War die russische Großmachtstellung an der Ostsee nach dem großen nordischen Krieg unvermeidbar.

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Rennegent

Gast
Nachdem der Schwedenkönig Karl XII 1700 gegen die Dänen und das russische Heer von Zar Peter erfolgreich gewesen war, verfolgte er die Russen nicht weiter um sie zum Frieden zu zwingen, sondern wandte sich gegen den Sachsenfürsten August der Starke um ihm die polnische Königswürde zu entreißen. Später ging der Krieg für die Schweden verloren. Ich frage mich, ob es auch dann zir russischen Großmachtstellung gekommen wäre, wenn Karl der XII. sich anders entschieden jätte.
 
Warat, tarat, hättat...
Oder wie meine Landsleute manchmal (derb sexistisch) zu formulieren pflegen "Hättat mei Tant a (...), dann warats mei Onkel."

Im Wissen um den Kriegsausgang - die "Gnade der Nachgeborenen" - hat der Schwedenkönig einen Fehler gemacht: Weil - letztendlich - hat er den Krieg - und damit Schweden seine Großmachtstellung - verloren. Möglicherweise hätte er ihn gewonnen, wenn er sich anders entschieden hätte, möglicherweise aber auch (dann) nicht.

Ohne besondere Fachkenntnis zum Nordischen Krieg erscheint mir seine Entscheidung aber nicht unlogisch; Der (man verzeihe mir die folgende plumpe Nationalisierung) Däne hatte kapituliert, der Russe hatte schwer eine aufs Haupt bekommen; warum sich jetzt nicht den sächsischen Polen zur Brust nehmen ? (Abgesehen davon, daß er - der Schwedenkönig - möglicherweise sein Auge schon auf Territorien geworfen hatte, die nur dem polnischen Sachsen abnehmen waren, weil sie selbigen bis dahin gehörten?). Nachgeborene mögen die Entscheidung - vielleicht nicht einmal so unberechtigt - kritisieren, aber historische All- und Voraussicht ist halt nicht soo die Gabe der ZeitgenossInnen.

Hier zeigt sich halt wieder das Dilemma der Sozialwissenschaften, die - im Gegensatz zu den Naturwissenschaften - nicht über das Experiment verfügen: Könnte man den Schwedenkönig (und seine Gegner, sowie deren Armeen und die gesamten damaligen Umstände) noch einmal auferstehen lassen, ließe sich experimentell herausfinden, was gewesen wäre, wenn.

Geht aber - leider oder vielmehr (anhand der Kriegsopfer) gottseidank - nicht.
Daher: Scheibenkleister und Pustekuchen!
 
Nachdem der Schwedenkönig Karl XII 1700 gegen die Dänen und das russische Heer von Zar Peter erfolgreich gewesen war, verfolgte er die Russen nicht weiter um sie zum Frieden zu zwingen, sondern wandte sich gegen den Sachsenfürsten August der Starke um ihm die polnische Königswürde zu entreißen. Später ging der Krieg für die Schweden verloren. Ich frage mich, ob es auch dann zir russischen Großmachtstellung gekommen wäre, wenn Karl der XII. sich anders entschieden jätte.

Sofern du mit dem Erfolg über das Heer Peters 1700 die Schlacht von Narva meinst, fand diese Ende November statt.

So weit mir bekannt gestatte man den geschlagenen russischen Truppen freien Abzug, allerdings nicht ohne sie gründlich auszuplündern und ihnen einen Großteil des Kriegsmaterials abzunehmen.

Die russische Armee die sich aus Narva zurückzog war demnach nicht nur eine Geschlagene, sondern eine, der ohne/mit kaum noch vorhandenen Geschützen und anderen Waffen nicht viel übrig blieb, als sich zurück zu ziehen und die auch auf absehbare Zeit nicht wieder ins Geschehen würde eingreifen können.
In der Tat wurde Peter I. nach diesem Misserfolg in seinem militärischen Vorgehen gegen die Schweden zunehmend vorsichtig, sehr zum Schaden Sachsen-Polen-Litauens, dass dadurch um so angreifbar wurde.

