Volkswirtschaften im Krieg: Russland und das Deutsche Reich

Clemens64

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Ich weiß jetzt nicht, ob das hier auf Interesse stößt: Die russische Wirtschaft erweist sich seit Beginn des Überfalls als überraschend robust. Seit Mitte 2022 scheint sie sogar wieder zu expandieren (siehe Abbildung unten, das erste Mal, dass ich versuche, eine in einen Beitrag einzubauen). Wahrscheinlich sind die Zahlen der russischen Statistikbehörde geschönt, aber sie sind wohl nicht ganz falsch. Dazu könnte man noch einiges sagen, aber hier möchte ich einen Vergleich aufmachen: Das Bruttoinlandsprodukt im Deutschen Reich hat in der ersten Phase des Zweiten Weltkriegs sogar stark zugelegt (zweite Abbildung, das sind nachträgliche Schätzungen). Der Vergleich tut natürlich das, was alle tun, er hinkt, aber ein bisschen erleichtert er vielleicht doch das Verständnis: Für beide Volkswirtschaften wurde mit Kriegsbeginn der Großteil ihrer außenwirtschaftlichen Beziehungen gekappt, sie konnten das aber ganz gut verkraften, zum einen weil das Deutsche Reich die Ressourcen der besetzten Gebiete ausbeuten konnte und Russland seinen Handel mit anderen Ländern, vor allem China und Indien, ausbaut. Zum anderen waren bzw. sind das zwei relativ große Volkswirtschaften in dem Sinn, dass sie weniger auf Arbeitsteilung mit dem Ausland angewiesen sind als andere Länder.
Was die zweite Abbildung aber auch zeigt: Der private Konsum ging in Deutschland mit Kriegsbeginn sehr wohl deutlich zurück. Das Bruttoinlandsprodukt stieg wohl aufgrund massiver Steigerungen von Waffenproduktion und Investitionen in Produktionsstätten. Ich finde es aber schon erstaunlich, dass das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt im Deutschen Reich aus dem Jahr 1943 in Westdeutschland erst wieder Anfang der 60er Jahre erreicht wurde.
 

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Für beide Volkswirtschaften wurde mit Kriegsbeginn der Großteil ihrer außenwirtschaftlichen Beziehungen gekappt, sie konnten das aber ganz gut verkraften, zum einen weil das Deutsche Reich die Ressourcen der besetzten Gebiete ausbeuten konnte und Russland seinen Handel mit anderen Ländern, vor allem China und Indien, ausbaut.

Was Deutschland betrifft, wurde ja zum einen durch Annexionenn auch das Staatsgebiet vergrößert, inklusiver der dort vorhandenen Industrie und Bevölkerung, außerdem blieb durch den Hitler-Stalin-Pakt die Ressourcengrundlage weitgehend stabil.

Einen Großteil der russischen Wirtschaft macht der Rohstoffsektor aus und der ist sehr viel schwieriger zu treffen, als der weiterverarbeitennde Sektor.
 
Ja, allerdings dürften die annektierten Gebiete nicht direkt in die BIP-Berechnungen einfließen, diese wurden ja erst in den letzten Jahrzehnten erstellt (indirekt über Zwangsarbeiter und Lieferung von Vorprodukten aber schon).
Der Punkt mit dem weniger verflochtenen Rohstoffsektor ist in der Tat, glaube ich, wichtig. Russland hat ja auch das Glück, dass es die Rohstoffe an China und andere Staaten loswird und mit den Einnahmen Importe aus den Ländern bezieht.

Was ich mich frage: ob Russland jetzt ein bisschen so wie Deutschland ab 1935 einen Investitionsschub im Verarbeitenden Gewerbe erlebt, oder ob dann doch die westliche Technik trotz China und Konterbande die Möglichkeiten stark limitiert.
 
Die Produktion für den Krieg, sind ja eine staatliche Wirtschaftsförderung. Langfristig schädlich, weil Überkapazitäten aufgebaut werden, helfen sie kurzfristig.

Rohstoffe wurden verbilligt nach Deutschland geliefert. Dadurch, dass das beendet wurde, verdient Russland an den gestiegenen Weltmarktpreisen. Zwei neue Pipelines sind in einer Diktatur kein Problem. Dieser Aspekt der 'Sanktionen' ist ebenfalls zunächst eine Wirtschaftsförderung für Russland.

Auch, wenn fehlende Produkte aus dem Ausland ersetzt werden müssen, kann das bekanntlich positive Effekte haben. Und in Russland waren sich werbewirksam zurückziehende Firmen gezwungen Arbeitsmittel zu verkaufen.
 
Ja, das sind alles positive Effekte für wenige Jahre. Langfristig ist der Krieg natürlich auch ökonomisch schlimm. Wegen der Toten und Invaliden, wegen des Verlusts eines erheblichen Teils der jungen Leute, die (vor allem im digitalen Bereich) so gut ausgebildet sind, dass sie auch im Ausland einen attraktiven Job finden (ich hab so einen Kollegen), weil es ungünstig ist, wenn man auch mittelfristig mit einem Großteil der Welt keine intensiven Wirtschaftsbeziehungen unterhalten kann, weil China und Indien von den Zentren der russischen Wirtschaft viel weiter entfernt sind als Westeuropa...
Um wieder auf den Vergleich mit Deutschland im und nach dem Zweiten Weltkrieg zu kommen: Gerade dass es auch gut ausgebildeten Deutschen nach 45 zumeist unmöglich war, das zerrüttete Land zu verlassen, war sicher eine wichtige Voraussetzung für das Wirtschaftswunder. Das ist in Russland jetzt anders, bislang zumindest.
 
