War es in der Weimarer Republik gesellschaftlich geächtet, ein Nazi zu sein?

Ich habe mal ein Buch gelesen, in dem es um Frauen die fanatische Hitleranhängerinnen waren, ging.
Dort wurde eine Unternehmergattin als München beschrieben, schon an die 70 Jahre alt, die Hitler und die Nazis unterstützte und Hitler auch Zugang zu ihrem Haus gewährte, er kam regelmäßig bei ihr und ihrem Mann vorbei.
Es wird in dem Buch beschrieben, dass diese Unternehmergattin deswegen von der feinen Münchner Gesellschaft gemieden wurde, weil es damals als unschicklich galt, sich mit den Nazis einzulassen.
Was ich mich da jetzt frage: Am Anfang hatten die Nazis ja noch nicht so viele Anhänger, war es da überall gesellschaftlich geächtet, wenn jemand sich den Nazis anschloss, so wie im Buch beschrieben?
Ich habe schon eher den Eindruck, dass die Gesellschaft damals eher rechtsradikal war, und deswegen wundert es mich, dass Hitleranhänger geächtet wurden in der Gesellschaft.
Ab wann begannen die Menschen denn, die Nazis als etwas völlig Normales zu betrachten?
Gab es eigentlich in der Weimarer Republik auch Demos gegen Hitler?
Oder nahmen die meisten Menschen Hitler und die Nazis einfach hin?
Und wenn doch fast alle Menschen damals Antisemiten waren, wieso war Hitler dann gesellschaftlich geächtet?
Ich vermute, dass die Nazis erst ab 1929/30 durch die Wirtschaftskrise richtig Akzeptanz bei vielen Menschen fanden.
Waren die Nazis damals gesellschaftlich ähnlich geächtet wie heute?
Oder betrachteten die Menschen sie eher als normalen Bestandteil der deutschen Politik, weil damals noch so viele Menschen rechtsextrem waren und die ganze Gesellschaft sehr weit rechts stand?
Und kannten damals eigentlich alle Menschen den Inhalt von "Mein Kampf" oder kannte der Großteil der Bevölkerung das nicht?
Und haben die Nazis damals eigentlich auch die Opferrolle bespielt und sich immer als die armen Opfer darzustellen versucht?
Wie sah der Großteil der Bevölkerung die Nazis vor der Wirtschaftskrise?
War es die Wirtschaftskrise, die Hitler an die Macht brachte?
Ich glaube ja, dass er ohne die Wirtschaftskrise niemals an die Macht gekommen wäre.
 
Es hatte im deutschen Kaiserreich antisemitische Parteien gegeben, und Leute wie Max Liebermann von Sonnenberg, Heinrich von Treitschke, Adolph Stoecker und andere haben mit antisemitischer Agitation satte Wahlergebnisse eingefahren. Es haben Antisemiten auch ganz offen dazu gestanden, und Antisemiten wie Heinrich von Treitschke oder Elard von Oldenburg Janischau haben zuweilen sogar recht geistreiche Schmähungen verfasst.

Antisemitismus war weit verbreitet, und es mussten Antisemiten keineswegs einen exterminatorischen Judenhass vertreten. Treitschke wurde von den Nazis vereinnahmt, der Satz "Die Juden sind unser Unglück stammte aus einem Aufsatz von Treitschke. Treitschke hatte aber ganz andere Vorstellungen von der Lösung des Judenproblems. Er propagierte Mischehen, sah darin eine Möglichkeit der Integration.

Nach dem 1. Weltkrieg war Europa moralisch so aus den Fugen, da hatte jeder genug Leichen im Keller, da wurde man nicht geächtet, bloß weil man ein bisschen gehetzt hat. Da wurde keiner geächtet, weil er gegen die Demokratie war- Die WR war eine Republik ohne Republikaner, nur die SPD, die Liberalen und das Zentrum kann man als staatstragende Parteien bezeichnen, die politische Rechte lehnte diesen Staat ab.

Die Nazis waren zunächst mal eine von vielen Parteien. Die Nazis wurden lange belächelt, und die SA, die Radikalität das stieß durchaus viele Leute ab. Hitler Anfang der 1920er Jahre das war nicht mehr der unbeholfene Bewohner des Männerasyls, sondern er hatte einen gewissen Schliff, und er fand recht bald wohlhabende Unterstützer auch aus "besseren Kreisen".
 
