WK-1: "Deutschland trug zweifellos große Schuld am Kriegsausbruch"

Siehe die Analyse zum Forschungsstand hier:
http://www.geschichtsforum.de/715226-post143.html

Das Bündnis wurde nicht "hier" erweitert, sondern schleichend Jahre zuvor. Und die Ursachen liegen tief.

Diesen einzelnen Aspekt der Julikrise resümiert die Studie von Schmidt:

"Aufgrund der fehlenden Möglichkeit eines deutsch-französischen Rapprochements [Anm: dazu gehören zwei, auf dem s.g. "langen Weg" zum Krieg!], aufgrund einer fast unheimlich anmutenden Machentfaltung und eines überschätzten außenpolitischen Manöverierraumes Rußlands sowie fehlender nationaler Machmittel und internationaler Kompensationsmöglichkeiten konstituierte sich dann aber für Frankreich in der Julikrise eine bündnispolitische Zwangslage, in der Poincaré und Paléologue eine uneingeschränkte Unterstützung des Zarenreiches selbst für den Fall erforderlich schien, in dem sich mit einem solchen Handeln das Risiko verband, den Großen Krieg in Europa führen zu müssen."

Das ist oben mit "Existenzfrage" aus französischer Sicht und dem Wert des Bündnisse beschrieben, der sich für Frankreich aufgrund äußerer Umstände erweitert hat. Die perzipierte Alternative beschreibt Schmidt ebenfalls: isoliert, bündnisunfähig, und mit Einbuße an "großmächtlicher Existenz" (das ist angesichts der befürchteten kontinentalen Hegemonie des DR noch milde umschrieben).

Die fatale "Alternativlosigkeit", so wie sie hier wahrgenommen wird und Teil der Spirale zum Krieg wurde, ist rational nachvollziehbar und hat ihre Ursache in den faktischen Bedingungen, nicht in irgendwelchen kriegslüsternen Umtriebigkeiten einzelner Politiker.

Du hast recht; habe es gerade bei Stefan Schmidt nachgelesen. Da hat mir meine Erinnerung einen Streich gespielt. Sorry.

Die Wahrnehmung kann ex post man als Fehler kritisieren, das ändert aber nichts an vermeintlichen "Plausibilitäten" 1914. Zumal die "Abschreckungspolitik" in vorherigen Krisen noch "funktioniert" hat und ebenso vermeintlich oder tatsächlich erfolgreich war(Dülffer, Vermiedene Kriege").
Dazu würde ich auch tendieren, dass das ein Fehler war, denn so wurde aus einer Defensivallianz bezüglich des Deutschen Reiches, die russische Interessensphäre Balkan für, nach meinem Verständnis ganz gewiss nicht defensiven Absichten Russlands, eine weitergehendere, eigentlich schon offensive, Abmachung.
 
@Wilfried

Das Deutsche Reich ist ganz gewiss nicht unschuldig am Ausbruch des Weltkrieges. Dagegen spricht schon der fatale Blankoscheck und das Antreiben Wiens zum Losschlagen. Als hingegen die serbische Antwortnote vorlag, sich immer deutlicher abzeichnete, das Großbritannien nicht außen vor bleiben würde, wurde der Kurs geändert. Der Blankoscheck wurde storniert und Wilhelm trat, auf Bitte des russischen Zaren Nikolaus, in dem kurzen Job als Vermittler zwischen Wien und Petersburg ein. Aber in Russland wurde an der Eskaltionsspirale in Form der Mobilmachung gedreht, es gab auch hier interessierte Kreise, die keine Deeskaltion wollten. Ich sehe Russland und Serbien erheblich kritischer als @Thanepower und @Silesia. Große Schuld hat aber sicher Wien, denn dort wurde von Anfang an zielgerichtet auf einem Krieg hingearbeitet und man machte sich anscheinend entweder gar keine und viel zu wenig Gedanken über die Haltung Russlands.
 
Zuletzt bearbeitet:
Du hast recht; habe es gerade bei Stefan Schmidt nachgelesen. Da hat mir meine Erinnerung einen Streich gespielt. Sorry.