Zar Peter weiter zu attakieren, gar oder gar zu verfolgen hätte bedeutet sich auf eine Kampagne im Russland mitten im tiefsten Winter einzulassen.
Zwar für die Schweden kein gänzlich ungewohntes Klima aber sicherlich grunsätzlich nicht besonders empfehlenswert, im Besonderen nicht, wenn man bedenkt, dass Schwedens Bevölkerung relativ klein war und allzu große Verluste an Mannschaften einfach nicht verkraftbar waren.

Die Entscheidung sich gegen Sachsen-Polen-Litauen zu wenden hatte vorrangig 2 große Vorteile:

1. Die schwache Position August des Starken war darin zum Ausdruck gekommen, dass der polnisch-litauische Adel nicht hinter diesem Krieg stand und ihm als Monarchen das Stellen von Truppen für dieses Unterfangen weitgehend verweigerte, so das August im Wesentlichen nur die Kursächsichen Truppen zur Verfügung standen.

- Einerseits musste er damit als sehr schwacher Gegner erscheinen, den man möglicherweise schnell aus dem Krieg drängen könnte.

- Zweitens die offensichtlich schwache Position Augusts konnte natürlich dazu verleiten auf dessen mögliche Absetzung und die Einsetzung eines Schweden gewogeneren Gegenkönigs (was de facto auch passierte) zu spekulieren und darauf Polen-Litauen möglicherweise "umzudrehen" und auf schwedischer Seite als Verbündeten gegen Russland zu gewinnen (eine sehr erfolgreiche schwedisch-polnisch-litauische Allianz gegen Muskowien/Russland hatte es Anfang des 17. Jahrhunderts schon einmal gegeben).

- Drittens bestand natürlich die Gefahr, dass unter dem Eindruck der schwedischen Siege und einer möglichen schwedischen Machtausdehnung die Szlachta ihre Meinung möglicherweise noch ändern und sich am Ende doch bereit finden könnte August Truppen zu stellen, womit Russland doch noch einen wertvollen Verbündeten gewonnen hätte, im Besondern, wenn sich die schwedischen Truppen in Russland verzettelt hätten.

2. Nicht unmaßgeblich am Zustandekommen des Großen Nordischen Krieges hatte ja auch der Konflikt zwischen der schwedischen Krone und den deutsch-baltischen Ritterschaften in Livland und Estland beigetragen, die vertreten durch Patkul ihr Heil und die Rettung ihrer Privilegien darin suchten sich Peter und August an den Hals zu werfen.
D.h. von schwedischer Seite her musste man in diesem Krieg auch grundsätzlich mit einem Abfall der baltischen Provinzen und Aufständen in diesem Gebiet rechnen (was im Falle einer Kampagne in Russland den Nachschub möglicherweise stark betroffen hätte), wodurch es grundsätzlich zunächst mal sinnvoll erscheinen musste Truppen in der Nähe zu behalten um eine Revolte in dieser Region bereits im Keim ersticken zu können.


Wäre der Krieg für Schweden zu gewinnen oder mindestens gesichtswahrend zu beenden gewesen?

Aus eigener Kraft heraus wahrscheinlich nicht, einfach weil die schwedische Großmachtsposition eine rein auf militärische Ressourcen aufgebaute Position war.
Schweden verfügte im Grunde weder über die wirtschaftliche Basis für einen langen Krieg noch über eine ausreichend große Bevölkerung, die es erlaubt hätte den Ausfall größerer Mengen an Soldaten zu verkraften oder das Heer dementsprechend auszubauen.
Das zeigte sich im Grunde auch bei Karls fehlgeleitetem Versuch doch noch in Russland einzudringen, der ja dann bei Poltawa katastrophal endete.

Es hätte aber eine andere Entwicklung Schweden durchaus retten können, denn Karl fand ja selbst nach Poltawa noch einen mächtigen Verbündeten in Gestalt des Osmanischen Reiches, das zwischenzeitlich in den Krieg eintrat.

