Ethnogenese der Deutschen.

Wenn das so wäre, hätten wir ein riesen Problem was den Begriff Ethnie angeht da dass jeder Mensch, wie du an meinem Beispiel mit den Österreichern und Bayern sehen kannst anders sieht. Da haben in der aktuellen Weltpolitik noch mehr Beispiele.

Natürlich gibt es Probleme in der Weltpolitik, da könnte ich einige aufzählen.
Die lösen sich aber nicht, wenn Du Dir eine Privatdefinition von Ethnie zurechtlegst, anhand derer Du Personen in die von Dir gewählten Schubladen einsortieren kannst.
 
Um das mal zu klären: Wir haben die alteuropäische Bevölkerung, die wird im Zuge der Neolithisierung - auch genetisch - marginalisiert. Über die neolithischen Zuwanderer legt sich - vereinfacht gesagt - die Einwanderungswelle der Jamnaja, die von einigen Forschern teilweise als aggressive Reiterkultur wahrgenommen und mit der Indoeuropäisierung Europas in Verbindung gebracht wird: Diese Proto(?)indoeuropäer haben sich in Europa kulturell ausdifferenziert. Der alteuropäische Anteil an den Genen in Europa variiert von Ost nach West, ebenso der neolithische Anteil, wie auch der indoeuropäische Anteil. In Südfrankreich und auf der iberischen Halbinsel ist der genetische Anteil der Alteuropäer höher, als in Polen, dafür ist dort der Anteil an Jamnaja höher. Das sind keine 'germanischen' Gene.

Aus der Masse der proto(?)indoeuropäischen Sprechergemeinschaft - die keineswegs irgendwie genetisch gebunden wäre - haben sich verschiedene Sprechergemeinschaften herauskristallisiert.
Zum Bsp. gibt es einige Linguisten, die der Auffassung sind, dass das Lusitanische keine keltische Sprache sei, sondern eine in der indoeuropäischen Sprachfamilie eng mit dem Keltische verwandte, sich vom Keltischen aber bereits vor dessen Ausdifferenzierung abgespaltene Sprachgruppe handele.

Das Germanische ist eine der Sprachgruppen, die sich aus dem westlichen Zweig des Indoeuropäischen herauskristallisiert und im Laufe der Zeit weiter aufgespalten hat.
Aus dem Westgermanischen hat sich das Deutsche, Niederländische und Angelsächsische entwickelt. Aus Nordgermanischen das Skandinavische und das Ostgermanische ist in der Spätantike, spätestens aber im 17. Jhdt. ausgestorben, wenn das Krimgotische nicht eine wissenschaftliche Chimäre ist (ich persönlich glaube, dass die Zeugnisse des vermeintlichen Krimgotischen eher von Siedlern aus dem niederdeutschen Sprachraum stammen, die es in den Zeitläuften irgendwie bis auf die Krim verschlagen hat, auf der anderen Seite war Busbecq natürlich Flame, was seine Niederschrift beeinflusst haben kann).

Die Region, wo die Aunjetitzer Kultur relevant war, der eponyme Ort liegt in der Tschechei, ob die Aunjetzitzer Kultur ein zusammenhängendes Gebiet bewohnte, ist gar nicht so klar, scheint sich vor allem in den fruchtbaren Börderegionen erstreckt haben - also vermutlich politisch uneinheitlich, aber zumindestens sachkulturell - der Begriff Aunjetitzer Kultur bezieht sich vor allen Dingen auf eine gemeinsame keramische Kultur und gemeinsame Grabsitten - einigermaßen einheitlich. Wobei diese Kulturbegriffe immer sehr schwierig sind, es gibt auch Archäologen, die sie ablehnen, aber letztendlich ist ein schlechter Begriff besser als gar keiner. Denn ähnlich wie bei Dialekten und ihren Isoglossen - theoretisch könnte man von der deutschfranzösischen Grenze bis nach Portugal wandern und würde feststellen, dass hinter jedem dritten Bach sich die dialektale Färbung ein wenig ändert, so dass am Ende zwar der Ostfranzose den Portugiesen nicht versteht, aber der Nachbar seinen Nachbarn eben schon immer noch - ändern sich auch die archäologische Artefakte hinter jedem dritten Bach, so das die Vorstellung abgegrenzter archäologischer Kulturen eigentlich falsch sind. Wir benutzen sie aber, um formensprachliche Gemeinsamkeiten irgendwie zu benennen und auch zu datieren.

