Die Entscheidung fiel in Berlin und Wien
Was ist davon zu halten?
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Akten-Fund
Deutschlands Generalstab wollte den Präventivkrieg
Im Mai 1914 formulierte der Oberquartiermeister Georg von Waldersee eine Denkschrift, deren Brisanz lange unerkannt blieb. Sie wirft ein neues Licht auf die Verantwortung für den Kriegsausbruch.
Entwarnung geben führende Militärs selten – es widerspricht ihrem Beruf, Gefahren kleinzureden. Im Gegenteil betonen sie fast immer mögliche Bedrohungen, weisen die Politik auf möglicherweise übersehene Risiken hin.
Angesichts dessen war beinahe überraschend, was Generalmajor Georg von Waldersee, als Oberquartiermeister einflussreichster deutscher Militär nach Generalstabschef Hellmuth von Moltke dem Jüngeren, am 18. Mai 1914 in einer Denkschrift festhielt. "Für den Augenblick" sei nicht "der Beginn eines Krieges von Seiten der Gegner Deutschlands zu gewärtigen". Bis dahin würden "wohl noch etliche Jahre" vergehen.
Waldersee, in der Berliner Politik als "Falke" bekannt und bekennender Befürworter eines Präventivkrieges gegen Frankreich und Russland, stellte fest: "Dass gerade dieses Jahr den Gegnern Deutschlands einladend sei, gegen den Dreibund kriegerisch vorzugehen, kann nicht gesagt werden." Und er ging noch einen Schritt weiter: "Im Gegenteil, für den Moment kann keinem der Beteiligten etwas daran liegen, einen Waffengang herbeizuführen."
Für seine Einschätzung hatte Waldersee recht gute Argumente: In Frankreich dienten gegenwärtig zwei junge Jahrgänge in der Armee, die noch nicht besonders gut ausgebildet seien. Russlands Armee bedürfe "bis zur größten Wirksamkeit noch etlicher Jahre". England habe "zurzeit durch die irische Frage und manche innere Schwierigkeit durchaus keine Neigung, an kriegerischen Ereignissen beteiligt zu werden".
Erst 2005 wurde das Dokument bewertet
Insgesamt also eine wenigstens nicht beunruhigende Lageeinschätzung des Abteilungsleiters im Großen Generalstab. Dennoch, dieses Dokument spielt in nahezu keinem Buch über den Kriegsausbruch 1914 eine Rolle.
Erstmals erwähnt worden ist es offenbar in einer Dissertation von Anscar Jansen aus dem Jahr 2005. Gedruckt liegt es bisher wohl nur in einer englischen Übersetzung in dem verdienstvollen Quellenband "The Origins of the First World War" vor, den die Historikerin Annika Mombauer von der Open University in Miltin Keynes herausgegeben hat.
In Christopher Clarks viel gerühmtem und bestens verkauftem Buch "Die Schlafwandler" kommt Waldersees Memorandum dagegen nicht vor. Ebenso wenig in Herfried Münklers hervorragender Synthese "Der große Krieg".
Dabei handelt es sich um ein Schlüsseldokument. Denn zehn Wochen später war gerade die vermeintliche Einkreisung Deutschlands durch die angeblich kriegslüsternen Mächte Russland, Frankreich und Großbritannien das Argument Kaiser Wilhelms II., sein Volk zu den Waffen zu rufen.
Die Entscheidung fiel in Berlin und Wien
In ihrem gerade erschienenen Taschenbuch "Die Julikrise" über "Europas Weg in den Ersten Weltkrieg" gibt Annika Mombauer der Denkschrift wenigstens eine halbe Seite Raum. Der Ban, offenbar nach Erscheinen von Clarks Buch im englischen Original 2012 konzipiert, stellt den Eindruck einer Revision der deutschen Verantwortung (nicht "Schuld") für den Ersten Weltkrieg richtig.
"Der Krieg brach aus, weil einflussreiche Kreise in Wien und Berlin ihn herbeiführen wollten und ihn absichtlich riskierten", schreibt Mombauer völlig zutreffend, "und weil man in Paris und Petersburg bereit war, diesen Krieg zu führen, wenn er denn käme".
Gewiss gab es auch, so die Historikerin, in Frankreich und Russland Befürworter eines sofortigen Krieges und zu einem sehr viel geringeren Teil sogar in Großbritannien. "Aber
die Entscheidung, im Sommer 1914 ein Krieg zu führen, war in Wien und Berlin getroffen worden."
Mombauer weiß, worüber sie schreibt: Ihre Studie über Hellmuth von Moltke den Jüngeren (2001) ist ein Standardwerk. Leider ist es nie in deutscher Übersetzung erschienen und deshalb hierzulande jenseits von Expertenkreisen kaum wahrgenommen worden.
Übrigens zog die Denkschrift Georg von Waldersees aus der präzisen Lagebeschreibung, nach der keine aktuelle Bedrohung Deutschlands vorlag, eine radikale Schlussfolgerung: Die deutsche Regierung solle einen Präventivkrieg gegen Frankreich und Russland innerhalb der kommenden zwei Jahre vorbereiten.
"Baldige Herbeiführung eines Krieges"
Diese Botschaft des zweithöchsten Generalstabsoffiziers erreicht umgehend die politisch Verantwortlichen. "Unterwegs entwickelte mir Moltke seine Auffassung unserer militärischen Lage", erinnerte sich der deutsche Außenminister, Staatssekretär von Jagow, an ein Gespräch mit dem Chef des deutschen Generalstabes.
Auf einer Autofahrt von Potsdam nach Berlin Ende Mai 1914 sprach Moltke nach Jagows Erinnerung essentielle Fragen an: "Die Aussichten in die Zukunft bedrückten ihn schwer. In zwei bis drei Jahren würde Russland seine Rüstungen beendet haben. Die militärische Übermacht unserer Feinde wäre dann so groß, dass er nicht wüsste, wie wir ihrer Herr werden könnten."
Ganz im Sinne der Denkschrift seines Stellvertreters fuhr Moltke fort: "Jetzt wären wir ihnen noch einigermaßen gewachsen. Es bliebe seiner Ansicht nach nichts übrig, als einen Präventivkrieg zu führen, um den Gegner zu schlagen, so lange wir den Krieg noch bestehen könnten."
Irritiert hielt Jagow, im Regierungsapparat als Kriegsskeptiker bekannt, fest: "Der Generalstabschef stellte mir demgemäß anheim, unsere Politik auf die baldige Herbeiführung eines Krieges einzustellen."
Die knappe Zusammenfassung der Julikrise von Annika Mombauer ist, neben dem komplexeren Dokumentenband von Gerd Krumeich, wohl die beste Möglichkeit, sich über die Hintergründe des Kriegsbeginns vor 100 Jahren zu informieren. Übrigens teilte Waldersee am 17. Juli 1914 Außenminister von Jagow mit, der Generalstab sei "zum Sprung" bereit. Sonderlich eingekreist oder bedroht fühlte sich der Generalmajor augenscheinlich nicht.
Akten-Fund : Erster Weltkrieg: Deutscher Generalstab wollte Präventivkrieg - Nachrichten Geschichte - DIE WELT