Hätte sich die Hohe Pforte dazu entschieden diesen Krieg tatsächlich aufzunehmen und durchzufechten, hätte das Peter I. an den Rand einer militärischen Katastrophe gebracht und sehr wahrscheinlich dazu genötigt mit Schweden einen Frieden zu schließen um wenigstens im Norden Ruhe zu haben.
Zu Peters Glück begnügte man sich von der osmanischen Seite her mit der Rückgabe von Asow und der Beendigung der russischen Schwarzmeer-Präsenz (Siehe "Frieden vom Pruth"), so dass Peter dadurch nicht in die Verdrückung kam einen 2-Fronten-Krieg gegen 2 Großmächte zu führen.

Das Karl XII. wenn er militärisch anders gehandelt hätte diesen Krieg gewonnen hätte, halte ich für unwahrscheinlich, im Besonderen wenn es um einen spekulativen Russland-Feldzug direkt nach dem Sieg bei Narva ging, der in den russischen Winter hinein hätte geführt werden müssen und auch die Gefahr geborgen hätte, dass:

1. In Polen-Litauen sich die Szlachta eines anderen besinnt und er es möglicherweise noch mit einem zweiten mächtigen Gegner zu tun bekommen hätte.
2. Möglicherweise ein Aufstand der unzufriedenen deutsch-baltischen Ritterschaften in Livland und Estland ihm die Versorgung aus Schweden weitgehend hätte abschneiden können.

Unter diesen Umständen war es vernünftiger sich gegen Sachsen-Polen-Litauen zu wenden.
 
Im 17. Jahrhundert konnten Mächte wie die Generalstaaten als Global Player noch eine bedeutende Rolle in Europa, Nordamerika, Asien und Afrika spielen.

Im 18. Jahrhundert setzte sich doch allmählich das Gesetz von Fläche und Einwohnerzahl durch. Um sich als Großmacht etablieren und durchsetzen zu können, benötigte ein Staat ein gewisses Maß an Fläche und Einwohnerzahl. Die Generalstaaten der Niederlande waren im 17. Jahrhundert der erfolgreichste Merkantilstaat. Die Niederlande verfügten über die größte Handelsflotte. Als der junge Zar Peter nach Westeuropa reiste, um u. a. den Schiffsbau zu erlernen, wurden die besten Schiffe aber nicht mehr in Zaandam, sondern in England gebaut. London überholte um 1700 Amsterdam und Rotterdam.

Mächte wie die Niederlande und Schweden fielen im Verlauf des 18. Jahrhunderts zurück. Schweden hatte im Verhältnis zu Russland auf Dauer recht ungünstige demographische Verhältnisse. In Skandinavien hatte Schweden nicht viel mehr, als 1-1,5 Millionen Einwohner.

Im Verlauf des Großen Nordischen Krieges wurde doch sehr deutlich, dass Schweden an die äußersten Grenzen der demographischen Belastbarkeit stieß.

Schweden verfügte allerdings über eine überaus schlagkräftige Armee. Gemessen an der Wucht ihres Angriffs zählte die schwedische Infanterie zu den besten Europas. Während die britische Infanterie unter Marlborough sich vor allem auf ihre Feuerkraft verließ, war Schweden bekannt für die Gä pa-Taktik. Die Schweden waren auf Angriff gedrillt, den schwedischen Soldaten wurde eingehämmert, was auch ihr König glaubte: Dass jeder zu einer bestimmten Stunde fällt.

Die schwedische Kriegsmaschinerie unterschätzte keiner, aber die Gelegenheit schien günstig. Karl XI. war gestorben, der neue König war noch sehr jung, und er machte vor allem durch wilde Streiche von sich reden, die doch sehr für einen unreifen Geist des neuen Königs sprachen.

Karl XII. zeigte allerdings, dass er seinen Gegnern gewachsen war. Dank englisch-niederländischer Hilfe landete er in Dänemark und erzwang den Frieden von Traventhal. Danach wendete er sich Russland zu und schlug den Zaren bei Narwa. Dieser Sieg war vor allem Karl zu verdanken- Karls Generale zögerten, während der König schnell die Chance erkannte, während eines Schneesturms anzugreifen.

