Von der Bauernmagd zur städtischen Prostituierten - ein Ausweg im zaristischen Russland?

Die Grauzone ist heute wohl etwas weniger grau als vordem, jedenfalls in Westeuropa. Die liberale Gesellschaft sieht Prostitution nicht mehr als moralische Katastrophe an, "gefallene Frauen" kommen nicht mehr in den Knast, ins Reformhaus oder müssen auch nur aus ihrer Wohngegend fortziehen; man spricht sogar zunehmend von Sexarbeit anstelle von Prostitution (aufgrund der negativ konnotierten Etymologie des Wortes). […]
Liest sich bisschen wie Werbung für Sexarbeit in der Boulevardpresse… :( Doch Menschenhandel, Sklavenhaltung, Vergewaltigung und tätliche Aggressionen durch Freier und Zuhälter sind nach wie vor verbreitet auch in der Schweiz. Und in Deutschland wird es nicht anders sein.

Heutzutage kann sich eine junge Frau ihre Uni-Zeit als Callgirl finanzieren und alles auf Instagram dokumentieren. Wäre eine ähnliche Offenheit vor 150 Jahren in Russland (oder auch nur in Deutschland) denkbar gewesen?
Das romantisierende Bild von der (selbstverständlich hochattraktiven) Studentin, die ihr Studium als gepflegtes Callgirl verdient (womöglich, weil sie es als Nymphomanin mit uralten Professoren, herrscherischen Neureichen mit Bierbauch und deren arroganten Nachkommen gleich gerne treibt), gehört zur Agitation des Milieus, die von den Nutzern und Befürwortern als Erstes zum Besten gegeben werden.(gefolgt vom Spruch ›das älteste Gewerbe‹, als wären andere verbotene Tätigkeiten, wie bspw. Auftragsmörder nicht mindestens gleich alt)

Prostituierten geht es heute zumindest psychisch kaum besser als früher. Viele der meist aus dem Osten agierenden Frauen werden von ihren Familien und von den Zuhältern ausgebeutet.(Und kaum ist die Tochter geschlechtsreif, wird auch sie als Goldesel eingesetzt, am liebsten im Westen. Entsprechend widerlich ist die Ausnutzung durch Freier der Wohlstandsgesellschaften.)

Auf einem anderen Blatt steht, ob sich heute Mittellose besser ernähren können als in der Zarenzeit und ob sie sich durch die Wegwerfgesellschaft besser kleiden, weniger häufig erfrieren und seltener durch Passanten misshandelt werden, etc., etc. Hauptsächlich müsste es in diesem Thread um diese Fragen gehen, um den Lebensstandard der Frauen in den untersten Schichten.
 
Liest sich bisschen wie Werbung für Sexarbeit in der Boulevardpresse… :(
Diesen Kommentar halte ich für unangebracht.

Wenn sich die Betroffenen gegen ein durch Brüssel angedachtes Prostitutionsverbot wehren, weil sie sagen: In den europäischen Ländern, in denen Prostitution erlaubt und geregelt ist, geht es uns besser als anderswo, heißt das nicht, dass alles im Lot oder Prostitution geradezu ein ungefährlicher, angenehmer Beruf sei. Es heißt lediglich, dass der Status Quo in Ländern wie den Niederlanden und Deutschland noch der am wenigsten Belastende ist.

Die Konsequenz daraus ist jedoch meines Erachtens klar: Wenn so etwas wie ein halbwegs menschenwürdiges Leben für Prostituierte erst heute und unter den genannten Bedingungen möglich ist, dann erübrigt sich die Fragestellung für ein Russland vor 150 Jahren mit deutlich rigideren Moralvorstellungen und deutlich härteren, religiös eingefärbten Gesetzen.
 
