Peter Longerich schreibt in der genannten Publikation S. 115ff. Zur Attraktivität der NSDAP als Kern eines rechtsextremen Milieus in der Weimarer Republik und thematisiert drei wichtige nationalsozialistische Erlebniswelten - Alltag der SA, Attraktion der Hitler-Reden für das damalige Publikum, Partei-Aktivitäten auf örtlicher Ebene - als psychosoziale Dimension des Phänomens 'Nationalsozialismus', die ebenfalls wesentlich zum Erfolg beitrugen.
Zu Longerich noch eine Ergänzung:
Was hier zitiert wird, ist Longerichs Bezug auf ein spezielles "NS-Milieu", das neu kreiert worden ist und durch die vorgenannten "Erlebniswelten" resp. Attraktionsebenen beschrieben wird.
Longerichs Abhandlung berührt nicht die Frage, was die Attraktivität begründet und im Weimarer Kontext auslöst. Diese Fragen sind zu unterscheiden, und in seinem Resümee werden mögliche Kausalitäten nicht angesprochen, weswegen die Publikation bei der hier anstehenden Frage der Bedingungen des kreierten NS-Milieus, seiner Erfolgs- und Attraktivitätsfaktoren nicht weiter hilft:
Mit dem Führerprinzip und dem Führerkult verfügte die NS-Bewegung über eigenständige, unverwechselbare Strukturmerkmale. Die NSDAP besaß eine eigenständige Weltanschauung mit einem absoluten Wahrheitsanspruch, die jedoch wiederum so vage und unverbindlich bzw. vorwiegend negativ ausgerichtet war, dass reale Interessengegensätze in der Bewegung nicht aufbrechen mussten.
Insgesamt gesehen beruhte die Attraktivität der NSDAP also nicht zuletzt darauf, dass sie dem Weimarer Staat ein alternatives Ordnungsmodell gegenüberstellte und innerhalb dieser Ordnung vielfältige Räume für das Erlebnis von Gemeinschaft bot, sei es in der Form von praktisch erfahrener Solidarität, kollektiver Emotionalität oder in Aktionen und Gewalthandlungen im fest gefügten Gruppenverband.
Die Bindungen zumindest des harten Kerns der Anhänger an diese Bewegung lässt sich nicht mehr als normale Parteibindung beschreiben, sondern stellte eine Einbindung in ein neues Milieu dar, das in seiner Dichte und Intensität durchaus den Binnenverhältnissen innerhalb des sozialistischen oder katholischen Milieus vergleichbar ist. Die NSDAP war also weit mehr als eine Wählerbewegung. Mit dem Heraufziehen der Krise seit Ende der 1920er Jahre brachen die konservativen und liberalen Milieustrukturen, die ohnehin nicht so dicht gesetzt gewesen waren wie im katholischen oder im sozialistischen Lager, zusammen: Das Geflecht von mittelständischen Parteien, Interessenverbänden und Vereinen begann sich aufzulösen und setzte Millionen von Menschen frei, die zum Teil in der NS-Bewegung das fanden, was sie in den übrigen rechtsextremen Organisationen nicht finden konnten: So etwas wie eine neue »Heimat«, ein Angebot, das vom Stammtisch bis zum Sportverein, vom Wehrverband zur beruflichen Standesvertretung, von der Kulturbewegung bis zur politischen Partei reichte.
Und erst im Zuge dieser Heranbildung eines eigenständigen Milieus war die NSDAP in der Lage, breiten Anhängerschichten auf verschiedenste Weise Erlebnisräume zu schaffen, in denen psychosoziale Bedürfnisse in der beschriebenen Art und Weise ausgelebt werden konnten.
Selbstverständlich war das kollabierte Kaiserreich nicht (mehr) der "anziehende" Gegenentwurf zum schwächelnden Weimar. Darum ging es auch nicht. Das Zitat behandelt vielmehr die entscheidenden Fragen dadurch, das sie offenbleiben (und hier bei Longerich nicht behandelt werden):
1. welche "Sozialisierung" von Schichten begünstigte die Suche nach einem "alternativen Ordnungsmodell"? Dabei fusionieren natürlich aktuelle Krise und Prägungen zum Brandbeschleuniger des NS-Milieus, aber die Frage richtet sich auf wieder auf die notwendigen Bedingungen dieser Reaktion.
2. Woher stammten die konservativen/rechten bis rechtsextremen "Milieustrukturen", die da lt. Longerich "zusammenbrachen" und deren Mitglieder der Attraktion der neugeschaffenen NS-Milieustrukturen erlagen? Aus dem Nichts entstanden, direkte Kriegsfolge etc. oder aus dem Kaiserreich?
Was also ist der Beitrag des Kaiserreichs an den Fragen 1. und 2.?
Diese Publikation von Longerich führt zu diesen Fragen nicht weiter. Mich erinnert die Diskussion hier etwas an eine Erfolgsanalyse. In diesen Bild bleibend, blickt Longerich auf die erzielten Umsatzerlöse, die den Gewinn finalisieren. Der Blick aufs Kaiserreich (inkl. Weltkriegsjahre) wäre dann bildhaft der Blick auf die Ausgaben, die Analyse der Primärkosten als "Kausalitäten" der NS- Bewegung, nicht ihres finalisierten Durchbruchs.
Einig kann man wohl sein, dass beides zum Verständnis zusammen gehört, sämtliche Bedingungen für eine komplexe Entwicklung umschreibt und nicht nach "überragenden Bedeutungen" sucht und zu (alles) entscheidenden oder monokausalen Erklärungen führt.