben Zeit kam es in Frankreich aufgrund von Verschwörungstheorien zu heftigen Reaktionen der Obrigkeit, die pogromartige Züge annahmen: 1321 gegen die - angeblich auf Anstiftung der Araber agierenden -Aussätzigen, 1358 gegen die - wie es hieß, von flandrischen Emissären angestifteten - aufständischen Bauern und 1390 gegen die Bettler. Die europäischen Judenpogrome in den Jahren 1348 - 1350 beruhten auf dem weit verbreiteten Gerücht, die Juden hätten durch Brunnenvergiftung den Ausbruch der Pest verursacht. Ihr Ziel sei die Ausrottung der gesamten Christenheit.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die mittelalterlichen Verschwörungstheorien entstanden im Umfeld der Bekämpfung religiöser Abweichung. Sie waren noch relativ einfach strukturiert und auf fest umrissene Gruppen (Ketzer und Juden) beschränkt. Mit der krisenhaften Verschärfung äußerer und innerer Spannungen im 14. Jahrhundert wurden Verschwörungstheorien zunehmend politisch instrumentalisiert. Nun kamen auch andere gesellschaftliche Randgruppen (Bettler und Aussätzige) und Aufständische als „Verschwörer" in Frage. Ihnen wurde zudem in überraschend vielen Fällen unterstellt, in Verbindung mit äußeren Feinden zu handeln.
Seit dem Beginn des 15. Jahrhunderts lassen sich die genannten phantasmagorischen Feindbildkonstruktionen und Verschwörungstheorien in nochmals gesteigerter Qualität nachweisen. Bislang getrennte Feindbilder wurden, besonders auch von Universitätstheologen und gelehrten Mönchen, zu ganzen Ketten von Verschwörergruppen miteinander verbunden:
- Die Akten der theologischen Fakultät der Universität Wien sprechen zum 9. Juni 1419 von einem Bündnis der Juden, Hussiten und Waldenser (confoederatio ludaeorum etHusitarum ac Waldensium) gegen den wahren Glauben.
- In der thüringischen Stadt Triptis lastete man 1433 eine durch Schneeschmelze ausgelöste Überschwemmung der Felder gleichermaßen Juden, Tataren (also Zigeunern), Zauberern, Scharfrichtern und Abdeckern an.
- Der spanische Franziskaner Alphonsus de Spina beschrieb 1459 in seinem Buch „Die Festung des Glaubens“ (Fortalitium Fidei) den gemeinsamen Angriff von Türken, Mauren, Juden, Häretikern, Zauberern und Hexen auf die Kirche Gottes. In Spanien diente in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine angebliche Verschwörung der bekehrten Juden und Mauren, der „conversos" und „marranos", als Vorwand für deren Ausrottung und Vertreibung.
- Der Sponheimer Abt Johannes Trithemius sah das Christentum im Entwurf zu seiner unvollendeten Schrift De daemonibus vom Beginn des 16. Jahrhunderts in einer doppelten Gefahr: von außen durch die Türken bedroht, von innen durch das Anwachsen des Bösen in Gestalt von Aberglauben und Zauberei. Die Kirche müsse sich vor diesem Teufels- und Dämonenwerk schützen, das auf Erden von den Schülern der Dämonen, den Astrologen und Zauberern, betrieben werde. Deren Untaten sollten der Menschheit zur Warnung gereichen.
Die für die Wiener Universität um 1420 festgestellte „Belagerungsmentalität" ihrer Gelehrten dürfte auf große Teile der geistigen Elite der Epoche zutreffen. Predigten wie die des dominikanischen Wanderpredigers Vincente Ferrer säten Ängste und Aggressionen in der Bevölkerung. Mit Recht ist deshalb in der Forschung von einem „Katechismus der Furcht" gesprochen worden. Apokalyptisches Denken, genauer die nahe Erwartung des Antichrist, führte im 15. und 16. Jahrhundert unter den Gelehrten zu einer Verdüsterung des Weltbildes.

Lit.: Werner Tschacher, Vom Feindbild zur Verschwörungstheorie.
In: Ute Caumanns / Mathias Niendorf (Hrg.), Verschwörungstheorien (Osnabrück 2001)

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