Wie ich Angela Merkel aus der Patsche half (ein ganz klein wenig)

collo

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Jeder kann sich noch an die Flüchtlingswelle von 2015 erinnern, schier endlose Trecks vonvMenschen, die zu Fuß über den Balkan nach Deutschland kamen. Meine damals 88-jährige Mutter fühlte sich bei diesen Bildern an ihre eigene Flucht 1945 aus Schlesien erinnert.

Eine Behörde stand damals im Mittelpunkt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF genannt. Schon Jahre vor 2015 hatte der damalige Präsident Manfred Schmidt auf die mangelhafte Personalausstattung bei gleichzeitig steigender Zahl an Asylanträgen hingewiesen. Der Rückstand betrug Mitte 2015 eine Viertelmillion unbearbeiteter Asylanträge, vor der eigentlichen Flüchtlingskrise.

Zwar wurde die Anzahl der Dienstposten mehr als verdoppelt, von 2300 Ende 2014 auf 4800 Ende 2015, aber Dienstposten einrichten und den Dp mit einer realen Person besetzen sind zweierlei Dinge.

Und auch das war Ende 2015 viel zu wenig, der Rückstand war auf mehr als 500.000 unbearbeitete Asylanträge angewachsen. Deshalb wurden für 2016 weitere 1500 feste und 1000 vorübergehende Stellen genehmigt.

"Wir schaffen das" drohte an der ersten bürokratischen Hürde zu scheitern.

Und da kam ich ins Spiel. Schon die neuen Stellen von 2015 konnten nicht alle besetzt werden und dir 2500 Posten in 2016 waren ohne "Amtshilfe" nicht zu besetzen.

Es gab aber einen Bereich, der seine Beamten loswerden wollte, die sog. Postnachfolgeunternehmen, Telekom und Post also.

Ende 2015 erfolgte bei der Post ein Aufruf an alle Beamten des mittleren und gehobenen Dienstes, sich bei Interesse für eine Abordnung zum BAMF zu melden, mit der Möglichkeit versetzt zu werden.

Kurze Erläuterung, eine Abordnung ist eine vorübergehende, eine Versetzung eine dauerhafte Maßnahme.

Ende 2015 war ich ziemlich unzufrieden bei der Post, das letzte Projekt, an dem ich beteiligt war, war gerade beendet worden und ich hing in einer ungeliebten Tätigkeit fest (Budget und Controlling). Also meldete ich mein Interesse im Januar 2016 an.

Da ich allerdings schon in der Endstufe der Laufbahn war, wurde ich nicht berücksichtigt. Verständlich, welcher Personalrat verbaut sich die Beförderungsmöglichkeiten durch einen Neuzugang.

Ok, damit war die Sache für mich erledigt. Im Juni erhielt ich dann einen Anruf des Koordinators der Aktion auf der Postseite. Ob ich immer noch zum BAMF gehen würde.

Zwar "nur" für zwei Jahre abgeordnet, aber der Bedarf sei so groß, wer weiß, ob nicht doch eine Versetzung drin sei. Zum ersten Juli sollte es losgehen. Da war aber schon unser Urlaub geplant. Deshalb fing ich erst am 1.9.2016 beim BAMF an.
 
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Wir waren 16 m, frisch von der Uni bis Ende 60, Betriebswirt, Anwälte, deren Kanzleien nicht mehr liefen, halbe Juristen mit nur einem Staatsexamen, Politologen, Philologen, 3 Telekombeamte und ich von der Post.

7 von uns hatten Migrationshintergrund, 2 davon waren als Kinder mit ihren Eltern geflohen, 2 als Kinder von Flüchtlingen in Deutschland geboren worden.

Die Außenstelle Bonn befindet sich in der ehemaligen Ermeskeilkaserne in Bonn. Für die Geschichtsinteressierten hier, das war der erste Amtssitz des Verteidigungsministeriums (und dem Vorläufer "Amt Blank").