Wenn sich die Betroffenen gegen ein durch Brüssel angedachtes Prostitutionsverbot wehren, weil sie sagen: In den europäischen Ländern, in denen Prostitution erlaubt und geregelt ist, geht es uns besser als anderswo, heißt das nicht, dass alles im Lot oder Prostitution geradezu ein ungefährlicher, angenehmer Beruf sei. Es heißt lediglich, dass der Status Quo in Ländern wie den Niederlanden und Deutschland noch der am wenigsten Belastende ist.
Selbstverständlich werden die Profiteure der Prostitution das Blaue vom Himmel erzählen, warum die Akzeptanz ihrer Einnahmequelle unbedingt notwendig sei, um ihre Frauen weiterhin in den Westen abkommandieren zu können. Dass es in Deutschland für Prostituierte angeblich noch am schönsten sei (was sich wieder wie Wunschdenken ausnimmt), wird den einzelnen Opfern egal sein. Und ihre Zahl wird durch die Hinnahme und Nutzung im Westen immer größer (mit sehr großer Dunkelziffer).

Wenn so etwas wie ein halbwegs menschenwürdiges Leben für Prostituierte erst heute und unter den genannten Bedingungen möglich ist, dann erübrigt sich die Fragestellung für ein Russland vor 150 Jahren mit deutlich rigideren Moralvorstellungen und deutlich härteren, religiös eingefärbten Gesetzen.
Die ursprüngliche Fragestellung lautete nicht, geht es den Prostituierten heute besser als in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. in Russland, sondern:
War für Bäuerinnen der Berufsstand der Prostituierten ein Weg in ein selbstbestimmtes Leben?

Allerdings impliziert bereits die Eingangsfrage, dass Prostitution ein akzeptabler Berufsstand sei und, mal abgesehen von den russischen Bäuerinnen, ein selbstbestimmtes Leben bewirken könne (was auch heute in den seltensten Fällen zutrifft). Objektiver wäre es gewesen: Was für Folgen hatte für Bäuerinnen der Weg in die Prostitution?
 
Zuletzt bearbeitet:
Selbstverständlich werden die Profiteure der Prostitution das Blaue vom Himmel erzählen, warum die Akzeptanz ihrer Einnahmequelle unbedingt notwendig sei, um ihre Frauen weiterhin in den Westen abkommandieren zu können. Dass es in Deutschland für Prostituierte angeblich noch am schönsten sei (was sich wieder wie Wunschdenken ausnimmt), wird den einzelnen Opfern egal sein. Und ihre Zahl wird durch die Hinnahme und Nutzung im Westen immer größer.
Sieh Dir die Bilder von der Brüsseler Demo an, da demonstrierten ganz normale Frauen, und nicht irgendwelche Profiteure. Übrigens mit Unterstützung und auf den Aufruf feministischer Gruppen, Interessensgruppen wie dem BesD und Frauenrechtlerinnen wie Seyran Ates hin.

Ich weiß wirklich nicht, worüber wir hier diskutieren. Törichtes Gedankenspiel: Wenn Du oder ich uns prostituieren müssten, wann und wo würden wir dies wohl lieber tun? Im Hamburg des 21. Jahrhunderts oder im Sankt Petersburg des 19. Jahrhunderts?
Die ursprüngliche Fragestellung lautete nicht, geht es den Prostituierten heute besser als in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. in Russland
Das sagte ich auch nicht. Ich sagte: Wenn sich die Frage, ob Prostitution ein "Weg in ein selbstbestimmtes Leben" sei, sogar heute und im liberalen Westeuropa kaum stellt, obwohl es Prostituierten heute im liberalen Westeuropa sicherlich weitaus besser geht als im Russland des 19. Jahrhunderts, dann ist die ganze Fragestellung überflüssig.

Ich weiß auch überhaupt nicht, wie der ursprüngliche Einsender diese Fragestellung hätte beantworten können (zumal ohne meinen vergleichenden Rekurs auf die heutigen Verhältnisse).

Sicherlich könnte man wohl Beispiele von Frauenschicksalen aus der russischen Literatur und evtl. auch der russischen Presse der damaligen Zeit herauspicken. Selbst wenn man aber über den Namen irgendeiner Frau stolpern sollte, die das Glück hatte, sich via Prostitution so etwas wie eine glückliche Existenz aufzubauen, wären dies immer noch Einzelschicksale. Anekdotische Beweisführung, und damit wertlos.
 