Sprachlich wechselten sich der fraglichen Region nach allem was wir wissen, zumindest in ihrem eponymen Gebiet und den angrenzen Regionen Kelten mit Germanen, diese mit Slawen und diesse wiederum mit Deutschen ab, wobei man sich nicht vorstellen darf, dass die eine Gruppe die Region aufließ und die nächst in eine leere Siedlungskammer vorstieß. Das mag es auch gegeben haben. Die jeweilige Landnahme kann einvernehmlich oder kriegerisch vollzogen worden sein. Das widerspricht nicht der Aussage Mellers, dass sich der Genpool in der Zeit nicht großartig geändert habe, denn alle diese Völker stammten aus derselben Mischpoke, mit mehr oder weniger Anteil an Genen der Neolithiker oder der Jamnaja und einem sehr geringen Anteil an Genen der Alteuropäer.

Ethnogenese ist - abgesehen vielleicht von isolierten Gruppen auf den Andamanen - ein nie endender, fortwährender Prozess.
 
Wenn das so wäre, hätten wir ein riesen Problem was den Begriff Ethnie angeht da dass jeder Mensch, wie du an meinem Beispiel mit den Österreichern und Bayern sehen kannst anders sieht. Da haben in der aktuellen Weltpolitik noch mehr Beispiele.

Es ist und bleibt völliger Unsinn Menschen zwangsweise in irgendwelche Kategorien stecken zu wollen, die für diese Menschen selbst überhaupt nicht relevant sind.

Vollkommen egal, ob diese Kategorien von außerhalb durch irgendwelche genetischen, sprachlichen, religiösen, klassenbezogenen oder anderen Kategorien zusammengeschustert werden.


Eine Zusammenfassug von Gruppen, die sich ähnlicher Sprache bedienen oder die eine vergleichbare materielle Kultur haben, mag als Arbeitsdefinition in bestimmten Disziplinen durchaus Sinn ergeben, so z.B. in der Archäologie.
Darüber hinaus darf aber nicht vergessen werden, dass es eben genau das ist, eine Arbeitsdefinition, die fiktive Grenzen zieht um eine bestimmte Gruppe von Phänomenen fassbar zu machen.
Das ist eine Konstruktion mit Modellcharakter, die man nicht mit der Realität verwechseln sollte.
 
Ja, wollte ich eigentlich auch mit dran gepackt haben.
Hab den Artikel jetzt gelesen. Der Redakteur der FAZ ist nicht gerade unskeptisch, dass sich das Futhark von der alttürkischen Schrift ableiten könnte. Im Artikel geht es eigentlich auch kaum, um einen möglichen Ursprung, sondern um Mythen aus dem Mittelalter und der Neuzeit. Der interviewte Student, der diese Ursprungsthese vertritt oder zumindest für möglich hält, hat keinen leichten Stand. Bezeichnend dass sich kein Prof finden lässt, der ähnliches vertritt.
Wenn man sich die Ähnlichkeiten der Schriftsysteme mal anschaut, erkennt man, dass einige Zeichen sich tatsächlich stark ähneln, nur dass sie einen vollkommen anderen Lautwert haben:
Das Zeichen þ ist im Futhark bspw ein th (wohl wie im englischen th) im alttürkischen ein y. Ähnlichkeiten lassen sich daher dann doch am besten daher erklären, dass sowohl Futhark als auch Alttürkische Zeichen in Felsen geritzt wurden.

Bezüglich "alttürkischer Runen" in der Hagia Sophia sollte mMn nach von einer nationalistischen Idee ausgehen, die dem "Türkentum" in Anatolien und in Byzanz eine lange Tradition andichten will.
 
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Natürlich gibt es Probleme in der Weltpolitik, da könnte ich einige aufzählen.
Die lösen sich aber nicht, wenn Du Dir eine Privatdefinition von Ethnie zurechtlegst, anhand derer Du Personen in die von Dir gewählten Schubladen einsortieren kannst.

Das ist nicht korrekt. Eine Ethnie kann genauso gut durch Zuschreibung definiert werden. In deiner Interpretation wäre deine Diskussion die du hier ja intensiv im Thread geführt hast für die Katz. Weil sich jeder "Germane" selbst aussuchen könnte ob er einer wäre oder nicht. Letztendlich müssen wir dann sämtliche Begriffe wie Deutsch über den Haufen werfen da nur noch das Individuum zählt.