Die ersten anderthalb Wochen waren der Organisation und dem "Selbststudium" vorbehalten, die Altgedienten hatten keine Zeit für uns.

"Altgedient" war ein Euphemismus, bis auf 2 waren alle erst im Laufe von 2016 zum BAMF gekommen, mit ähnlichen Hintergründen wie wir. Die beiden echten BAMFler hatten gemeinsam eine Dienstzeit von 6 Jahren.

Nach anderthalb Wochen hatten wir dann in Köln einen zweiwöchigen Lehrgang. Die Dozentin war ebenfalls nicht vom Fach, kam aber aus der Erwachsenenbildung und hatte ein knappes Jahr Vorsprung vor uns.

Unsere zukünftige Aufgabe sollten die Rollen "Anhörer" und "Entscheider" sein.

Ein Anhörer macht genau das, er hört sich an, was der Asylsuchende für Gründe vorträgt, warum er nach Deutschland gekommen ist.

Der Entscheider entscheidet, ob dem Antrag azf Asyl stattzugeben ist oder ein anderes Schutzrecht greift oder ganz abzulehnen ist.

Wir sollten beide Rollen ausüben, eine Anhörung durchführen und über den Antrag entscheiden.

2015/16 musste jeder Flüchtling/Neuankömmling ohne Visum einen Antrag auf Asyl nach Art. 16a GG stellen, wenn er hierbleiben wollte. Es gab kein automatisches Aufenthaltsrecht als Kriegsflüchtling, wie es jetzt für Flüchtlinge aus der Ukraine gilt.

Die erste Lehrgangswoche drehte sich um die rechtlichen Grundlagen, Grundgesetz, Genfer Flüchtlingskonvention, Asylverfahrensgesetz, Aufenthaltsgesetz und zugehörige Vorschriften. Wie tief das in einer Woche ging, kann sich jeder denken.

Die zweite Woche dann ein wenig Psychologie und Rollenspiele. Jeder war mal Flüchtling, die Dozentin verteilte stichwortartige Fälle an uns.

Das sehr, sehr grobe Rüstzeug hatten wir also. Zurück in Bonn waren dann die beiden alten Hasen soweit freigeschaufelt worden, dass wir von ihnen vormittags weiter unterrichtet wurden, an echten Vorgängen.

Und wir erhielten eine Einweisung in das System Maris. Schon seit 2004 wurden die Akten digital verarbeitet. Es gab zwar immer noch Papierakten, die wegen Unterschriften und Dienstsiegel benötigt wurden, aber das meiste war elektronisch abgespeichert.

Nachmittags saßen wir dann als Beobachter in Anhörungen mit dabei. Was eng werden konnte, 1 Anhörer, 1 Dolmetscher, 1 Lehrling, 1-3 Asylsuchende (eine Frau brachte ihre neugeborenen Zwillinge mit).
 
In den ersten Monaten ging es vor allem darum, die Anhörungen schnellstmöglich durchzuführen.

Eigentlich war der Zeitablauf eigentlich so gedacht:

In der Erstaufnahmeeinrichtung (in Bonn auf dem gleichen Gelände) erfolgt die Erfassung, Papiere ( falls vorhanden), Foto, Fingerabdrücke, bestimmte weitere persönliche Daten (z.B. Verwandte in Deutschland). 2015 kam man auch damit nicht nach.

Sehr bald danach, noch in der Erstaufnahme, dann die Anhörung, mit "frischen" Erinnerungen ( und ohne Möglichkeit, sich eine gute Story auszudenken). Ein paar Wochen später dann die Entscheidung.

Als wir im September anfingen, war die Erfassung der 2015er Flüchtlinge gerade mal abgeschlossen und die der 2016er lief.

In den Anhörungen saßen Leute, die ein Jahr zuvor geflohen waren.

