Wie ernst können wir die Anthropologie nehmen?

Dr. Iotchev

Mitglied
Warum ich dieses Thema gerade hier eröffne? Weil gerade in der Geschichstforschung Osteuropas, wenn es um die Bestimmungen von Ethnien geht, das anthropologische "Argument" ein oft benutztes Mittel ist um ideologisch fragwürdige Thesen zu unterstützen. Als Kontaktzone der europiden und mongoliden Großrasse ist der Raum Osteuropa/Westasien zudem noch ein besonders brisantes Gebiet und bietet viele gute Beispiele für manipulative Argumentation und Schwarz-Weiß-Zeichnungen auf schwammiger Grundlage.

Ich würde dieses Thema aber auch nicht eröffnen, wenn die biologische Anthropologie ad absolutum schwachsinnig wäre. Natürlich birgt sie die Gefahr in Rassismus auszuarten. Zumindest wenn man sich von der Beschreibung der Äußerlichkeiten wegbewegt und den Versuch wagt Zusammenhänge zum Innenleben des Menschen zu erkennen.

Doch selbst bei der Analyse äußerer Merkmale ist die Grenze zwischen begründeter und schwachsinniger Kategorisierung sehr schwammig. Einerseits ist es eine unbestreitbare Offensichtlichkeit, dass das Äußere des Menschen nicht nur stark variieren kann, sondern dies auch scheinbar eine Anpassung an seiner Umwelt darstellt. Da Menschen aber schneller ihre Heimat wechseln, als ihr Aussehen gibt uns hier die Anthropologie ein ernstzunehmendes Werkzeug, um den Beginnort einer Völkerwanderung festzulegen (z.B.). Schwachsinniger oder zumindest schwieriger wird es die äußeren Erscheinungstypen in präzysen Fächern zu ordnen. Man kann zwar die ins Auge stechenden Unterschiede zwischen Großrassen nicht ignorieren und innerhalb der weißen Rasse fallen dann Unterschiede in dem Anteil an hellhaarigen gegenüber dunkelhaarigen in verschiedenen europäischen Populationen gut auf, aber darüber hinaus wird es sehr abenteuerlich und gewagt, wenn z.B. plötzlich die Rede ist von 20-30 verschiedenen Subrassen pro Großrasse... dann weiß ich nicht was ich davon halten soll...
 
Dreimal kommt in deinem Text "schwachsinnig" vor. Dazu der Titel als Frage.
 
Lies meinen Text bitte nicht mit einem Aufe ;).
Ja es gibt Sachen die ich in der Anthropologie schwachsinnig finde, aber ich habe auch argumentiert warum sie ein hilfreiches Werkzeug sein kann.
 
Dr. Iotchev, die Anthropologie wie du sie beschreibst, ist seit 50 Jahren mausetot. Eine Einordnung in Rassenkreise mit Hilfe von Messinstrumenten und Farbtafeln nimmt kein seriöser Wissenschaftler mehr vor. Dafür haben wir die moderne Genetik, die letztendlich zeigt, wie extrem wir miteinander verwandt sind - fast wie eine Reinlinien-Zucht bei Goldhamstern.
 
Naja so mausetot sollte sie vielleicht sein, ist sie aber nicht.
Sogar in 2005 erschienene Bücher über die Abkunft der Protobulgaren liest man Sätze wie "Sie waren meist brachiocrane Europide mit leichten mongolischen Einschlag"

Natürlich ist die Verwandschaft stärker als die Variation, aber das liegt auch daran dass das menschliche Genom eine sehr kleine Variabilität besitzt. Die Gene die unser typisches Erscheinungsbild beeinflüssen, so die Gene für Augenfarbe etc. sind dabei ein ganz kleiner Anteil unseres Gesamterbgutes.

Dennoch: Menschen in verschiedenen Gebieten zeigen äußerlich auffallende Gemeinsamkeiten zu einander und Unterschiede zu anderen Populationen. Das ändert zwar nichts an ihrer Verwandtschaft wirft aber die interessante Frage auf, ob dieses Erscheinungsbild ein Ergebnis von Anpassung oder von Vermischung ist.

Ein gutes Beispiel ist das typische indische Erscheinungsbild. Die dunkle Haut und Haarfarbe ist zweifellos eine Anpassung, während die europäischen und mongolischen Gesichtszüge eher auf Vermischungsprozesse zurückgeführt werden können.
 
@Dr. Iotschev: Sogar in 2005 erschienene Bücher über die Abkunft der Protobulgaren liest man Sätze wie "Sie waren meist brachiocrane Europide mit leichten mongolischen Einschlag"

Ja, wer hat das geschrieben? Vermutlich ein alter pensionierter Professor, der auf dem Stand von 1960 ist, falls es nicht eine Neuauflage aus dieser Zeit ist.
 