Das ist neues Weltbild und hat mit der Realität nichts zutun.

Auf die anderen angesprochen Themen im Thread gehe ich morgen ein.
 
Also: Für diejenigen, die Ethnie nur als Selbstdefinition sehen, schlage ich den Begriff Schrödingers Germanen vor. Solange wir nicht alle Germanen gefragt haben, sind es entweder Germanen oder keine Germanen. Wie man sieht, ist das völlig absurd...

Wenn du schreibst, dass der Umstand wie die Germanischen Gruppen sich selbst betrachtet haben, irrellevant sei und es darauf ankäme, wie man sie heut betrachten wolle/solle, was betreibst du dann anderes als eine Ideologisierung im eigenen Interesse?
Eine Definition des offensichtlichen.

Ist nicht notwendig. Tacitus halt.
Der Mann war nie in "Germanien" dementsprechend kein besonders zuverlässiger Gewährsmann, wenn es um die innergermanischen Verhältnisse geht.
Niemand von uns war je in Germanien! Jeder, der ein Dokument verfasst, hat ein persönliches Interesse, das er damit verfolgt. Unser Ziel muss es sein Objektiv zu bleiben und unser eigenes Weltbild zurückzustellen.

Objektive Gemeinsamkeiten definieren noch lange keine zusammengehördende Gruppe, die entsteht erst dann, wenn sie von den Gruppenmitgliedern auch als solche anerkannt wird.
Da sind wir wieder beim modernen Selbstbild nach dem Motto: Ich darf sein, was ich will. Sehr schwierig in so einem Kontext...

Kennt sehr viele trennende Elemente und unterscheidet z.B. in Rhein-Weser-Germanen, Elbgermanen, Nordsee-Germanen usw.
Liegt nicht darin begründet, dass das alles homogen wäre. Die Unterschiede in der materiellen Kultur sind nur geringer, als zu den als keltisch oder slawisch angesprochenen Gruppen, wobei die Unterschiede recht fließend sein können.
Es ist das Gesamtbild, das sich aus der interdisziplinären Forschung ergibt. Alle Aspekte zusammen sprechen für eine germanische Ethnie.

Sind Fremdzuschreibungen, die uns "die Germanen" aus römicher Sicht präsentieren, uns aber mehr oder minder nichts über interne Sicht dazu sagen.
Vieles davon stammt von Autoren, bei denen nicht einmal verifizierbar ist, dass sie jemals mit dem Gegenstand über den sie da schrieben persönlich in Kontakt gekommen wären, in anderen Fällen sind propagandistische Verzerrungen mindestens im Bereich des Möglichen ("Spiegelvorhalten" bei Tacitus etc.).
Dann kann die Geschichtswissenschaft, die sich auf literarische Quellen bezieht, jetzt einpacken und hat ausgedient. Typische Sichtweise und völlige Überinterpretation aus der Archäologie.

Wenn man sich die Ähnlichkeiten der Schriftsysteme mal anschaut, erkennt man, dass einige Zeichen sich tatsächlich stark ähneln, nur dass sie einen vollkommen anderen Lautwert haben:
Also ich bin kein fundmentaler Anhänger dieser Theorie. Wollte es aber nicht unerwähnt lassen, weil die Gemeinsamkeit eben da ist und um zu zeigen, dass es keinen Beweis gibt, dass die Runen auf dem lateinischen Alphabet basieren. Was aber selbst wenn - trotzdem nicht gegen eine germanische Ethnie spricht. Ich würde das mit den Lautwerten nicht überbewerten.

Stützpfeiler die für eine Ethnie sprechen:

Der stärkste Aspekt, der für die Existenz einer germanischen Ethnie spricht, ist die Sprache. Die sprachliche Abgrenzung ermöglicht eine präzise Differenzierung von anderen Ethnien. Das Germanische entstand wie durch El Quijote erwähnt aus dem westlichen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie. Zwischen 2000 und 1500 v. Chr. entwickelte sich das frühe Prägermanisch, gefolgt vom Urgermanisch das zwischen 1500 v. Chr. und etwa 200 n. Chr. gesprochen wurde. In dieser Phase erfolgte die erste Lautverschiebung. Danach folgte die Ausbildung der drei germanischen Sprachfamilien - Ostgermanisch (ausgestorben), Westgermanisch und Nordgermanisch.