Kein Problem, passiert mir genau so. Ich muss hier ebenfalls bei vielen Aspekten nachschlagen, die Fakten hat keiner von uns im Kopf.

Bzgl. "Offensiv" sind wir unterschiedlicher Auffassung.

Am 1.6.1914 - oder davor - ist von offensiv keine Spur.
Defensiv definiert sich hier über die beiderseitige Einschätzung, dass das Bündnis Rückversicherung gegen eine deutsche Ausdehnung oder Hegemonialzone gewesen ist, nicht für beiderseitige Expansivpläne.

Keiner in Russland ist auf die Idee gekommen, den Pakt für Revanchegelüste in Elsaß-Lothringen einzusetzen.

Keiner in Frankreich ist bis zum 1.6. auf die Idee gekommen, den Pakt für expansive Pläne Russlands auf dem Balkan zu nutzen. Dülffer und Schmidt weisen auf die restriktive Sichtweise der frz. Seite vor 1914 hin. Die Frage ist, welche Beurteilung in der Julikrise dieses Kippen ließ.
 
Zum einen war von Berchtold schon um den 7./9.7.1914 formuliert worden, dass es auf die Annahme des Ultimatums überhaupt nicht ankommt.


Welche Punkte die serbische Regierung als akzeptabel empfand und welche nicht, ist allerdings recht irrelevant. Die Ö-U Führung wollte im Juli 1914 einen Krieg gegen Serbien, und zwar in vollem Bewußtsein, dass sich dieser Krieg eventuell nicht auf den Balkan lokalisieren lassen würde, sondern einen großen europäischen Krieg auslösen könnte, und wurde darin von der deutschen Führung unterstützt. Weder Ö-U noch Deutschland wollten einen Weltkrieg (das Eingreifen der USA hatte 1914 nun wirklich niemand auf dem Schirm) noch einen großen europäischen Krieg; aber wenn es denn geschähe, nun ja, dann besser jetzt als später. Brinkmanship gone wrong.

Was Serbien betrifft: Nikola Pasic vollführte im Vorfeld des Attentats offenbar einen Drahtseilakt: Warnt er die Ö-U Behörden konkret, steht er damit vermutlich als Verräter als Nächster auf der Todesliste der Ujedinjenje ili Smrt. Also ergeht er sich in Allgemeinheiten, die in Ö-U auf taube Ohren fallen.
 
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michaell schrieb:
Was Serbien betrifft: Nikola Pasic vollführte im im Vorfeld des Attentats offenbar einen Drahtseilakt: Warnt er die Ö-U Behörden konkret, steht er damit vermutlich als Verräter als Nächster auf der Todesliste der Ujedinjenje ili Smrt. Also ergeht er sich in Allgemeinheiten, die in Ö-U auf taube Ohren fallen.

Das konnte nach Lage der Dinge auch nur schiefgehen.
 
Das konnte nach Lage der Dinge auch nur schiefgehen.

Nun ja. Was am 28. Juni 1914 in Sarajewo geschah, war auch ein Resultat irrer Zufälle. Franz Ferdinand hätte einfach auf einer anderen Route, gewarnt durch das erste Attentat, die Stadt verlassen können. Der Fahrer hätte nicht verkehrt abbiegen und direkt vor Gavrilo Princips Revolver fahren müssen.
 
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Dragutin Dimitrijevic Apis wurde dann auch 1917 hingerichtet weil er angeblich einen Anschlag an Alexander Karadjordjevic plante.

Was Franz Ferdinand betrifft, man sollte nicht einen Kennedy Effekt unterliegen (alle Wünsche auf den Toten projezieren). Franz Ferdinand hat allen Nationen sehr viel versprochen teilweise Dinge die sich gegenseitig widerspricht.

In Bosnien hätte die Sache um die serbischen Gefühle zu beruhigen eine Landreform bedeutet. Das hätte die muslimische Oberschicht getroffen. Eigentlich sprach nichts dafür das es denn Serben besser gehen würde, auch nichts dafür den Serben wurde 1912 alle Vorrechte in der Vojvodina abgeschafft.