Antisemitismus war weit verbreitet
Ich weiß nicht, wie viele Antisemiten es im "Kaiserreich" gab, nur wieviele Leute Völkische gewählt haben:

1871 0 %
1874 0 %
1877 0 %
1878 0 %
1881 0 %
1884 0 %
1887 0,2 %
1890 0,7 %
1893 3,5 %
1898 3,3 %
1903 2,6 %
1907 3,9 %
1912 2,9 %

Klingt nicht berauschend. Das sah nach 1918 ganz anders aus.
 
Wenn die Nazis in manchen Schichten der "feinen Gesellschaft" geächtet waren, dann nicht wegen Antisemitismus. Sondern weil sie als Unterschichten-Pöbel angesehen wurden. "Arbeiterpartei", "sozialistisch" (auch wenns Schwachsinn war), und der "Führer" war im Krieg kein General, sondern ein kleiner Gefreiter? Sowas unterstützt man vielleicht mit Geld, wenn es den eigenen Interessen dient, aber wenn die zum eigenen Haus kamen, dann doch bitte durch den Dienstboteneingang...
 
Sowas unterstützt man vielleicht mit Geld, wenn es den eigenen Interessen dient, aber wenn die zum eigenen Haus kamen, dann doch bitte durch den Dienstboteneingang...
Gelegentlich gab es auch Fälle, wo schon früh - Anfang der 20er Jahre - prominente Teile der feinen Gesellschaft Wohlgefallen am Nazitum fanden: der zu dieser Zeit noch lange nicht allmächtige spätere Gröfaz erhielt Unterricht in Tischmanieren bei Helene Bechstein – Wikipedia
 
Ich weiß nicht, wie viele Antisemiten es im "Kaiserreich" gab, nur wieviele Leute Völkische gewählt haben: [...]

Zum Kaiserreich ist zu sagen, dass es die "Antisemiten-Pareien" gab, die den Antisemitismus zu ihrem Haupthema machten und tatsächlich eher kleine Splittergruppen blieben, deren Bedeutung man nicht zu hoch hängen sollte (im Bezug auf Kontinuitätslinien zum NS), dass aber auch die Deutschkonservativen in Teilen antisemitische Interessen verfolgten, nur war das nicht deren programmatisches Hauptanliegen.
Die "Antisemiten-Pareien" waren Splittergruppen, die Deutschkonservativen nicht, die waren, wenn auch tendenziell rückläufig, in den letzten 20 Jahren vor dem 1. Weltkrieg mit einer gewissen Schwankbreite für im Durchschnitt 10-12% bei den Reichstagswahlen gut und gleichzeitg bei diesem Ergebnis durch die anachronistische Wahlkreiseinteilung, die die dünnbesiedelten Agrargebiete im Osten stark bevorteile im Reichstag dadurch nochmal einige Prozentpunkte stärker.

Berücksichtigt man das, wird man sagen können, dass vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland etwa 15% der männlichen (frauenwahlrecht gab es ja noch nicht, so dass sich dazu wenig sagen lässt) Wähler, was durch das Allgemeine Männerwahlrecht mindestens tendenziell auf die gesammte erwachsene männliche Bevölkerung schließen lässt, bereit waren Parteien zu wählen, die Antisemitismus in ihren politischen Programmen hatten.
Das bedeutet natürlich nicht, dass sie diese Parteien explizit deswegen wählten (bei den "Antisemiten" wird man das sagen können, bei den Deutschkonservativen nicht), aber jedenfalls waren sie bereit das inkauf zu nehmen.

Prinzipiell kann es sein, dass auch vor dem Weltkrieg noch größere Teile der Bevölkerung antismitische Ressentiments hatte, aber die wären dann so schwach gewesen, dass sie sich nicht in der politischen Präferenz niedergeschlagen hätten.
 
Ich würde auch vermuten, dass antisemitische Ressentiments deutlich verbreiteter waren, als es die Wahlergebnisse dezidiert völkischer Parteien nahelegen. Der berüchtigte "Bäderantisemitismus" vor dem Ersten Weltkrieg zeigt ja sehr deutlich, dass man zumindest in bestimmten Regionen ganz offen Juden für "unerwünscht" erklären und damit Werbung machen konnte. Auf manchen Inseln gab es sogar eigene Lieder, in denen die Abwesenheit von Juden gefeiert wurde und die man im Extremfall sogar öffentlich vor Unterkünften sang, in denen angeblich Juden untergekommen waren.
 