Zeitrahl-der-kontinentalgermanischen-Geschichte.png

Der Zeitstrahl ist eine eigene Darstellung.

Ein weiteres starkes Indiz für eine gemeinsame germanische Kultur ist das ältere Futhark, das älteste bekannte germanische Runensystem. Der älteste Runenfund in Kontinentaleuropa wird auf das Jahr 160 n. Chr. datiert, während der neueste und möglicherweise älteste Fund aus Skandinavien zwischen 0 und 200 n. Chr. zu datieren ist.

Das Geheimnis des ältesten Runensteins der Welt

Wie auch bereits erwähnt unterstreicht die räumliche Verbreitung der Runenfunde die kulturelle Kohärenz der Germanen.

Archäologische Funde bieten ebenfalls wichtige Anhaltspunkte zur Differenzierung zwischen Kelten, Germanen und anderen Völkern. Dazu zählen Waffen, Schmuckstücke, Alltagsgegenstände, Siedlungsstrukturen, Bestattungsstätten usw. Ein Beispiel hierfür ist das Oppidum, das klare Unterscheidungsmerkmale aufweist.

Die Germania ist ein wertvolles erhaltenes Gut. Die komplette Infragestellung dieser als historische Quelle ist vollkommen absurd. Während es natürlich wichtig ist, die Zuverlässigkeit und Genauigkeit jeder historischen Quelle kritisch zu bewerten, führt die pauschale Ablehnung solcher Quellen aufgrund möglicher Voreingenommenheiten des Autors zu einem problematischen Dilemma in der Geschichtswissenschaft. Würde man die "Germania" aufgrund ihrer potenziellen Unzulänglichkeiten vollständig verwerfen, müsste man konsequent alle literarischen Quellen ebenfalls infrage stellen. Die Folge wäre eine Geschichtsschreibung, in der historisches Wissen fast ausschließlich auf materiellen Beweisen wie archäologischen Funden basiert. Dann mal Gute Nacht liebe Historiker...

Und noch mal weil es so schön ist: Die Erforschung der Germanen ist ein interdisziplinärer Ansatz. Die Zusammenarbeit von Philologie, Archäogenetik, Archäologie und Geschichtswissenschaft ist unerlässlich. Nur so können wir ein vollständiges und genaues Bild der Germanen erhalten. Nur durch die Integration dieser Disziplinen kann ein Verständnis der germanischen Kultur und Identität entwickelt werden.

Deshalb bringt es überhaupt nichts, wenn ihr euch hier einzelne Punkte herauspickt und versucht diese einzeln zu widerlegen. Ihr müsst das Gesamtbild betrachten, was für Leute in einem Geschichtsforum normalerweise kein Problem sein sollte. #nofront
 
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Der stärkste Aspekt, der für die Existenz einer germanischen Ethnie spricht, ist die Sprache. Die sprachliche Abgrenzung ermöglicht eine präzise Differenzierung von anderen Ethnien. Das Germanische entstand wie durch El Quijote erwähnt aus dem westlichen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie. Zwischen 2000 und 1500 v. Chr. entwickelte sich das frühe Prägermanisch, gefolgt vom Urgermanisch das zwischen 1500 v. Chr. und etwa 200 n. Chr. gesprochen wurde. In dieser Phase erfolgte die erste Lautverschiebung. Danach folgte die Ausbildung der drei germanischen Sprachfamilien - Ostgermanisch (ausgestorben), Westgermanisch und Nordgermanisch.
wenn man das partout so auffassen will, dann müsste man analog eine keltische Ethnie, eine romanische Ethnie usw daraus "erschließen". Die keltischen Sprachen und auch die romanischen Sprachen verfügen über eine vergleichbare Geschichte bzw. Entwicklung. - was mich daran misstrauisch stimmt, ist nun zweierlei: 1. klingt das sehr nach protovölkischen Kategorisierungen/Zuschreibungen a la 19. Jh. (bei Dahn, besonders in den belletristischen Publikationen finden sich ähnliche "Argumente") und 2. finde ich bislang nirgendwo mit derselben Vehemenz vorgebrachte Überlegungen zur angenommenen gesamtkeltischen Ethnie, zur angenommenen gesamt"römisch/romanischen" Ethnie wie hier partout zur - ebenso lediglich angenommenen (oder gar herbeigewünschten?) - "gesamtgermanischen Ethnie".