Was für die serbischen Nationalisten extrem gut war, so viele Muslime die sich als Serben verstanden wie zur Zeit von Österreich Ungarn gab es nie. Mit teilweise ironischen

Ich hätte gegen einen Staat zwischen Vorarlberg und Nis würde mir als Wiener einiges erleichtern, aber ob die Donaumonarchie überlebensfähig war wage ich zu bezweifeln.
 
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Die Entscheidung fiel in Berlin und Wien

Was ist davon zu halten?

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Akten-Fund


Deutschlands Generalstab wollte den Präventivkrieg

Im Mai 1914 formulierte der Oberquartiermeister Georg von Waldersee eine Denkschrift, deren Brisanz lange unerkannt blieb. Sie wirft ein neues Licht auf die Verantwortung für den Kriegsausbruch.



Entwarnung geben führende Militärs selten – es widerspricht ihrem Beruf, Gefahren kleinzureden. Im Gegenteil betonen sie fast immer mögliche Bedrohungen, weisen die Politik auf möglicherweise übersehene Risiken hin.

Angesichts dessen war beinahe überraschend, was Generalmajor Georg von Waldersee, als Oberquartiermeister einflussreichster deutscher Militär nach Generalstabschef Hellmuth von Moltke dem Jüngeren, am 18. Mai 1914 in einer Denkschrift festhielt. "Für den Augenblick" sei nicht "der Beginn eines Krieges von Seiten der Gegner Deutschlands zu gewärtigen". Bis dahin würden "wohl noch etliche Jahre" vergehen.

Waldersee, in der Berliner Politik als "Falke" bekannt und bekennender Befürworter eines Präventivkrieges gegen Frankreich und Russland, stellte fest: "Dass gerade dieses Jahr den Gegnern Deutschlands einladend sei, gegen den Dreibund kriegerisch vorzugehen, kann nicht gesagt werden." Und er ging noch einen Schritt weiter: "Im Gegenteil, für den Moment kann keinem der Beteiligten etwas daran liegen, einen Waffengang herbeizuführen."

Für seine Einschätzung hatte Waldersee recht gute Argumente: In Frankreich dienten gegenwärtig zwei junge Jahrgänge in der Armee, die noch nicht besonders gut ausgebildet seien. Russlands Armee bedürfe "bis zur größten Wirksamkeit noch etlicher Jahre". England habe "zurzeit durch die irische Frage und manche innere Schwierigkeit durchaus keine Neigung, an kriegerischen Ereignissen beteiligt zu werden".

Erst 2005 wurde das Dokument bewertet

Insgesamt also eine wenigstens nicht beunruhigende Lageeinschätzung des Abteilungsleiters im Großen Generalstab. Dennoch, dieses Dokument spielt in nahezu keinem Buch über den Kriegsausbruch 1914 eine Rolle.

Erstmals erwähnt worden ist es offenbar in einer Dissertation von Anscar Jansen aus dem Jahr 2005. Gedruckt liegt es bisher wohl nur in einer englischen Übersetzung in dem verdienstvollen Quellenband "The Origins of the First World War" vor, den die Historikerin Annika Mombauer von der Open University in Miltin Keynes herausgegeben hat.

In Christopher Clarks viel gerühmtem und bestens verkauftem Buch "Die Schlafwandler" kommt Waldersees Memorandum dagegen nicht vor. Ebenso wenig in Herfried Münklers hervorragender Synthese "Der große Krieg".

Dabei handelt es sich um ein Schlüsseldokument. Denn zehn Wochen später war gerade die vermeintliche Einkreisung Deutschlands durch die angeblich kriegslüsternen Mächte Russland, Frankreich und Großbritannien das Argument Kaiser Wilhelms II., sein Volk zu den Waffen zu rufen.

Die Entscheidung fiel in Berlin und Wien

In ihrem gerade erschienenen Taschenbuch "Die Julikrise" über "Europas Weg in den Ersten Weltkrieg" gibt Annika Mombauer der Denkschrift wenigstens eine halbe Seite Raum. Der Ban, offenbar nach Erscheinen von Clarks Buch im englischen Original 2012 konzipiert, stellt den Eindruck einer Revision der deutschen Verantwortung (nicht "Schuld") für den Ersten Weltkrieg richtig.

