die Grundidee [...], gesellschaftliche Entwicklungen im Zusammenhang mit der Kindererziehung - und deren Änderungen - in der entsprechenden historischen Periode zu betrachten
In der Tat, eine äußerst interessante Fragestellung; Und je interessanter die Fragestellung, um so seltsam mutet denn auch die die schlußfolgernde These von L. de Mause an:
die These [...], dass die Kindererziehung im Laufe der zunehmenden Entwicklung der Gesellschaft immer "besser" wird, nämlich weniger brutal, strafend, angsterzeugend, traumatisierend, dafür mehr mitfühlend, unterstützend und liebevoll, was die Entwicklung der Individualität der Kinder unterstützt.
Deine Skepsis ist daher auch sehr angebracht. Ich will mir einmal deine eigene (Gegen-) These anschauen:
]1. Es besteht in der Tat ein enger Zusammenhang zwischen Gesellschaftsform und Kindererziehung.
2. Der Zusammenhang ist rekursiv : Die Art der Kindererziehung beeinflusst die daraus erwachsende Gesellschaft UND in einer sich ändernden Gesellschaft ändert sich die Kindererziehung, die wiederum ...usw. (Henne-Ei-Prinzip).
3. Jede Gesellschaftsform - und die zu ihrer Aufrechterhaltung praktizierte Kindererziehung - stellt das zum Überleben unter den gerade gegebenen Randbedingungen kollektiv gefundene Optimum dar.
4. Bei Veränderungsprozessen kann sich durchaus eine gewisse Trägheit in der Anpassungsgeschwindigkeit des Erziehungspraxis-Gesellschaftsform-Zyklus' bemerkbar machen, was zu gewissen Spannungen führen kann.
5. Der Übergang von nomadischen Ziegenhirten zu den ersten Hochkulturen musste vermutlich erkauft werden mit einer enormen Repressivität in der Kindererziehung. Eine Hochkultur zu erreichen erfordert die Implantation eines einheitliche Rasters an Neurosen und Ängsten bei den Kindern, die wiederum zu einem System von Glaubenselementen, Tabus und moralischen Werten (= Ängsten) bei den Erwachsenen führt, denn nur so lässt sich ein "Funktionieren" jedes Individuums in der anspruchvollen neuen gesellschaftlichen Struktur gewährleisten.
Angenommen ist gibt tatsächlich einen "engen Zusammenhang", möchte ich fragen, inwieweit sich dieser auf irgendeine Weise präzise fassen läßt:
In These 2 sprichst du von einem Einfluß der Kindererziehung auf die Gesellschaft, deren Änderung auf jene Praxis zurückwirkt. Damit deutest du eine konsequente Gegenthese zu De Mause an, die du gleichzeitig aber relativierst, wenn du ergänzend das Henne-Ei-Prinzip einwirfst, denn damit willst du anscheinend einer (auch im späteren Beitrag explizit verworfenen) Determinismus-These entgegentreten.
Im Kontext von De Mause psychogenetischer Theoriediskussion konkret formuliert: Du relativierst also - möglicherweise z. T. wenigstens zu recht - die meiner Ansicht nach eigentlich interessante Gegenthese, daß der soziale Wandel eben nicht durch Anderung der Erziehungspraxis, sondern umgekehrt, daß die Änderung der Erziehungspraxis durch den sozialen Wandel selbst erst hervorgebracht wird.
Mit These 3 bleibst du offensichtlich im von Lloyd de Mause gesetzten Bezugsrahmen der Evolutionstheorie, wobei meine kritische Frage wäre: Kann die Evolutionstheorie überhaupt adäquat sozialen Wandel erklären? Unabhängig davon aber wäre eine plausible Annahme, daß sich eine Gesellschaft in der Tat auf ein Sozialisationsmodell einpendeln kann.
In These 4 muß man dann diesen Evolutionismus nicht unbedingt reinlesen. In meinen Kommentar dazu möchte erklären, warum ich dir oben zur 2. These nur mit Einschränkung recht gebe möchte: Ich würde in Anlehnung an Ariès einen unterschied zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften machen. Letztere wären durch höhere Komplexität gekennzeichnet und erst zeigen sich entsprechend Spannungen und im öffentlichen Diskurs ausgehandelt werden. Bei weniger komplexen Gesellschaften würde ich solche Spannungen für weniger relevant bis nicht existent vermuten, daher die Einschränkung.
Was du nun als Hochkulturen bezeichnest, würde ich als "moderne Gesellschaft" ansehen wollen, wobei ich bei These 5 ergänzen möchte, daß der Übergang mehere - aber mindestens in zwei - Schritte zerfällt. Repression in der Erziehung wird möglicherweise dann wichtig, wenn sich die Gesellschaft meiner Ansicht ausreichend differenziert hat, daß die Kinder des eigenen Standes auch die Tradition aufrecht zu erhalten haben, vor allem aber, wenn Sozialisationsmodellen von anderen Schichten übernommen werden (hiermit beziehe ich mich implizit auf die Zivilisationstheorie von Norbert Elias).