wenn ich das weiter überlege: diese germanische Ethnie muss aus vielen Eseln bestanden haben, sofern man sie am historischen Erfolg misst. Statt gemeinsam (Hurra, wir Goten, Vandalen, Cherusker, Heruler usw sind ja Heureka alle zusammengehörend die Germanen) zu operieren, zersplitterten die sich in Grüppchen, von denen die meisten im Orkus landeten (wo ist sie hin, die Herrlichkeit der mächtigen Vandalen?) - sogar von außen (spätrömische Sicht, Prokop) wurde einigen solchen Gruppen, die gerne untereinander spinnefeind waren, die gemeinsame "gotische Sprache" attestiert (Prokop, Gotenkriege)

Wenn die angenommene "germanische Ethnie" den aus heutiger Sicht als germanische Gruppen bezeichneten Goten, Franken usw völlig unbekannt war, dann hat sie historisch eigentlich keinen sonderlichen ethnogenetischen Belang. Und damit bleibt bestenfalls zu konstatieren, dass aus sprachhistorischer Perspektive die von dir referierte Entwicklung der germanischen Sprachen die wahrscheinlichste ist, aber dass sie über Ethnogenese wenig mitteilt, sondern eine sprachhistorische Entwicklung darstellt. Ob die angenommenen Sprecher dieser rückerschlossenen Sprachstufen sich irgendeine ethnische Identität attestierten, das wissen wir schlichtweg nicht.
 
Denn ähnlich wie bei Dialekten und ihren Isoglossen - theoretisch könnte man von der deutschfranzösischen Grenze bis nach Portugal wandern und würde feststellen, dass hinter jedem dritten Bach sich die dialektale Färbung ein wenig ändert, so dass am Ende zwar der Ostfranzose den Portugiesen nicht versteht, aber der Nachbar seinen Nachbarn eben schon immer noch - ändern sich auch die archäologische Artefakte hinter jedem dritten Bach, so das die Vorstellung abgegrenzter archäologischer Kulturen eigentlich falsch sind. Wir benutzen sie aber, um formensprachliche Gemeinsamkeiten irgendwie zu benennen und auch zu datieren.

Das Konzept des Dialektkontinuums ist zwar korrekt, wurde jedoch in diesem historischen Kontext durch die Römer künstlich konstruiert. Ein analoges Beispiel aus der deutschen Geschichte ist das Kontinuum, das einst von Den Haag bis nach Königsberg reichte. Bezüglich der archäologischen Funde ist deine Aussage jedoch nicht ganz zutreffend. Es ist durchaus möglich, anhand gewisser Merkmale zu differenzieren, ob eine Siedlung keltischen oder germanischen Ursprungs ist. Ein Beispiel dafür ist die La-Tène-Kunst oder das Oppidum.
 
Die Germania ist ein wertvolles erhaltenes Gut. Die komplette Infragestellung dieser als historische Quelle ist vollkommen absurd. Während es natürlich wichtig ist, die Zuverlässigkeit und Genauigkeit jeder historischen Quelle kritisch zu bewerten, führt die pauschale Ablehnung solcher Quellen aufgrund möglicher Voreingenommenheiten des Autors zu einem problematischen Dilemma in der Geschichtswissenschaft. Würde man die "Germania" aufgrund ihrer potenziellen Unzulänglichkeiten vollständig verwerfen, müsste man konsequent alle literarischen Quellen ebenfalls infrage stellen. Die Folge wäre eine Geschichtsschreibung, in der historisches Wissen fast ausschließlich auf materiellen Beweisen wie archäologischen Funden basiert. Dann mal Gute Nacht liebe Historiker...

Der Historiker geht an jede Quelle mit der quellenkritischen Methode heran. Zur q-kritischen Methode gehören eine ganze Menge an Fragen, man unterscheidet die äußere Q-Kritik (Überlieferung/Überlieferungszustand) und die innere Q-Kritik (Inhalt, Aussageabsicht, Kenntnisse des Autors etc.)
Das Ergebnis der äußeren Q-Kritik wäre also vereinfacht, dass Tacitus' Germania uns in einer einzigen mittelalterlichen HS aus dem 9. Jhdt. auf Pergament dem Anschein nach ziemlich vollständig überliefert ist.