Eine Anhörung verlief so ab. Wir schauten uns die Akte der Person an. Gab es eine Verbindung zu einem anderen Antragsteller, dann auch desden Akte (und dessen Anhörung, wenn vorhanden), dann verständigten wir den Dolmetscher, dieser holte die Person aus dem Wartebereich ab und brachte sie ins Büro.

Zunächst wurde die Identität überprüft, etwas Smalltalk zur Auflockerung, dann die Belehrung mit vorgebenem Wortlaut, was passiert jetzt, wahrheirsgemäße Angaben, dass das noch nicht die Entscheidung ist.

Dann die ersten Fragen, wo wohnte man, familiäre Situation, Beruf, Fluchtweg. Dann durfte der Antragsteller die Fluchtgründe darlegen. Wir tippten fleißig mit, in indirekter Rede, was der Dolmetscher übersetzte. Und stellten Fragen, wenn uns etwas unklar war.

Die Kommunikation über Dolmetscher war gewöhnungsbedürftig. Und nicht immer klappte es, ich hatte vorher keinen blassen Schimmer das es nicht "ein" kurdisch gab, sondern drei. Oder dass sich das Arabische in Syrien deutlich vom algerischen unterscheidet.

Eine Anhörung ist kein Verhör, d.h. wir haben den Erzählungen nicht widersprochen oder gesagt, dass ist jetzt aber gelogen. Wenn uns etwas verdächtig vorkam, mussten wir entsprechend nachhaken

Zum Schluss musste alles ausgedruckt werden, der Dolmetscher übersetzte das Ganze, dann wurde von uns drei unterschrieben. Verabschiedung,

Nach rund zwei Wochen zugucken, durften wir, unter Aufsicht eines Mentors, selbst eine Anhörung durchführen.
 
Ende Oktober wurde aus der Außenstelle Bonn das "Entscheidungszentrum West". Der Schwerpunkt verlagerte sich von der Anhörung zur Entscheidung nach Aktenlage.

Zwar wurden immer noch Anhörungen durchgeführt, aber nur noch die der Neuzugänge in der Ersraufnahme.

Die Trennung Anhörung - Entscheidung war beabsichtigt, keine Entscheidung nach Sympathie oder Emotionen (es war nicht immer leicht, bei einer Anhörung neutral zu bleiben, wenn das Gegenüber in Tränen ausbricht).

Das Maris-System war klasse. Das ganze Juristendeutsch war als Textbausteine vorgegeben. Wir mussten nur noch die Daten eingeben und Zitate aus der Anhörung sowie unsere Begründung, warum wir das so bewerten.

Ungefähr so, "der Antragsteller konnte glaubhaft darstellen, dass..."

Glaubhaftigkeit war das Schlüsselwort. Erschien etwas nicht koscher, z.B. das Datum eines Angriffs, konnten wir auf verschiedene Quellen zugreifen, heute "Osint" genannt. Aber auch Hintergrundinfimstionen in länderspezifischen Datenbanken, z.B. das eritreische Erziehungssystem.

Gab es Querverbindungen, was hat der Ehepartner erzählt. Wie wurde beim Bruder entschieden.

Auch wenn wir keine Richter waren, die Entscheidung wurde im Urteilsstil verfasst:

Um wen geht es

Wie wird enschieden

Begründung

Die Begründung erfolgte nach Wertigkeit des Schutzrechtes. Zuerst wurde geprüft, ob politisches Asyl gewährt werden kann, jede Voraussetzung musste erfüllt sein.

Dann die einzelnen Voraussetzungen der Genfer Flüchtlingskonvention, hier galt es einezu finden, die zutrifft

Wenn nicht, dann der subsidiärer Schutz, droht im Heimatland Gefahr für Leib, Leben und Freiheit.

Wenn wieder nicht zutreffend zuletzt humanitäre Abschiebehindernisse, z.B. schwere Erkrankung, Kinder

Wenn das auch nicht zog, musste der Antrag in Gänze abgelehnt werden und es wurde die Ausreise angeordnet.

