Meiner Meinung nach war Nürnberg schon eine Art großer Schauprozeß,da
1. die Angeklagten stellvertretend für viele andere angeklagt wurden
2. sie angeklagt wurden, obwohl die Gesetze, die sie verstießen, erst nach den Taten erlassen wurden
3. Anklagepunkte fallengelassen wurden, weil sonst die Siegermächte sich auch selbst hätten anklagen müssen. (Betrifft auch die Amerikaner und Briten)
Ich halte Deine Meinung für sehr überprüfenswert.
Zunächst sollte man unterscheiden zwischen dem ersten (grossen) Kriegsverbrecherprozess und den späteren Folgeprozessen. Der Vorwurf stellvertretenden Handelns kann sich ohnehin nur auf den Hauptprozess beziehen. Dabei wurde in der Tat jedem einzelnen Angeklagten eine individuelle Schuld nachgewiesen, soweit dieser verurteilt wurde.
Auch das Ex-post-facto-Problem stellt sich nicht wirklich. Dabei ist zu berücksichtigen, dass drei der vier Anklagepunkte
- Vorbereitung eines Angriffskrieges (speziell im Hinblick auf die Neutralitätsverletzungen -
- Kriegsverbrechen (hierbei insbesondere der Umgang mit den sowjetischen Kriegsgefangenen -
- Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Völkermord in Konzentrationslagern; Versklavung durch Zwangsarbeit bis zum Tod
sämtlich gegen gängiges Völkerrecht verstießen. Alle diese Handlungen waren auch ein Verstoß gegen die Haager LKO, wobei es zumindest in der US-Armee den so genannten Lieber-Kodex aus dem Am. Bürgerkrieg gab, der zusätzlich als Auslegungsregel für Erlaubtes/Verbotenes Handeln von kriegführenden Parteien herangezogen werden konnte.
Zudem - und dies sollte nicht unbeachtet bleiben - war das abgestrafte Verhalten der Angeklagten zumindest im Hinblick auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch nach Deutschem Recht strafbar, denn allen verurteilten Angeklagten war nach dem Strafgesetzbuch zumindest eine Beteiligung an Mord oder Totschlag nachzuweisen. Auch wenn dieser simple Umstand dem Ausmass der Verbrechen nicht gerecht wird, so hätte eine unabhängige Deutsche Justiz wohl alle Angeklagten 1946 durchaus sämtlich wegen Anstiftung oder Beihilfe zu Mord oder zumindest Totschlag verurteilen können. Und zwar mit derselben Begründung, mit der im Einzelfall die Verurteilungen in Nürnberg erfolgt sind.
Und schließlich konnte das Vorgehen gegen die Angeklagten diese nicht wirklich überraschen, war doch schon in Art. 227 des Versailler Vertrages die Zuführung des Kaisers (Wilhelm II.) vor einen besonderen Gerichtshof wegen "schwerster Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge" bestimmt worden, was vornehmlich daran scheiterte, dass die Niederlande ihn nicht auslieferte.
Lediglich der Anklagepunkt "Verschwörung" der die Machtergreifung und die Ausschaltung des Rechtsstaates zum Gegenstand hatte und auf eine Initiative New Yorker Anwälte (angeführt von F.D. Roosevelt, der vor seiner Präsidentschaft als Rechtsanwalt tätig war) zurück ging, ist im Völkerrecht bis dahin nicht eindeutig als Verbrechen behandelt worden.
Es trifft zudem auch zu, dass einige Anklagepunkte herausgenommen, und zwar gezielt mit der Begründung, " man sollte sich daran erinnern, daß die meisten Maßnahmen, die von den Deutschen ergriffen wurden, auch von uns selbst und von den Amerikanern ergriffen worden sind, so daß die Verteidigung in der Lage wäre, eine Menge Schmutz auf den Ankläger zurückzuwerfen". (E.J. Passant, in einem Memorandum für das brit. Aussenministerium; zitiert nach Taylor: Die Nürnberger Prozesse, ISBN 3-453-08021-1). Dabei bezog sich der Einwand aber auf die Anklage gegen Dönitz und dessen Seekriegsführung. Insoweit sind dessen Kriegsverbrechen in ihrem Ausmass sicherlich anders zu beurteilen, als die vorangegangenen; die Verbrechen von Dönitz richteten sich in erster Linie gegen deutsche Soldaten.
Deswegen aber von einem Schauprozess zu reden, wird weder der Intention der Ankläger und Richter noch den Opfern gerecht. Sicherlich hätte Stalin am liebsten Hitler persönlich in Moskau vor Gericht gestellt. Und der Umgang der sowjetischen Gerichtsberichterstattung dürfte wohl vermutlich ein anderer gewesen sein, als dies in New York dem Leser übermittelt wurde. Dennoch hatte das Verfahren klare formelle Regularien, wenn auch vornehmlich nach anglo-amerikanischem Prozessrecht, ist aber mit den einem "Schauprozess" immanenten Rechtsverstössen durch das Gericht unvergleichbar.