Die äußere Q-Kritik müsste feststellen, dass Tacitus nie selbst in Germanien gewesen ist, seine Informationen über die Germanen also aus zweiter Hand stammten und eine römische Außensicht darstellten, keine Innensicht. Zudem war die Germania keine rein ethnographische Quelle, sondern diente Tacitus auch dazu, der römischen Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. In manchen Punkten sagt sie also mehr über die römische Gesellschaft aus, als über innergermanische Verhältnisse.

Lass mich zur Verdeutlichung eine kleine Analogie bilden:
Wir sind heute dank des Internets in der Lage uns allumfassend über unsere Mitmenschen zu informieren. Seit Jahrzehnten befassen wir uns mit der muslimischen Welt. Dennoch wissen viele kaum, dass die meisten Muslime in Indonesien leben (wenn sie überhaupt wissen, dass in Indonesien vorwiegend der Islam praktiziert wird) oder dass es auch im Islam mehrere verschiedene, sich teils bis aufs Blut bekämpfende Konfessionen gibt oder dass in der vermeintlich rein islamischen arabischen Welt auch andere Religionsgemeinschaften (Christen, Drusen, Bahai, Jesiden) ihren Platz haben. Unser Wissen über sowohl die arabische als auch die muslimische Welt ist - obwohl diese seit Jahrzehnten einen festen Platz im alltäglichen Mediengeschehen hat - begrenzt bis peinlich schlecht. Nun stell dir einen römischen Schriftsteller vor, der kein keine Fotographien, Filme oder Internet kannte, nie in Germanien war, kein Germanisch sprach, der aber von Leuten schrieb, die weit jenseits der römischen Grenze lebten.

Oder würdest du Karl May als Quelle für die Verhältnisse bei den Apachen heranziehen?

Nun stell dir eine Welt in 2000 Jahren vor, in der fast alles Schriftgut über die nordamerikaninschen Indianer verloren gegangen ist und du hast nur die Archäologie und diesen sächsischen Schriftsteller zur Verfügung, der nie aus Europa herausgekommen ist.

Jede Quelle hat ihren Eigenwert, die Frage ist halt immer: wofür?
 
Es ist durchaus möglich, anhand gewisser Merkmale zu differenzieren, ob eine Siedlung keltischen oder germanischen Ursprungs ist. Ein Beispiel dafür ist die La-Tène-Kunst oder das Oppidum.
Das ist eben genau der Denkfehler, der in der Archäologie durchaus kritisch gesehen wird. Du wirst "Jastorf"-Keramik in La Tène-Kontexten finden und "La Tène"-Schmuck in Jastorf-Kontexten etc. Diese abgegrenzten "Kulturkreise"*, welche die Archäologen benennen, sind die Hilfskonstrukte von denen ich sprach, um einen Namen zu haben, um Fundplätze einordnen und benennen zu können. Aber tatsächlich haben wir es mit einer Vielzahl von Werkstätten zu tun, die ihre Produkte verkaufen, andere Werkstätten kopieren und so diffundieren vermeintliche La Tène-Produkte in den "germanischen", vermeintliche Jastorf-Produkte in den "keltischen" Raum. Keramik spricht aber nicht. Wir müssen uns hüten, linguistische und archäologische Kontexte zu vermischen.
Und ja, wir verbinden die Oppida-Kultur mit den Kelten. Aber die Ubier etwa waren auch Teil der Oppida-Kultur, sprachlich werden sie aber traditionell als Germanen klassifiziert. Auch hier haben wir es wieder: die archäologische Kultur und die linguistische Kultur decken sich mitunter eben gerade nicht.


*die Kulturkreislehre nach Gustav Kossinna ist heute nur noch forschungsgeschichtlich relevant, ich benutze hier den Begriff teils im Sinne Kossinnas, teils aber auch um nach eponymen Fundorten benannte archäologische Kulturen und die Vorstellung, dass sie streng abgegrenzt seien, zu verdeutlichen. Bei Kossinna waren diese Kulturkreise völkisch und starr, die Vorstellung von Migration oder Austausch war Kossinna fremd.
 
Das ist nicht korrekt. Eine Ethnie kann genauso gut durch Zuschreibung definiert werden. In deiner Interpretation wäre deine Diskussion die du hier ja intensiv im Thread geführt hast für die Katz. Weil sich jeder "Germane" selbst aussuchen könnte ob er einer wäre oder nicht.