Für Karl wurde der Krieg nicht zur Fortsetzung der Politik, sondern zum Vater aller Dinge. Darauf wendete sich Karl August von Sachsen und Polen zu, und er schlug auch ihn.

1706 nach dem Frieden von Altranstädt stand Karl XII. auf dem Zenit. Er unterschätzte seinen gefährlichsten Gegner: Zar Peter I. Nach Narwa musste die russische Armee neu aufgebaut werden. Innerhalb recht kurzer Zeit gelang es Peter, seine Armee neu zu organisieren. Die Truppen bei Narwa waren unerfahren gewesen. Den Kommandeur von Croy hatte Peter erst neu ernannt, er sprach kein Russisch, und als die Schweden die Stellung aufrollten und die Russen riefen: "Die Ausländer haben uns verraten", hielt es Croy für sicherer, sich den Schweden zu ergeben.

Die Schlacht von Poltawa 1709 gehörte zu den wenigen Schlachten im 18. Jahrhundert, die eine politische Wende einläuteten. An einem Nachmittag war Russland statt Schweden zur Hegemonialmacht im Ostseeraum geworden.

Doch der Krieg ging noch viele Jahre weiter, und zeitweilig hatte Schweden große Chancen, einen Großteil der Territorien, die es auf den Schlachtfeldern verloren hatte, durch geschicktes diplomatisches Taktieren wieder zurück zu gewinnen.

Peter I. war bereit, Livland und Estland zurückzugeben, wenn Karl XII. ihm nur Ingermanland und St. Petersburg ließ.

Auch nach Poltawa, auch nach Karls abenteuerlicher Flucht boten sich Schweden große Möglichkeiten. Schwedens Diplomaten, dem Freiherrn von Görtz boten sich große Chancen, einen Großteil der Eroberungen zurückzugewinnen- Wenn Görtz freilich Karls Vorstellungen genannt hätte, wären die Verhandlungen 1717/18 schnell vorbei gewesen, denn Karl verlangte die Räumung aller eroberten Gebiete. Diese Verhandlungen wurden schließlich abgebrochen.

1721 beendete eine zweite Friedenskonferenz endgültig den Krieg: Schweden verlor Ingermanland, Estland und Livland, dazu Karelien. Schweden erhielt lediglich Finnland zurück.

21 Jahre hatte der Krieg schließlich gedauert. Die Erwerbungen übertrafen bei weitem die Kriegsziele und Erwartungen Peters I. Diesem ging es ursprünglich nur darum, Ingermanland zurück zu erobern, dass einmal russisch war und ein Zugang zur Ostsee. Selbst als sich militärisch und politisch das Gewicht zugunsten Russlands verschob, hatte Schweden immer noch reiche Möglichkeiten, auf dem Verhandlungsweg Territorien zurück zu erhalten. Peter hatte, als Karl in Polen auf dem Kriegspfad wandelte, viel mehr schwedisches Territorium erobert, als er je gehofft hatte.
 
Warat, tarat, hättat...
Oder wie meine Landsleute manchmal (derb sexistisch) zu formulieren pflegen "Hättat mei Tant a (...), dann warats mei Onkel."

Im Wissen um den Kriegsausgang - die "Gnade der Nachgeborenen" - hat der Schwedenkönig einen Fehler gemacht: Weil - letztendlich - hat er den Krieg - und damit Schweden seine Großmachtstellung - verloren. Möglicherweise hätte er ihn gewonnen, wenn er sich anders entschieden hätte, möglicherweise aber auch (dann) nicht.

Ohne besondere Fachkenntnis zum Nordischen Krieg erscheint mir seine Entscheidung aber nicht unlogisch; Der (man verzeihe mir die folgende plumpe Nationalisierung) Däne hatte kapituliert, der Russe hatte schwer eine aufs Haupt bekommen; warum sich jetzt nicht den sächsischen Polen zur Brust nehmen ? (Abgesehen davon, daß er - der Schwedenkönig - möglicherweise sein Auge schon auf Territorien geworfen hatte, die nur dem polnischen Sachsen abnehmen waren, weil sie selbigen bis dahin gehörten?). Nachgeborene mögen die Entscheidung - vielleicht nicht einmal so unberechtigt - kritisieren, aber historische All- und Voraussicht ist halt nicht soo die Gabe der ZeitgenossInnen.

