Es muss auch bedacht werden, dass nach Mommsen Quirinius zweimal Statthalter in Syrien gewesen sein könnte, wie auch der
schon oben durch Sepiola verlinkte Wikipedia-Artikel etwas unübersichtlich angibt. Das erste Mal wäre dann in die Zeit 11-7 v. Chr. gefallen. Schon entfällt das chronologische Problem.
Theodor Mommsen sprach sich allerdings nicht für eine erste Statthalterschaft des Quirinius um 11-7 v. Chr. aus, sondern für eine um 3/2 v. Chr. Die erstere Datierung stammt ursprünglich von William Mitchell Ramsay. Die Thesen und Hypothesen zu Quirinius in Syrien sind recht zahlreich. Ich hatte mich auch mal mit den Datierungen der syrischen Statthalterschaften beschäftigt. Bei Bedarf kann ich für einzelne Punkte Literatur und Quellen noch mal nachschlagen und nachliefern. Hier nur mal knapp aus dem Gedächtnis meine damaligen „Ergebnisse“ zu den Amtszeiten der Statthalter in Syrien in jener Zeit (in runden Klammern dahinter die jeweiligen Hauptquellen):
bis 13 v. Chr. M. Vipsanius Agrippa als Generalstatthalter des Ostens (Iosephus; Cass. Dio u. a.)
ab 13 v. Chr. bis spätestens ca. 9 v. Chr. M. Titius (Iosephus)
[Laut Ramsay, Bleckmann u. a.: zw. ca. 11-9(/7) v. Chr. P. Sulpicius Quirinius (Homonadenserkrieg bei Tacitus u. Strabon; Lukas; Titulus Tiburtinus)]
ca. 9-7/6 v. Chr. Sentius Saturninus (Iosephus)
ab 7/6 v. Chr. bis frühestens 4 v. und spätestens 1 v./1 n. Chr. Quinctilius Varus (Antiochenische Münzen; Iosephus u. a.)
[Laut Syme, Levick u. a.: zw. 4-1 v. Chr. L. Calpurnius Piso (Titulus Tiburtinus)]
[Laut Mommsen, Emil Schürer u. a.: um 3/2 v. Chr. P. Sulpicius Quirinius (Homonadenserkrieg bei Tacitus u. Strabon; Lukas; Titulus Tiburtinus)]
ab frühestens 2, spätestens 1 v./1 n. Chr. bis 4 n. Chr. Gaius Caesar als praepositus Orienti mit prokonsularischem Imperium (Cass. Dio; Sueton u. a.)
4-6 n. Chr. L. Volusius Saturninus (Antiochenische Münzen)
ab 6/7 n. Chr. Sulpicius Quirinius (Iosephus)
Dass also Quirinius um 6/7 n. Chr. Statthalter in Syrien war, steht aufgrund der Datierung bei Iosephus (37. Jahr nach dem Krieg bei Actium) ziemlich fest.
Aufgrund des Todesjahres des Herodes müsste Lukas nun, wenn sich der Evangelist nicht vertan hat, von einer früheren syrischen Statthalterschaft des Quirinius sprechen als Iosephus es tut (oder wenigstens von einer früheren, ziemlich hohen Amtsstellung des Qurinius in Syrien). Gibt es dafür Indizien?
Der von Riothamus angesprochene Krieg gegen die Homonadenser, den Quirinius in Kilikien führte und der aufgrund von Meilensteinen mit einiger Sicherheit noch vor die Zeitenwende datiert werden kann, bezeugt zumindest schon mal eine Tätigkeit des Quirinius in der Region vor 6/7 n. Chr. (genauso wie seine Rolle als rector des Gaius Caesar im Osten, welche allerdings erst in die Zeit nach dem Tod des Herodes fällt). Da Kilikien damals schon zur Provinz Syrien gehört haben wird, könnte Quirinius den Krieg also als syrischer Statthalter geführt haben. Die unterschiedliche Datierungen dieser früheren Statthalterschaft (entweder zw. 11-7 oder 3/2 v. Chr.) resultieren übrigens aus unterschiedlicher Datierung jenes Krieges.
Außerdem existiert eine Inschrift, der sog. Titulus Tiburtinus, mittels welcher ein Anonymus geehrt wurde, der nach Augustus starb, aber noch unter Augustus scheinbar zweimal (iterum) Statthalter in Syrien war. Damit sahen einige wie z. B. Mommsen eine frühere (Lukas) und eine spätere (Iosephus) Statthalterschaft des Quirinius in Syrien bestätigt.
Gegen die Annahme von der zweimaligen syrischen Statthalterschaft des Quirinius in Syrien lassen sich aber auch Argumente vorbringen:
1. Nach der der bestechend vorgetragenen Meinung von Ronald Syme u. Barbara Levick hat Quirinius die Homonadenser eher als Statthalter der Provinz Galatia-Pamphylia bekriegt; das hat Riothamus auch schon angerissen.