Du hast offensichtlich nicht verstanden, worauf es ankommt. Folgendes habe ich Dir geschrieben:

Im Gegenteil: Das ist sogar die einzige Frage von Relevanz, wenn es um die Frage Volk/Nation/Stamm/Ethnie geht: Gibt es bzw. gab es eine kollektive Identität? Ob die Angehörigen einer Ethnie sich über einen Staat definieren, über eine Religion, über eine Sprache, das ist zweitrangig.
Es ist nicht nur Deine individuelle Entscheidung, welcher Ethnie Du Dich zurechnest, es hängt auch davon ab, ob Du von den anderen Stammesangehörigen als zugehörig angesehen wirst. (Und da gibt es in der realen Welt durchaus Konfliktpotential.)
 
Und da gibt es in der realen Welt durchaus Konfliktpotential.

Genau. Deshalb wirft man auch nicht verschiedene Begriffe einfach in ein und den selben Topf.

Das ist sogar die einzige Frage von Relevanz, wenn es um die Frage Volk/Nation/Stamm/Ethnie geht:

Eine Ethnie kann nicht darüber entscheiden wozu du gehörst, weil sie keine Institutionen besitzt. Ein Stamm oder eine Nation schon.

Das Problem ist aber die Begrifflichkeit Stamm und Ethnie. Ich habe gerade gegoogelt. Verschiedene wissenschaftliche Disziplinen verwenden den Begriff komplett unterschiedlich. Deshalb kannst du da nichts für.

"Auf der darüber liegenden Ebene des Stammes ist das einigende Prinzip eher abstrakter Art (Sprache, Religion, Brauchtum, Gesetz – so auch bei den deutschen Stämmen), obwohl auch hier gelegentlich mythische Ahnen zitiert werden (etwa bei den Stämmen Israels).

Stämme schlossen sich zu Stammesverbänden oder Großstämmen zusammen (vergleiche Stammeskonföderation, Stammesgesellschaft), die dann teils als eigenes „Volk“ bezeichnet werden (etwa das „Volk der Franken“), während von Völkern ansonsten erst bei der Vereinigung von verschiedenen Stämmen zu einer Nation gesprochen wird („Volk der Deutschen“)."
Stamm (Gesellschaftswissenschaften) – Wikipedia

Aber meine bevorzugte Definition kennst du ja.
 
Das Problem ist aber die Begrifflichkeit Stamm und Ethnie. Ich habe gerade gegoogelt.
Da gibt es nun mal keine trennscharfen Definitionen. Wir sprechen über Völker der Antike, da gab es keine Institutionen, die den Bürgern Ausweise ausstellten, die die Nationalität bescheinigten.
Die Frage bleibt halt: Sahen sich die Leute, die von den Römern als Germanen klassifiziert wurden oder die wir heute als Germanen klassifizieren, selber als Germanen? Und verbanden sie damit so etwas wie eine Volkszugehörigkeit?

Ein Beispiel hierfür ist das Oppidum, das klare Unterscheidungsmerkmale aufweist.
Ich hatte irgendwo schon mal die thüringischen Oppida erwähnt:
Oppida celtiques, atlas des fortifications celtiques Europe, villes celtiques, oppidum gaulois
Oppida celtiques, atlas des fortifications celtiques Europe, villes celtiques, oppidum gaulois
Wo sollten wir die geographische Grenze zwischen Germanen und Kelten ziehen?
 
Das Konzept des Dialektkontinuums ist zwar korrekt, wurde jedoch in diesem historischen Kontext durch die Römer künstlich konstruiert.
? Das verstehe ich nicht. Und obwohl ich viel von den römischen Kulturleistungen halte (was auch "abstrakte" solche wie Quintilians institutio oratoria einschließt), traue ich ihnen nicht zu, ein Dialektkontinuum künstlich zu konstruieren, denn dieser abstrakte Begriff samt seinem histor.-sprachwiss. Kontext war ihnen unbekannt.
Ist der zitierte Satz vielleicht irgendwie verunglückt oder meinst du das wörtlich?
 
