Dieter schrieb:
Tyrol y Serra kann das gern als "Wende" bezeichnen, doch bin ich da ganz anderer Meinung (siehe mein Posting!). Eine wirkliche Annäherung an Europa gab es erst nach dem Ersten Weltkrieg, der das Osmanische Reich um alle asiatischen Gebiete amputierte, und seinen Blick unverrückbar nach Europa richtete. Besonders als die Türkei als Nachfolgestaat präsent war und Atatürk offensiv ihre Hinwendung nach Europa betrieb.
Vorsicht: wenn wir heute über die Geschichte der Türkei nachdenken, neigen wir dazu Atatürk als Wendepunkt zu betrachten. Dabei vergessen wir, dass die Hinwendung nach Europa bereits früher einsetzte. In der Geschichte des Osmanischen Reiches gelten die Jahre 1808-1908 als Reform-Jahrhundert:
Im Oktober 1808 beginnt die Verfassungsgeschichte des Osmanischen Reiches mit dem Übereinkommen zwischen Sultan Mahmud II. (1808-1839), Großwesir und den Spitzen des ilmiye-Korps und der Armee.
1826 wurde das Janitscharenkorps aufgelöst (allerdings in einer blutigen Aktion).
1830 wurden die vier ersten moslemischen Schüler zum Studium nach Paris entsendet. Bis dahin studierten allein christliche Untertanen im Ausland (meistens Medizin in Italien).
1836 leitete Mahmud II. eine Verwaltungsreform ein. Die ersten Ministerien wurden gegründet. 1838 wurde der "Oberste Rat für Rechtsangelegenheiten" gegründet, mit der eine Brücke gebaut wurde von informellen islamischen Beratungsgremien zum "Conseil d'Etat" modernen Typs.
Am 3.11.1839 wurde mit der Verlesung des "Kaiserlichen Handschreibens" von Gülhane die Epoche der "Wohltätigen Verordnungen" eingeleitet. Dieses Reform-Edikt wurde als osmanische Fortsetzung der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution gelesen. Es bezieht sich vor allem "auf die Sicherheit des lebens, den Schutz der Ehre und des Vermögens, die Fixierung der Steuern, die Art und Weise der Aufhebung der nötigen Truppen und die Dauer ihrer Dienstzeit".
Im Pariser Friedensvertrag über die Beendigung des Krimkrieges (1856) wurde das Osmanische Reich in Art. 7 in die europäische Staatenwelt aufgenommen. In Art. 9 nahm der Vertrag auch Bezug auf einen zuvor erlassenen Ferman des Sultans, in dem die Garantien von 1839 bestätigt werden, "ohne Unterschied des Religionsbekenntnisses und der Nationalität". Die Wahl und Erennung zu Staatsbeamten wurde von nun an an die Qualifikation der Kandidaten nicht an ihre Nationalität geknüpft. Der freie Zugang zu Zivil- und Militärschulen wurde garantiert. 1856 wurden gemischte Tribunale gegründet, um handelsrechtliche Verfahren und Strafverfahren zwischen Muslimen und Christen durchzuführen. Auch die Steuer- und Militärpflichten wurden dem Gleichheitsgrundsatz angepasst. Freilich stieß die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes auch auf Kritik. So sahen sich die Mitglieder des griechischen Klerus als Opfer dieser reformen, da sie nun ihre Vorrangstellung unter den Nicht-Muslimen verloren und mit den Juden gleichgestellt wurden.
Der Krimkrieg führte auch zu infrastrukturellen Reformen: die erste Telegraphenleitung wurde eingerichtet, Bahnkonzessionen für Europa und Anatolien vergeben. In Istanbul wurde eine Modell-Stadtverwaltung geschaffen. Auch in diplomatischer Hinsicht öffnete sich die Türkei: der Sultan besuchte einen Ball in der französischen Botschaft, nahm den englischen Hosenbandorden an. 1867 besuchte zum ersten Mal ein Sultan eine europäische Hauptstadt: Abdülaziz nahm an der Pariser Weltausstellung teil.
In der Tanzimat-Zeit kam es zu einer Fülle von rechtlichen und schulischen Reformen: 1859 wurde eine Zivilbeamtenschule eröffnet, so dass sich erstmals eine qualifizierte Beamtenschicht ausbilden konnte. 1868 wurde eine Eliteschule an der Spitze eines staatlichen dreigliedrigen allgemeinen Schulwesens gegründet, 1870 die erste Schule für Lehrerinnen für die Mädchenklassen des Schulwesens. Zwar kam es nicht zur Übernahme des Code civil aber zahlreiche neue Gesetze lehnten sich an französische Muster an.
Unter Sultan Abdülaziz (1861-1876) wurde das europäische Maß- und Gewichtssystem übernommen (1869). 1867 wurde zum erstenmal ein oppositionelles Exil in Europa gegründet.
Das "Grundgesetz" von 1876 stellte die erste osmanische Verfassung dar.
etc, etc.
(Literatur hierzu: Klaus Kreiser, Der Osmanische Staat (1300-1922), Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Band 30, 2001, S. 36 ff.)
Freilich gab es an diesen Reformen auch viel Kritik und gegen diese auch viel Widerstand, der wiederum in den entfernten Provinzen größere Erfolgschancen hatte als in im Zentrum Istanbul. ABER all diese Reformen zeigen, dass sich das Osmanische Reich schon im 19. Jahrhundert Europa öffnete, auch wenn es (noch) über Territorien in Afrika und dem Nahem Osten herrschte.
Atatürk ist wohl eher als Wendepunkt in Richtung türkischer Nationalstaat zu sehen, durch den die Türkei freilich nochmals europäischer wurde. Aber die Wende in Richtung Europa wurde schon früher vollzogen.