Hier zeigt sich halt wieder das Dilemma der Sozialwissenschaften, die - im Gegensatz zu den Naturwissenschaften - nicht über das Experiment verfügen: Könnte man den Schwedenkönig (und seine Gegner, sowie deren Armeen und die gesamten damaligen Umstände) noch einmal auferstehen lassen, ließe sich experimentell herausfinden, was gewesen wäre, wenn.

Geht aber - leider oder vielmehr (anhand der Kriegsopfer) gottseidank - nicht.
Daher: Scheibenkleister und Pustekuchen!

Historiker waren nie besonders gut darin, die Zukunft vorherzusagen, und Soziologen können es auch nicht viel besser, ebenso wenig übrigens wie Naturwissenschaftler- auch diese können vielleicht das Wetter vorhersagen aber nicht die Zukunft.

Im Übrigen sind auch dem experimentellen Erkenntnisgewinn sehr enge Grenzen gesetzt. Über Armeen geboten keine Royal Academy und keine Academie Francaise, sondern Majestäten von Gottes Gnaden- und wenn ein Experiment in die Hose geht, stand nicht unbegrenzt Humankapital zur Verfügung, um das Experiment zu wiederholen bis es das gewünschte Ergebnis zeigt.

Es lassen sich aber aus den Sozialwissenschaften zumindest sehr aussagekräftige Informationen gewinnen über z. B. über:

-Einwohnerzahl, demographische Verteilung
- wirtschaftliche Entwicklung
-Steueraufkommen von Provinzen,
-wirtschaftliche Macht
-Verluste

Es lässt sich recht genau rekonstruieren, wie viele Armeen man aus einem bestimmten Landstrich rekrutieren konnte, wie hoch das Steueraufkommen einer Provinz war.

Sun Zu sagte in die Kunst des Krieges dass der Sieg von fünf Gegebenheiten abhänge: Das moralische Recht, Himmel, Erde, der Anführer, Methodik und Disziplin. Anhand dieser Gegebenheiten könne er das Ergebnis vorhersagen: Bei wem liegt das moralische Recht, welcher General ist der bessere, bei wem liegen die Vorteile von Himmel und Erde, also Entfernungen, Klima, Gelände, welche Armee ist besser ausgebildet. In welcher Armee finden wir die größere Beständigkeit in Belohnung und Bestrafung, welche Armee verfügt über die größere Disziplin und Motivation?

Sun Tzus Bemerkungen über die Kriegskunst lassen sich auch auf die Politik übertragen, und empirische Informationen aus den Sozialwissenschaften, aus der Geschichtswissenschaft erlauben zumindest relativ fundierte Aussagen über Bevölkerungszahlen, Infrastruktur, Steueraufkommen, beteiligte Mächte, politische Rahmenbedingungen, Antriebskräfte und Verlaufsformen und damit auch über Chancen und Risiken einer schwedischen, und einer russischen Hegemonialpolitik.
 
Es lässt sich recht genau rekonstruieren, wie viele Armeen man aus einem bestimmten Landstrich rekrutieren konnte, wie hoch das Steueraufkommen einer Provinz war.

Wobei Steueraufkommen natürlich ein etwas schwacher Indikator ist, weil das natürlich die Möglichkeit von Subisidien nicht berücksichtigen kann.
Gerade den Bereich der theoretisch rekrutierbaren Bevölkerung würde ich hier allerdings sehr stark gewichtet sehen wollen, auch vor dem Hintergrund, dass die aufgekommene Lineartaktik relativ lange Ausbildungszeiten benötigte, was natürlich die Möglichkeit über reguläre Truppen hinaus effektiv Söldner anzuwerben, die sich taktisch einigermaßen einfügen konnten mehr oder minder auf das Anmieten von regulären Soldaten anderer Souveräne beschränken musste.
 