2. Der durch den Titulus Tiburtinus geehrte Konsular muss dem Wortlaut der Inschrift nach nicht zwangsläufig zweimal Syrien vorgestanden haben; seine erste Statthalterschaft könnte er stattdessen auch in einer anderen kaiserlichen Provinz absolviert haben.
3. Die Inschrift wurde nicht nur dem Quirinius, sondern auch einem halben Dutzend anderer kaiserlicher Legaten (wie z. B. dem oben genannten L. Calpurnius Piso) zugeordnet, wodurch dann die vermeintliche syrische Statthalter-Lücke zwischen Varus und Gaius Caesar anderweitig besetzt bzw. geschlossen würde.
Ob und wie man den Quirinius zu Lebzeiten des Herodes in Syrien als Statthalter einordnen kann ist eine heiß diskutierte Frage. Ich persönlich kriege Lukas und Iosephus in diesem Punkte zurzeit noch nicht gedanklich unter einen Hut. Es gibt zwar noch diverse andere Erklärungsversuche, z. B. dass Quirinius um die Zeit der Geburt Jesu eine Art Legat mit Sonderaufgaben (also kein legatus Augusti pro praetore) im syrischen Raum war (denn unter dem ersten Princeps war die kaiserliche Provinzialverwaltung noch nicht so statisch) oder dass er ein kaiserlicher Provinzialzensus-Beamter war, der neben dem syr. Statthalter wirkte, oder dass Quirinius und Saturninus (od. Varus) die Provinz Syrien kollegial als kaiserliche Legaten verwalteten. Eine ältere Überlegung ist, dass Quirinius Generalstatthalter des Ostens gewesen sein könnte (ähnlich wie Agrippa und Gaius Caesar?), unter dem in den einzelnen Provinzen, also auch in Syrien, weiterhin ordentliche Legaten amtierten. Aber diese Erklärungen scheinen mir alle sehr vage zu sein.
Was die apographe/ Einschreibung bei Lukas betrifft, so halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass sie unter dem röm. Klientelkönig Herodes durchgeführt worden sein kann. Strabon schreibt am Ende seines Werkes, wo er über die Einteilung und Verwaltung der Provinzen durch Augustus handelt, beinahe so, als sei die Verwaltung durch einheimische Klientelherrscher eine Form der kaiserlichen Provinzialverwaltung gewesen. Aus Iosephus wird deutlich, wie abhängig Herodes von Augustus war, wie sehr er bemüht und letztlich auch genötigt war, ganz dessen Willen zu erfüllen. Und wir wissen aus Iosephus außerdem, dass ein paar Jahre vor dem Tod des Herodes jeder einzelne seiner Untertanen einen Eid auf den Caesar abzulegen hatte. Es würde mich nicht wundern, wenn dieser Loyalitätsakt in gewisser Weise einer Art Meldung bzw. Volkszählung oder Einschreibung nahekam, in Vorbereitung auf die Festsetzung der Kopfsteuer, die man womöglich gedachte, in naher Zukunft im Klientelreich einzuziehen. Das sind natürlich nur Vermutungen, aber ich schätze die damalige Situation schon so ein, dass die Juden bereits unter Herodes von einer von Rom angeordneten apographe – wie sie im einzelnen auch immer näher ausgesehen haben mag – betroffen gewesen sein können. Falls Augustus darin irgendeinen Vorteil gesehen hat, so bin ich sogar überzeugt, dass einer Einschreibung der Herodes-Untertanen überhaupt nichts im Wege stand. In solchen Dingen dürfte der Wille des Caesar Gesetz gewesen sein.
Darüber, wie eine Reise der hl. Familie von Galiläa nach Bethlehem damit in Zusammenhang stehen könnte, habe ich mir allerdings noch keine Gedanken gemacht, genau so wenig darüber, ob die Geschichte besser im Rahmen der Kopf- oder im Rahmen der Grundsteuer zu erklären wäre.
Wie gesagt, ist es für mich ebenso eine offene Frage, wie man den Quirinius chronologisch da unterkriegt. Die Weihnachtsgeschichte des Lukas ist insgesamt äußerst schwierig, chronologisch zu klären. Selbst das Todesjahr des Herodes steht in der Forschung längst nicht so fest, wie es uns der Blick in die Lexika weismacht. Unter den Historikern ernsthaft diskutiert werden die Jahre 5, 4, 3 und 1 v. Chr. Ich lese z. B. zurzeit in „The Herodian Dynasty“ von Nikos Kokkinos, der sich für 5 v. Chr. ausspricht. Aber klar ist Kokkinos nur eine Fachstimme von vielen.