Die ursprüngliche Fragestellung
lautet
War für Bäuerinnen der Berufsstand der Prostituierten ein Weg in ein selbstbestimmtes Leben?
und hat folgende Eingrenzungen
Zeiteingrenzung ist die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Räumliche Eingrenzung ist Russland.

Ja, ich finde auch, dass das sehr unglücklich formuliert ist wegen der Implikation, dass Prostitution eine "Kameliendamen"-Karriere in Saus und Braus der bürgerlichen upper class a la Oper (Verdi, La Traviata "sempre libera" (Arie der Violetta)) ermöglichen und damit reizvoll sein könnte, aber auch wegen der tendenziösen (warum Bäuerinnen, warum nicht Kleinbürgerinnen/Bedienstete etc in Städten) Milieueingrenzung (russ. Bäuerinnen des 19. Jhs. waren nicht so mobil wie z.B. das heutige "Prekariat")

Aber ich halte Vergleiche mit heutigen Verhältnissen, mit heutigen Projektionsflächen und "Narrativen" für nicht zielführend. Für mich käme bei dieser - unglücklich formulierten - Fragestellung zunächst in den Sinn, woher ich Informationen bekäme und was für welche das sind.

Ich würde zunächst die russische Literatur des Realismus und Naturalismus und der Frühmoderne, also von Dostojevski bis Sologub und Bely, "filzen", ein sehr zeitraubendes Unternehmen. Und zum Vergleich würde ich "westliche" Literatur von Goncourt, Flaubert, Balzac und Zola bis Proust, Dickens bis Joyce, Storm bis Döblin heranziehen, um einen vergleichenden Überblick über die "Narrative", die "Imagos" und Vorstellungen dieser Zeit zum Thema zu gewinnen. In #1 war Fachliteratur erwähnt, aber nicht genannt - ich glaube nicht, dass es für das späte zaristische Russland besonders viele aussagekräftige amtliche Quellen zur Prostitution gibt.

Mein laienhafter Eindruck, gespeist aus meiner recht umfangreichen Lektüre der Literatur ab 1850 ist: allgemein wird es da in Paris, London, Berlin nicht anders als in Moskau und Petersburg gewesen sein. Die Demivierge- und Kameliennarrative sind sich da sehr ähnlich.
 
Aber ich halte Vergleiche mit heutigen Verhältnissen, mit heutigen Projektionsflächen und "Narrativen" für nicht zielführend.
In dem Beitrag unter dem, den Du zitiert hast, habe ich nochmals dargelegt, warum ich überhaupt damit angefangen hatte.
Ich würde zunächst die russische Literatur des Realismus und Naturalismus und der Frühmoderne, also von Dostojevski bis Sologub und Bely, "filzen", ein sehr zeitraubendes Unternehmen. Und zum Vergleich würde ich "westliche" Literatur von Goncourt, Flaubert, Balzac und Zola bis Proust, Dickens bis Joyce, Storm bis Döblin heranziehen, um einen vergleichenden Überblick über die "Narrative", die "Imagos" und Vorstellungen dieser Zeit zum Thema zu gewinnen. In #1 war Fachliteratur erwähnt, aber nicht genannt - ich glaube nicht, dass es für das späte zaristische Russland besonders viele aussagekräftige amtliche Quellen zur Prostitution gibt.
Genau das ist der Punkt, der mich so verwirrt. Wie soll man sich überhaupt im gesetzten Rahmen eine Meinung zur Fragestellung bilden? Das ist ein Thema, da könnte ein Historiker jahrelang in Archiven Primärquellen wälzen, und hätte am Ende wohl doch nur eine Sammlung von Einzelschicksalen zur Hand.

Die (Unterhaltungs-)Literatur der Zeit bietet vielleicht einen Zugang zur Fragestellung, aber selbst ein solch brillanter Beobachter und Psychologe wie Dostojewski kann uns doch mit seiner Sonja nicht mehr als Anhaltspunkte bieten. Es wäre immer noch konstruiert, ihr Schicksal mit allen Schicksalen gleichzusetzen.
 