Und genau dieser steigerte sich in den 20er Jahren deutlich! Das betrifft auch u.a. die Alpenvereine und ähnliches.

Das ist sehr gut möglich, ja. Auch hier würde ich aber sagen, dass die Wahlergebnisse dezidiert antisemitischer Parteien nicht unbedingt direkt damit zusammenhingen. In der Weimarer Republik gab es beispielsweise in der Programmatik einiger landwirtschaftlich oder mittelständisch orientierter Interessensparteien antisemitische Passagen, ohne dass diese Parteien Antisemitismus als ihren "Wesenskern" definiert hätten. Die NSDAP war ja auch in der Republik eine Ausnahmeerscheinung.
 
Treitschke wurde von den Nazis vereinnahmt, der Satz "Die Juden sind unser Unglück stammte aus einem Aufsatz von Treitschke. Treitschke hatte aber ganz andere Vorstellungen von der Lösung des Judenproblems. Er propagierte Mischehen, sah darin eine Möglichkeit der Integration.
Ja, aber er hatte den Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft populär gemacht – Zitat aus Wikipedia:

Die Historikerin Shulamit Volkov sieht die nachhaltige Bedeutung des Antisemitismus Treitschkes darin, dass er eine antisemitische Einstellung in der bürgerlichen Gesellschaft „salonfähig“ gemacht und ihr Zugang zu den deutschen Universitäten verschafft habe.

Der sog. Bäderantisemitismus – darauf verwies in #8 schon Stradivari – das Ende des 19. Jahrhundert begann und sich dann immer mehr steigerte, belegt, dass die Ablehnung der Juden allgegenwärtig war.

In der Weimarer Republik gab es beispielsweise in der Programmatik einiger landwirtschaftlich oder mittelständisch orientierter Interessensparteien antisemitische Passagen, ohne dass diese Parteien Antisemitismus als ihren "Wesenskern" definiert hätten.
Das mussten sie auch nicht, denn es gehörte fast zum guten Ton, gegen Juden zu sein.
 
Ja, aber er hatte den Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft populär gemacht – Zitat aus Wikipedia:

Die Historikerin Shulamit Volkov sieht die nachhaltige Bedeutung des Antisemitismus Treitschkes darin, dass er eine antisemitische Einstellung in der bürgerlichen Gesellschaft „salonfähig“ gemacht und ihr Zugang zu den deutschen Universitäten verschafft habe.

Der sog. Bäderantisemitismus – darauf verwies in #8 schon Stradivari – das Ende des 19. Jahrhundert begann und sich dann immer mehr steigerte, belegt, dass die Ablehnung der Juden allgegenwärtig war.

Das mussten sie auch nicht, denn es gehörte fast zum guten Ton, gegen Juden zu sein.

Den musste Treitschke nicht erst populär und salonfähig machen, er war von Anfang latent und militant vorhanden, und da brauchte es durchaus auch keinen Treitschke als Vordenker, allenfalls taugte der noch, dem eigenen dumpfen Antisemitismus einen halbwegs intellektuellen Anstrich zu geben, und die feinsinnigen Differenzierungen, Treitschkes Vorschläge zur Assimilation der Juden- die waren ohnehin viel zu sperrig, um etwa im Stürmer Raum zu finden.
 
Carl von Ossietzky hatte bereits am 27.09.1921 in der Berliner Volkszeitung die Nazis als mehr als nur eine obskure "Krakeelerbande und Stuhlbeingarde" bezeichnet, sondern, vorheriges als "Irrtum" bezeichnend, herausgestellt, dass es sich um einen "äußerst raffiniert arbeitenden und äußerst skruppellosen Geheimbund und eine Stoßtruppe der Gegenrevolution und ein Sammelsurium von disparaten und zu allem fähigen Burschen" handele. Da war die Partei noch ziemlich unbedeutend. Aber von Ossietzky hat mit dem, dem er widersprach, das zum Ausdruck gebrahct, was man über die Nazis dachte: "Krakeelerbande und Stuhlbeingarde." Von Ossietzkys Artikel dürfte ziemlich wirkungslos verpufft sein.
 
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