Dr. Iotschev: Dennoch: Menschen in verschiedenen Gebieten zeigen äußerlich auffallende Gemeinsamkeiten zu einander und Unterschiede zu anderen Populationen. Das ändert zwar nichts an ihrer Verwandtschaft wirft aber die interessante Frage auf, ob dieses Erscheinungsbild ein Ergebnis von Anpassung oder von Vermischung ist.

Ein gutes Beispiel ist das typische indische Erscheinungsbild. Die dunkle Haut und Haarfarbe ist zweifellos eine Anpassung, während die europäischen und mongolischen Gesichtszüge eher auf Vermischungsprozesse zurückgeführt werden können.
Genau da bin ich mir nicht so sicher. Dann müsste die indische Brahmanen-Kaste genauso dunkel sein wie die Drawidas oder Munda-Kol-Völker. Tatsache ist, dass die indische Oberschicht wesentlich heller ist und dies auch als Schönheitsideal propagiert wird. Schau dir die Schauspieler in einem typischen Bollywood-Film an, wie typische Inder vom Lande sehen die bei Gott nicht aus, eher europid- mediterran. Die sexuelle Selektion sollte man nicht unterschätzen. Wäre es nur "Anpassung" hätten die Tasmanier hell sein müssen wie Europäer. Bekanntlich waren sie extrem dunkel, trotz des dortigen Klimas und der langen Besiedlungsgeschichte.
 
... müsste die indische Brahmanen-Kaste genauso dunkel sein wie die Drawidas oder Munda-Kol-Völker ... indische Oberschicht wesentlich heller ... als Schönheitsideal propagiert ... typischen Bollywood-Film .... wie typische Inder vom Lande ..., eher europid- mediterran ... sexuelle Selektion ... nur "Anpassung" ... Tasmanier hell sein müssen wie Europäer. ... extrem dunkel, ....

Da diese Diskussion ja schon anfängt, in die Pigmentierungs- und Anatomielehre abzudriften, vielleicht ein Kompromissbeitrag in Richtung Metadiskussion: "Anthropologie - gut oder böse?"

Ausgangspunkt: Menschengruppen lassen sich an physiologischen und genetischen Unterschieden voneinander trennen. Diese Tatsache ermöglicht Anhaltspunkte darüber, woher sie stammen, welche Verwandtschaften unter den Menschen auf der Erde bestehen und wie sich der menschliche Körper an naturräumliche und kulturelle Begebenheiten anpasst.

Was die Anthropologie nicht kann:

- Ein Individuum zweifelsfrei nach wenigen äußerlichen Kriterien einer "Rasse" zuteilen.
- Von der Physiognomie auf die ethnische (kulturelle) Zugehörigkeit schließen.
- Heutige Menschheitsklassen 1 zu 1 in historische Völker ummünzen.

Das machen seriöse Anthropologen m.W. auch nicht.

Manchmal wird mir auch etwas zu "monokausal" gedacht. z.B. bei der Diskussion um das Sprachvermögen des Neandertalers. Oder bei der Frage nach der Lactose-Verträglichkeit. Ich kann mir aber wiederum vorstellen, dass die Forscher das garnicht so einseitig sehen, sondern einfach die Presse die Öffentlichkeit mit diesen "einfachen Erklärungen" bedient. Und dem Forschungsetat tut es sicherlich auch gut, wenn man sagt, man sei einem Schlüsselphänomen auf der Spur.
 
Manchmal wird mir auch etwas zu "monokausal" gedacht. z.B. bei der Diskussion um das Sprachvermögen des Neandertalers.


In wie fern "monokausal"? Ich habe vor eineinhalb Jahren mal einem Genetiker gelauscht, als er beschrieb, warum man davon ausgeht, dass bei den Neandertalern das Sprachvermögen als relativ gering betrachtet wird.

Zum einen ist das Sprachzentrum (wie wir es von "modernen" Menschen kennen) wesentlich kleiner im Verhältnis zur restlichen Gehirnmasse, zum anderen lässt sich anhand der Anatomie in etwa die Stellung des Kehlkopfes bestimmt und das wiederum wirkt sich extrem auf die Artikulation aus. Dies kann man auch heute noch bei Kleinkindern beobachten, sie lernen erst, sich korrekt und vollständig zu artikulieren ab ca. dem dritten bis vierten Lebensjahr... weil erst in diesem Zeitraum der Kehlkopf ein wenig im Hals "nach unten rutscht" und somit die beim Erwachsenen typische 90° haltung zwischen Mundhöhle und Luftröhre bildet.

Was das Sprachzentrum im Gehirn angeht, kann man dies bei Primaten recht gut beobachten, die zwar sprachliche Kapazitäten aufweisen (das erlernen von Zeichensprachen, z.B.) aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt, eine komplexe Grammatik, wie sie von Menschen benutzt wird, ist für sie nicht greifbar und nicht anwendbar.