Die (Unterhaltungs-)Literatur der Zeit bietet vielleicht einen Zugang zur Fragestellung, aber selbst ein solch brillanter Beobachter und Psychologe wie Dostojewski kann uns doch mit seiner Sonja nicht mehr als Anhaltspunkte bieten.
@muck die Sonja aus Schuld und Sühne ist eine der Hauptfiguren, aber betrachtet man bei Dostojevski die zahlreichen Nebenfiguren und Erwähnungen/Kontexte, wird man erkennen, dass sie nicht die einzige aus dem fraglichen Milieu ist. Da sammeln sich allerhand Infos in seinen Romanen und Erzählungen. Und nicht weniger bei Bely, Sologub usw.

Bei einer Übersicht über das, was die "(Unterhaltungs-)Literatur" an Informationen enthält, geht es um Darstellungen, "Narrative", ggf auch Stereotype und Muster, um "Imagos" etc und natürlich müssen wir viel "zwischen den Zeilen lesen", weil es eher unüblich war, wie Burroughs oder Bukowski zu schreiben (Zensur usw) - und wir haben aus dem viktorianischen Britannien den anonymen "Walter". Das alles zusammen verschafft zumindest einen Überblick über die Wahrnehmungsweisen und Bilder (Imagos, Narrative) aus dieser Zeit, sowohl aus Russland als auch vergleichend Frankreich, England, Deutschland (und sicher findet man auch einiges in der italienischen und spanischen Literatur, die ich schändlicherweise nur sporadisch kenne)
 
Ein paar Gedanken dazu von mir...

Mit der Prostitution in Russland ist das so eine Sache.
Prostitution war ja wohl bis 1832 offiziell in Russland verboten.

Unter der Herrschaft Zar Nicolaus I. – der zweite Nachfolger von Zar Paul I., seinem Vater – wurde die Prostitution 1832 legalisiert. Die Prostituierten mussten sich aber regelmäßig peinlichen medizinischen Untersuchungen unterziehen. Das vorrangige Ziel war die Ausrottung der Syphilis. Und alle Prostituierten mussten sich bei der Polizei anmelden, wobei der Pass der Frau im Austausch gegen einen gelben Ausweis eingezogen wurde.

In seinem 1. großen Roman 1866 „Schuld und Sühne“, dieser Roman ist auch unter den Namen „Raskalnikow“ bekannt, beschreibt Fjodor Dostojewski das Schicksal von Sonetschka Marmeladowa.

Dann meldet sich auch 1899 Lew Tolstoi mit seinem weltberühmten Roman „Auferstehung“ zu Wort.
Die Romanhelden Dmitri Nechljudow und Katjuscha Maslowa gehen wohl auf ein Erlebnis von Tolstoi in seiner Jugend zurück. Tolstoi quälten wohl zwei Ereignisse aus seine Jugend:

1. Er hatte wohl ein Verhältnis mit einer Bäuerin aus seinem Dorf und
2. Eine Beziehung zu einem Dienstmädchen namens Gascha im Haus seiner Tante. Dieses unschuldige Mädchen hatte er verführt. Nachdem das bekannt wurde verlor sie Ihre Stellung und sie ist danach gestorben. Hier schlüpfte Tolstoi wohl in die Rolle des Fürsten Necheljudow.

Und dann hätten wir auch noch Alexander Iwanowitsch Kuprin (1870-1938) und sein Roman „Jama – die Lastergrube“. Jama – die Lastergrube – ein Sittenroman.
Dazu gibt es wohl auch ein Theaterstück das u.a. vor ein paare Jahren, am 25 - 27. Juli 2018 in den „Haas-Sälen/Bamberg“ gezeigt wurde.

Und Prostitution in Filmen in der UdSSR...

1. 1930 Film „Die Erde“ (Stummfilm).
2. 1966 Film „Andrei Rublev“. Andrei Rubljow einen Ikonenmahler der wohl von 1360 – 1430 lebte. Ist auch bei YouTube verfügbar.
3. 1968 Film „Noch einmal über die Liebe“. Diesen Film liegt das Theaterstück von Edvard Radzinsky zu grunde.
4. 1979 Film „Flugzeugebasatzung“.

Und dann die Ära Gorbatschow:

5. 1985 Film „Winterkirsche“.
6. 1988 Film „kleine Wera“.
 
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