Eigentlich war doch die Ausbildung zu Zeiten der Lineartaktik nicht besonders aufwändig. Eine Steinschloss-Muskete zu laden und abzufeuern, war nicht besonders schwierig und auf etwa 6 Handgriffe beschränkt.

Einen Soldaten zu drillen, ihn so auszubilden, dass ihm diese Handgriffe in Fleisch und Blut übergehen, dass ein Soldat ohne lange zu überlegen, auch in der Hitze des Gefechts in der Lage ist, mechanisch eine Muskete nachzuladen und zu schießen und das in der Minute dreimal tun zu können, ist lediglich eine Frage von Training.

Den Bewegungsablauf zum laden, abfeuern und nachladen einer Muskete kann man ohne weiteres an einem Nachmittag lernen.

Diesen Bewegungsablauf so zu verinnerlichen, dass man quasi mechanisch, ohne erst überlegen zu müssen, lädt, feuert und nachlädt und in der Lage ist, auch in Hektik und Gefechtspanik 3 gezielte Schüsse abgeben zu können, erfordert Zeit und Training.

Es gab im Sezessionskrieg Fälle, dass Soldaten in der Hektik Musketen überluden, dass sie durcheinander kamen mit dem Bewegungsablauf.

Grundsätzlich aber sollte es möglich sein, innerhalb einer recht kurzen Zeit auch Ungeübten diese Handgriffe beizubringen, so dass der Bewegungsablauf jederzeit abrufbar ist.

Steueraufkommen ist ja auch nur ein Beispiel- Es ging mir vor allem um die Aussage haceges: Das Dilemma der Sozialwissenschaften sei, dass sie keine empirisch und experimentell zu rekonstruierenden Prognosen liefern könne.

Ich habe an dieser Stelle angemerkt, dass aber Geschichtswissenschaftler auf der Basis von Quellen, von Daten zu Finanzen, Einwohnerzahlen, Geburtenraten, Kindersterblichkeit, Desertionsraten, Mortalität etc., etc. zumindest eine Reihe von Fakten eruieren kann, und das sich auf der Basis von diesen Fakten auch relativ genaue und plausible Prognosen gewinnen lassen.

haceges Beitrag unterstellte ja, dass es das Dilemma der Geschichtswissenschaft sei, dass sie im Gegensatz zu den Naturwissenschaften ihre Aussagen nicht experimentell beweisen kann.

hacege erkennt zwar, dass ja gerade die Naturwissenschaft das auch nicht kann. Es ist ein kontrafaktisches Geschichtsszenario eben nicht experimentell zu erproben. Die Naturwissenschaften können auf diese Frage keine Antwort geben, außer im Bewusstsein, dass historische Akteure sich nicht über Naturgesetze hinwegsetzen können.

Die Geschichtswissenschaft hat andere methodische Möglichkeiten. Diese verkennt hacege, wenn er konstatiert, dass das Pustekuchen und Scheibenkleister ist. Geschichtswissenschaftler können vielleicht keine Aussagen treffen im Sinne von 2+ 2=4.

Aber Geschichtswissenschaftler können zumindest zu kontrafaktischen Experimenten Prognosen treffen, dass 2+2 niemals 5 ergeben kann.

Es haben sich in der Geschichte nicht immer die an Zahl stärksten Armeen durchgesetzt, und weil die Historie verlaufen ist wie sie ist, bedeutet das noch lange nicht, dass sie so zwangsläufig hätte verlaufen müssen.

Schweden hätte seine Hegemonie im Ostseeraum durchaus noch eine Weile halten können. Das Risiko, dass eine offene Konfrontation mit der schwedischen Kriegsmaschinerie bedeutete, war Peter, August und dem Dänenkönig bewusst.

Russland lag kulturell und zivilisatorisch um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurück. Peters Politik der Öffnung nach Europa war in Russland extrem umstritten. Auch nach dem Debakel bei Poltawa boten sich Schweden politische und diplomatische Chancen.