Eine Ablehnung konnte gerne über 30 Seiten Papier bedeuten, eine Anerkennung als Flüchtling weniger als 10. Es musste ausgedruckt werden, die Flüchtlinge bekamen die unterschriebenen und gesiegelten Bescheide per Post. Maris erzeugte auch automatisch eine Kurzfassung (ohne meine Begründungen oder Zitate) in der Landessprache, die jedoch keine Rechtskraft besaß.

Im April 2017 teilte man mir mit, dass meine Abordnung vorzeitig zu Ende Mai beendet würde. Der Berg war soweit abgebaut, dass wir "Leiharbeiter" gehen konnten.

An einem meiner letzten Tage erhielt ich die Akte einer türkischen Wissenschaftlerin, die an einer, angeblich der Gülen-Bewegung nahestehenden Hochschule gearbeitet hatte. Als die türkische Regierung im Nachgang zum Putschversuch die Hochschule schloss und etliche Professoren und Angestellte festnehmen ließ, war sie auf einem Kongress in Deutschland.

Das war das einzige Mal, dass ich auf politisches Asyl nach Art. 16a GG entscheiden konnte.

Wie viel ich in dem halben Jahr, in dem ich effektiv beim BAMF vom Berg abgearbeitet habe, weiß ich nicht mehr, es werden so 150-200 Fälle gewesen sein.

So komisch es klingt, mir hat die Arbeit Spass gemacht, weil sie im wahrsten Sinn Sinn-voll war und weil es mich intellektuell in einem ganz neuen Gebiet gefordert hat.

Ich war aber auch froh zu gehen, auf Dauer wäre ich vermutlich abgestumpft und in eine Routine verfallen.
 
Boah, ist ja fast ein Roman geworden...

Ich wollt noch mal die unterschiedlichen Schutzformen verdeutlichen

Erste Klasse ist politisches Asyl. Dazu darf man aber nicht über sichere Drittstaaten nach Deutschland kommen (denn Asyl hätte man dort auch beantragen können) und Deutschland ist von sicheren Drittstaaten umzingelt. Also nur wer einen Direktflug genommen hat oder, wie meine türkische Wissenschaftlerin, zufällig in Deutschland war, hat die Chance auf Asyl.

Nach dem Fall habe ich dann gesagt, was besseres kommt nicht mehr und alles abgegeben.

Flüchtlingsstatus erhielten die Menschen, die schon Schaden im Heimatland erlitten hatten. Also selbst verwundet wurden, nahe Angehörige verloren hatten, ausgebombt oder vertrieben wurden.

Das waren dann durchaus heftige Geschichten, wenn dir die Mutter erzählt, wie sie Kind aus den Trümmern gegraben hat oder Du die Fotos von den Folterspuren siehst. Ungefähr ein Viertel der Syrer bekam diesen Status (Syrien hatte vor dem Bürgerkrieg eine intakte Verwaltung).

Subsidiärer Schutz war zu gewähren, wenn es wahrscheinlich war, dass "Gefahr für Leib, Leben und Freiheit" bei Rückkehr hoch ist. Wie in einem Kriegsgebiet eben.

Humanitäre Gründe als Abschiebrverbot waren minderjährige Kinder, die keine Schulbildung erhalten würden, oder Erkrankungen, die nicht behandelt werden würden, genauso Behinderungen, mit denen man nicht arbeiten könnte oder hohes Alter. Afghanische Familien bekamen meistens dies zugedprochen, alleinstehende afghanische Männer unter 50 nicht.

Weil die Frage sich aufdrängt, ich hab bestimmt einem Viertel der Antragsteller keinen Schutz zuerkannt und die Ausreise angeordnet. Das fiel dann nicht mehr ins Aufgabengebiet des BAMF, sondern war Ländersache (es lebe der Föderalidmus).
 
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