Ds heißt nicht, dass sie nicht untereinander kommuniziert haben, nur eben nicht wie die "modernen" Menschen, mit komplexer Grammatik und Artikulation.

So wurde es mir damals erklärt, ich bin aber dankbar, wenn mich jemand auf einen darin liegenden Fehler aufmerksam machen könnte, so denn einer enthalten ist. :)
 
In wie fern "monokausal"?

Die Neandertaler-Threads müssen wir an dieser Stelle nicht fortführen. Ich meinte, dass sich eben nicht aus einer anatomischen Tatsache (sei es der Kehlkopf oder die Sprachregion im Hirn) das Aussterben des Neandertalers bzw. den Entwicklungsvorsprung des Cro Magnon fest machen lässt.
 
Nur nebenbei bemerkt, weil ich jetzt zu faul bin den Neandertaler Thread zu suchen: Die Gehirnanatomie ist kein Beweis! Ich studiere Psychologie und es ist heute nachgewiesen dass Graupapageie Wörter auf einer abstrakten Ebene lernen können, diese Vögel besitzen aber nichtmal einen richtigen Neocortex (Das ist die Rinde in der sich das Sprachzentrum befindet).

Zurück zum Thema: Inwieweit beeinflussen sexuelle Selektion und Klimaumgebung sich gegenseitig? Wenn man die biologische Prämisse nimmt von der Attraktivität des gesunden Partners, dann sind auch die Partner besonders beliebt, die in der gegebenen Umgebung am gesündesten bleiben, also am besten angepasst sind. Für Abweichungen müssen wir alternative Erklärungen suchen. Die Liebe zum fremdartigem, exotischen ist zum Beispiel eine Eigenschaft, welche die sexuelle Selektion in andere Bahnen lenken kann, als die durch das Kriterium der Angepasstheit vorgegebenen. Zusätzlich ist lustigerweise die Eigenschaft der Xenophilie (Fremdenliebe) selbst eine durch die Umgebung beeinflussbare. Menschengruppen deren Überleben von Neuerungen und Änderungen in besonderem Maße abhing/abhängt sind möglicherweise auch eher dazu geneigt (gewesen) anders aussehende Partner zu wählen und bilden somit die Grundlage äußerlich stark gemischter Gesellschaften.

Bestes Beispiel sind die zentralasiatischen Nomaden, die gerne auf ihre Raubzüge durch China, Persien und Germanien auch Frauen für ihre Harems raubten. Diese Nomaden sind in Bezug auf ihr Äußeres besonders schwer in Schubladen zu stecken, aber scheinbar sind gerade diese Völker mit ihrer verwirrenden Variabilität im Aussehen ein besonderer Reiz für die rassistisch gesinnten Anthropologen Osteuropas. Da sich hierbei nichtmals eine klare Tendenz feststellen läßt (die Anthropologie, wie der Pope schon sagte, ist scheinbar nur im Aufzeigen von Tendenzen ernst zu nehmen) bietet sich hier viel Raum für Interpretation und Manipulation und das ist den Osteuropäern und Westasiaten, als Erben der Nomaden, nur allzu willkommen, denn je nach politischen Trend oder Anschauung lässt sich mal die europäische, mal die asiatische Wurzel anthropologisch "untermauern".
 
@Pope: Um das noch einmal klar zu stellen: Es war und ist nicht meine Absicht, über Pigmentierung eine Diskussion fortzuführen, über sexuelle Selektion beim Menschen könnte lohnender sein (Wobei dies ist nicht zu trennen.). Sollte nur eine Antwort auf @Dr. Iotschev etwas unglückliches Indienbeispiel sein. Über Protobulgaren wurde ja auch schon reichlich diskutiert. Ansonsten siehe Beitrag 4 + 6. Diesen Strang weiter zu verfolgen macht wenig Sinn solange keine neuen Aspekte diskutiert werden, alles schon da gewesen.:fs:
 
Zuletzt bearbeitet:
Über Sinn und Unsinn der Anthropologie kommt man oft zu sprechen in verschiedenen historischen Diskussionen. Dieser Thread war von mir aber dazu gedacht, um ein eher allgemeines, differenziertes Resüme über die anthropologische Ansicht exemplarisch in den Raum zu stellen. Sodass, wenn in Zukunft anthropologisch argumentiert wird, man auf die herausgearbeiteten Ergebnisse von diesem Thread zurückgreifen kann oder darauf verweisen kann. Das Thema alleine für sich zu zerlegen, ohne konkreten Bezug auf ein bestimmtes historisches Problem hat den Vorteil, dass die Vor- und Nachteile auf einer abstrakten Ebene sichtbar werden und so kann ein Grundmuster zum Umgang mit anthropologischen Argumenten entstehen, die ja nicht immer nutzlos sind (z.B. im Aufzeigen von Tendenzen gut).
 
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