? Das verstehe ich nicht. Und obwohl ich viel von den römischen Kulturleistungen halte (was auch "abstrakte" solche wie Quintilians institutio oratoria einschließt), traue ich ihnen nicht zu, ein Dialektkontinuum künstlich zu konstruieren, denn dieser abstrakte Begriff samt seinem histor.-sprachwiss. Kontext war ihnen unbekannt.
Ist der zitierte Satz vielleicht irgendwie verunglückt oder meinst du das wörtlich?

Es dürfte klar sein, dass ich damit nicht meine, dass die Römer ein Dialektkontinuum geschaffen haben, sondern dass die Verbreitung des Lateinischen, die zur Entwicklung des Dialektkontinuums geführt hat, künstlich ist.
 
Auch das verstehe ich nicht wirklich. Meinst du, dass die Ausbreitung der lateinischen Sprache künstlich war und dass es konsequenterweise auch als Gegensatz eine natürliche Ausbreitung von irgendeiner Sprache gäbe?
 
Das ist eben genau der Denkfehler, der in der Archäologie durchaus kritisch gesehen wird. Du wirst "Jastorf"-Keramik in La Tène-Kontexten finden und "La Tène"-Schmuck in Jastorf-Kontexten etc. Diese abgegrenzten "Kulturkreise"*, welche die Archäologen benennen, sind die Hilfskonstrukte von denen ich sprach, um einen Namen zu haben, um Fundplätze einordnen und benennen zu können. Aber tatsächlich haben wir es mit einer Vielzahl von Werkstätten zu tun, die ihre Produkte verkaufen, andere Werkstätten kopieren und so diffundieren vermeintliche La Tène-Produkte in den "germanischen", vermeintliche Jastorf-Produkte in den "keltischen" Raum. Keramik spricht aber nicht. Wir müssen uns hüten, linguistische und archäologische Kontexte zu vermischen.
Und ja, wir verbinden die Oppida-Kultur mit den Kelten. Aber die Ubier etwa waren auch Teil der Oppida-Kultur, sprachlich werden sie aber traditionell als Germanen klassifiziert. Auch hier haben wir es wieder: die archäologische Kultur und die linguistische Kultur decken sich mitunter eben gerade nicht.


*die Kulturkreislehre nach Gustav Kossinna ist heute nur noch forschungsgeschichtlich relevant, ich benutze hier den Begriff teils im Sinne Kossinnas, teils aber auch um nach eponymen Fundorten benannte archäologische Kulturen und die Vorstellung, dass sie streng abgegrenzt seien, zu verdeutlichen. Bei Kossinna waren diese Kulturkreise völkisch und starr, die Vorstellung von Migration oder Austausch war Kossinna fremd.

Ich sprach nicht von scharfen Kulturgrenzen. Sondern das man Kelten und Germanen anhand der archäologischen Funde abgrenzen kann. Das es Handel und Austausch gab dürfte bekannt sein. Warum die "Forscher" das damals nicht wahrhaben wollten ist mir ein Rätsel und muss wohl im Zeitgeiste einer rassistischen Idee bewertet werden, die ich gewiss nicht vertrete.

Aber verstehe ich das richtig? Willst Du damit sagen, dass die Archäologie nicht helfen kann, Gemeinsamkeiten bei den Germanen zu erkennen und sie von anderen Kulturkreisen abzugrenzen?
 
Auch das verstehe ich nicht wirklich. Meinst du, dass die Ausbreitung der lateinischen Sprache künstlich war und dass es konsequenterweise auch als Gegensatz eine natürliche Ausbreitung von irgendeiner Sprache gäbe?

Du solltest das im Kontext meiner Aussage sehen und nicht versuchen zu verdrehen. Danke. Denn ich sage, dass die Sprache ein Aspekt der Ethnie ist. Aber wenn die Kelten die Sprache der Römer (künstlich) übernehmen, macht sie das (noch) nicht zu Römern bzw. zu einer italischen Ethnie.

Bring doch gerne mal etwas Sinnvolles zur Diskussion bei so wie das El Quijote macht.
 
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Ich frage einmal umgekehrt: Sind romanisierte Kelten noch Kelten? Die gallorömische Bevölkerung Galliens der späten Kaiserzeit und des Fränkischen Reiches mochte überwiegend keltische Vorfahren haben, sprach aber Lateinisch (bzw. eine Vulgärvariante), war (zumindest in der Oberschicht) klassisch-römisch gebildet und war zunehmend christlich. Würdest Du sie noch als „Kelten“ bezeichnen?
 
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