Nach Bevölkerungszahl, nach dem Gesetz von Fläche und Einwohnerzahl, nach dem politischen Potenzial sprach aber doch sehr viel für Russland. Wäre Peter bei einer seiner zahlreichen Erkrankungen gestorben oder einem Attentat zum Opfer gefallen, wäre mit großer Sicherheit die Europäisierung Russlands langsamer verlaufen, weniger rasant. Eine Öffnung nach Westen hätte sich aber mit großer Sicherheit auch unter einem Zaren Alexej fortgesetzt. Russland konnte es sich auf Dauer nicht leisten, so zu tun, als sei es sich selbst genug, konnte sich nicht dauerhaft von Europa isolieren.
 
Den Bewegungsablauf zum laden, abfeuern und nachladen einer Muskete kann man ohne weiteres an einem Nachmittag lernen.

Das sicherlich, aber wie sieht es mit dem Kämpfen und vor allem Manövrieren in Linienformation aus? Und vor allem auch damit die Disziplin so einzuschleifen, dass die Formation auch unter Beschuss aus nächster Nähe unter allen Umständen gehalten wird?

Das funktioniert mit völlig unvorbereiteten Rekruten nicht.

Ich habe an dieser Stelle angemerkt, dass aber Geschichtswissenschaftler auf der Basis von Quellen, von Daten zu Finanzen, Einwohnerzahlen, Geburtenraten, Kindersterblichkeit, Desertionsraten, Mortalität etc., etc. zumindest eine Reihe von Fakten eruieren kann, und das sich auf der Basis von diesen Fakten auch relativ genaue und plausible Prognosen gewinnen lassen.

Ich habe schon sehr gut verstanden worum es dir ging, ich wollte dazu nur bemerkt haben, dass ich die Faktoren noch etwas ausdifferenzieren würde.

Schweden hätte seine Hegemonie im Ostseeraum durchaus noch eine Weile halten können

Denke ich nicht, denn der Verlust ausschließlich Ingermanlands hätte Schweden um die lukrativen Zolleinnahmen aus dem Russland Handel gebracht, was die ohnehin schmalen ökonomischen Grundlagen der schwedischen Großmacht sehr schwer getroffen hätte.

Und der innenpolitischen Position der schwedischen Krone in den baltischen Provinzen wäre das Abhandekommen des Landzugangs sicherlich auch nicht besonders zuträglich gewesen.
Stockholm hätte die Politik der stärkeren Bindung der baltischen Provinzen an den schwedischen Staat und die Politik zur Beschränkung der Privilegien der deutschbaltischen Ritterschaften einstampfen müssen um hier die Lage zu beruhigen und mit der tendenziellen Machtverschiebung aus Kosten Schwedens zu Gunsten Russlands musste sich daraus resultierend auch bei Wiederaufnahme des Versuchs dieser Politik die Tendenz des deutschbaltischen Adels verstärken im Zweifel beim Zaren Hilfe gegen den eigenen König zu suchen.

Das hätte sehr wahrscheinlich darüber hinaus den schwedischen Territorialkomplex mindestens hinsichtlich des Baltikums desintegriert.

Damit wäre die schwedische Großmacht meines Erachtens nicht mehr zu halten gewesen.
Vielleicht kurzfristig, so lange wie man von russischer Seite her gebraucht hätte um in Ingermanland einen wirklich aufnahmefähigen Hafen zu errichten und die Grenze im Besonderen zur karelischen Landenge hin zu befestigen.

Danach wäre Schweden seinen Großmachtsstatus los gewesen, selbst wenn es nominell nur Ingermanland verloren hätte.
Dieser Verlust hätte aber eine Verteidigung der verbliebenen baltischen Provinzen in einem potentiellen weiteren Krieg sehr erschwert, wenn nicht sogar unmöglich gemacht und wirtschaftlich wäre die Ausschaltung des eigenen Zwischenhandels zwischen Russland und dem Westen, vor allem im Bereich der Zölle ein Schlag gewesen, von dem sich Schweden wahrscheinlich nicht mehr erhohlt hätte.
 
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