6. Ich stimme nicht zu, dass sich die Gesellschaften zu immer "höheren" Formen entwickelt hätten. Zwar ist unsere heutige westliche Gesellschaft technisch so hoch entwickelt wie nie eine andere vor ihr. Aber : Die Interaktion und die Interdependenz zwischen den Individuen hat stark abgenommen, ebenso die gesellschaftliche Struktur in dem Sinne, dass jeder einen bestimmten Platz - gestaffelt nach Familie, Alter, Geschlecht oder Verwandtschaftsgrad,... - einnehmen muss. Auch die religiösen und moralischen Imperative sind schwächer geworden.
7. Den Megatrend der Gesellschaftsentwicklung sehe ich daher in Richtung eines ständig abnehmenden Organisationsgrades.
Es bedarf einer wesentlich stärker strukturierten Gesellschaft mit stärkerem Gruppenzwang und stärkerer Delegation von Individualität an die Gruppe, wenn man zum Überleben das Mammut jagen muss, als wenn man zum Abendessen eine Dose Ravioli an der Tanke holt.
8. Da die stattgefundene Aufeinanderfolge von Gesellschaftsformen in den westlichen Staaten zu zunehmendem Wohlstand geführt hat, können wir uns einen geringeren Organisationsgrad leisten, und daher können wir uns auch eine stärkere Individualität leisten, und damit wiederum eine liberalere Kindererziehung.
Deine letzten Thesen klingen ja sehr kulturpessimistisch, was gewissermaßen sympathisch ist, aber gleichzeitig schon in Zeitgeschichte mündet. Nichts desto weniger wird hier ein Determinismus impliziert: daß nämlich die Gesellschaftsform - hier sprichst du vom Organisationsgrad - sozusagen die Erziehungspraxis bestimmt! Was auch immer die Gründe sind für Kulturkritik, läßt sich die pädagogische Praxis als "liberal" bezeichnen? Hier wären erst einmal systematischen Untersuchungen zu fordern, um überhaupt darüber diskutieren zu können. Da es sich aber wirklich um Zeitgeschichte handelt, erscheint mir das letztendlich aber zu schwierig. Die These einer liberaleren Erziehung erinnert mich ein wenig an De MAuses sozialromantische Behauptung einer zeitgenössischen unterstützenden Erziehungstendenz.
Ich hingegen würde lieber über die Frage diskutieren : Hat sich die menschliche Gesellschaft in den letzten 5.000 Jahren in Richtung auf eine höhere oder in Richtung auf eine niedrigere Form von Interaktion entwickelt ?
Bedenke ich diese zielsetzung, ist der Anschluß an den Thread über Lloyd de Mause zu bedauern. In dieser knappen Version formuliert, finde ich die Frage gar nicht beantwortbar; man müßte sehr präzise zu fassen versuchen, was mit "Interaktion" gemeint ist und diese historisch kategoriesieren, vergleichen und prüfen, ob es Zuwächse oder Verminderungen solcher Interaktionsformen gibt.
Ich werde also meine Frage neu stellen und dabei versuchen, sie brutalstmöglich zu vereinfachen. [...]
Die Frage lautet also :
Hat unsere heutige Gesellschaft einen höheren oder einen niedrigeren Entwicklungsgrad als frühere Gesellschaftsformen ?
These 1 (-> höher) : Unsere westliche Gesellschaft hat ein technisches Niveau und einen Wohlstand erreicht wie nie eine andere zuvor. Dies ist gegenüber dem 19. Jahrhundert oder den Germanen allein auf die gesellschaftliche Entwicklung zurückzuführen (der Mensch als solcher ist sicherlich nicht klüger geworden). Unsere Gesellschaft kann deshalb als hoch entwickelt angesehen werden.
These 2 (-> niedriger) : Ein heutiger Mensch ist weniger abhängig von seinen Mitbürgern als vor 200(0) Jahren, braucht nicht mit ihnen zu interagieren, muss sich kaum in eine gesellschaftliche Hierarchie einfügen und braucht an keinen Gott zu glauben, muss nur wenig von seiner individuellen Freiheit an die Gesellschaft abgeben, damit diese funktioniert. Unsere Gesellschaft kann deshalb als niedrig entwickelt angesehen werden.
Frage also : Was stimmt nun ?
Auch diese Frage insofern schwierig zu beantworten, als fraglich ist, wer hier bewertet; was soll Maßstab der Beurteilung werden: die Moralien der gegenwärtigen Gesellschaften und/ oder ihrer praktischen Widersprüche?
Eigentlich komme ich nur zu dem Schluß, daß die Fortschrittsidee so lange problematisch bleibt, als sie gesellschaftlich-ideologisch bedeutsam ist.