Um wieder auf den Vergleich mit Deutschland im und nach dem Zweiten Weltkrieg zu kommen: Gerade dass es auch gut ausgebildeten Deutschen nach 45 zumeist unmöglich war, das zerrüttete Land zu verlassen, war sicher eine wichtige Voraussetzung für das Wirtschaftswunder. Das ist in Russland jetzt anders, bislang zumindest.
Du meinst, in Russland gäbe es einen Brain Drain, den es 1945 in Dtld. nicht gegeben habe? Ich wäre mir da nicht so sicher.
Dass es einen Brain Drain gibt, ist klar, aber ob der ausgerechnet ITler betrifft?
 
Gerade dass es auch gut ausgebildeten Deutschen nach 45 zumeist unmöglich war, das zerrüttete Land zu verlassen

Das übersieht aber mMn, dass eine Mennge gut ausgebildeter Leute Deutschland bereits vor dem Krieg wegen dem diktatorischen Regime verlassen hatten.
Ich würde eher sagen, dass der Brain Drain, den Deutschland 1945 erlebte möglicherweise auch deswegen überschaubar war, weil sich diese Entwicklug im Grunde bereits vorher vollzog und ein Teil der gut ausgebildeten Leute bereits weg war, allerdings zum Teil während ds Krieeges wieder dem deutschen Machtbereich zuviel.
 
Von meinen Eltern habe ich mitbekommen, dass viele von denen, welche die Möglichkeit hatten, häufig auswanderten, aber dass die Möglichkeiten eben begrenzt waren. Deutsche waren damals aus irgendwelchen Gründen im Ausland nicht so geschätzt.

Was die Emigration in den 30ern betrifft:

"Die Zahl der aus dem deutschen Herrschaftsbereich nach 1933 Vertriebenen ist – vor dem Hintergrund heutiger Migrationsbewegungen – mit etwa 500.000 Personen nicht sehr groß. Rund 360.000 davon stammten aus Deutschland, nach dem "Anschluss" im Jahr 1938 kamen noch einmal ca. 140.000 aus Österreich dazu. Die Emigranten waren vor allem demokratische Repräsentanten aus der Sozialdemokratie und dem kleinen Kreis der bürgerlich-liberalen Politiker, sodann Kommunisten, ferner die kulturelle Avantgarde der Schriftsteller und Künstler, schließlich eine große Zahl von Wissenschaftlern. Nach dem bereits Anfang April 1933 erlassenen Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums verloren die deutschen Hochschulen etwa ein Viertel ihres Lehrkörpers, das heißt etwa 3.000 Personen."

Zitat aus: Emigration 1933–1945/1950 — EGO

Klar, aufgrund der Emigration ist Deutschland seit damals kulturell und wissenschaftlich mehr oder weniger Provinz.
 
@Clemens64 bis 1945 gerade 20 Mitarbeiter - von einem die Wirtschaft des gesamten deutschen Reichs betreffenden IT-Bereich kann da wohl noch nicht die Rede sein. Mit anderen elektronischen (Waffen/Aufklärungs)Geräten wie Würzburgriese etc hatte Zuse nicht zu tun. Oder sehe ich das falsch?
 
@Clemens64 bis 1945 gerade 20 Mitarbeiter - von einem die Wirtschaft des gesamten deutschen Reichs betreffenden IT-Bereich kann da wohl noch nicht die Rede sein. Mit anderen elektronischen (Waffen/Aufklärungs)Geräten wie Würzburgriese etc hatte Zuse nicht zu tun. Oder sehe ich das falsch?
Nee nee, der Zuse-Link war eher scherzhaft. Natürlich gab es damals noch keinen IT-Bereich, die Bemerkung zur digitalen Wirtschaft bezog sich nur auf Russland.
Wie gesagt, Vergleiche hinken immer.
 
Gerade dass es auch gut ausgebildeten Deutschen nach 45 zumeist unmöglich war, das zerrüttete Land zu verlassen, war sicher eine wichtige Voraussetzung für das Wirtschaftswunder.
War das tatsächlich so? Mein Onkel ist in den 50ern nach Australien ausgewandert. Als Schreinergeselle war er zwar eine Fachkraft aber doch nicht "hochqualifiziert". Ab 1952 wurde Deutschen die Einwanderung nach downunder generell ermöglicht. 150.000 Deutsche machten in den folgenden 20 Jahren davon Gebrauch.
Deutsche in Australien – Wikipedia
 
Erstaunlich, was man bei wikipedia so findet (Deutsche Überseewanderung"):
"Die vergleichsweise hohen Zahlen der Amerikaauswanderung in den 50er Jahren rührt daher, dass viele Ostdeutsche in die USA flüchteten ... Begünstigt wurde dies zusätzlich durch die Einwanderungspolitik der USA: in diesem Jahrzehnt wurden mehrere Gesetze erlassen, die deutschen Vertriebenen und Flüchtlingen die Einwanderung ermöglichten. Von besonderer Bedeutung war dabei ein Gesetz von 1950 in dem bestimmt wurde, dass den Volksdeutschen, d. h. den Heimatvertriebenen Flüchtlingen, die Überfahrtkosten von den Vereinigten Staaten finanziert wurden, was in vielen Fällen eine Auswanderung erst ermöglichte."
 
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