"Der Krieg brach aus, weil einflussreiche Kreise in Wien und Berlin ihn herbeiführen wollten und ihn absichtlich riskierten", schreibt Mombauer völlig zutreffend, "und weil man in Paris und Petersburg bereit war, diesen Krieg zu führen, wenn er denn käme".

Gewiss gab es auch, so die Historikerin, in Frankreich und Russland Befürworter eines sofortigen Krieges und zu einem sehr viel geringeren Teil sogar in Großbritannien. "Aber die Entscheidung, im Sommer 1914 ein Krieg zu führen, war in Wien und Berlin getroffen worden."

Mombauer weiß, worüber sie schreibt: Ihre Studie über Hellmuth von Moltke den Jüngeren (2001) ist ein Standardwerk. Leider ist es nie in deutscher Übersetzung erschienen und deshalb hierzulande jenseits von Expertenkreisen kaum wahrgenommen worden.

Übrigens zog die Denkschrift Georg von Waldersees aus der präzisen Lagebeschreibung, nach der keine aktuelle Bedrohung Deutschlands vorlag, eine radikale Schlussfolgerung: Die deutsche Regierung solle einen Präventivkrieg gegen Frankreich und Russland innerhalb der kommenden zwei Jahre vorbereiten.

"Baldige Herbeiführung eines Krieges"

Diese Botschaft des zweithöchsten Generalstabsoffiziers erreicht umgehend die politisch Verantwortlichen. "Unterwegs entwickelte mir Moltke seine Auffassung unserer militärischen Lage", erinnerte sich der deutsche Außenminister, Staatssekretär von Jagow, an ein Gespräch mit dem Chef des deutschen Generalstabes.

Auf einer Autofahrt von Potsdam nach Berlin Ende Mai 1914 sprach Moltke nach Jagows Erinnerung essentielle Fragen an: "Die Aussichten in die Zukunft bedrückten ihn schwer. In zwei bis drei Jahren würde Russland seine Rüstungen beendet haben. Die militärische Übermacht unserer Feinde wäre dann so groß, dass er nicht wüsste, wie wir ihrer Herr werden könnten."

Ganz im Sinne der Denkschrift seines Stellvertreters fuhr Moltke fort: "Jetzt wären wir ihnen noch einigermaßen gewachsen. Es bliebe seiner Ansicht nach nichts übrig, als einen Präventivkrieg zu führen, um den Gegner zu schlagen, so lange wir den Krieg noch bestehen könnten."

Irritiert hielt Jagow, im Regierungsapparat als Kriegsskeptiker bekannt, fest: "Der Generalstabschef stellte mir demgemäß anheim, unsere Politik auf die baldige Herbeiführung eines Krieges einzustellen."

Die knappe Zusammenfassung der Julikrise von Annika Mombauer ist, neben dem komplexeren Dokumentenband von Gerd Krumeich, wohl die beste Möglichkeit, sich über die Hintergründe des Kriegsbeginns vor 100 Jahren zu informieren. Übrigens teilte Waldersee am 17. Juli 1914 Außenminister von Jagow mit, der Generalstab sei "zum Sprung" bereit. Sonderlich eingekreist oder bedroht fühlte sich der Generalmajor augenscheinlich nicht.

Akten-Fund : Erster Weltkrieg: Deutscher Generalstab wollte Präventivkrieg - Nachrichten Geschichte - DIE WELT
 
Könnte es zum Zeitpunkt der Denkschrift deshalb noch keine aktuelle Bedrohung Deutschlands durch Frankreich und Rußland gegeben haben, weil diese Denkschrift vor dem Attentat verfaßt wurde und sich danach die Bedrohungslage änderte?
Zudem scheint man diese Überlegungen doch sehr wohl aus einem Gefühl der Bedrohung getroffen zu haben, schließlich redet der Artikel selbst von Präventivkrieg.
 
Insgesamt also eine wenigstens nicht beunruhigende Lageeinschätzung des Abteilungsleiters im Großen Generalstab. Dennoch, dieses Dokument spielt in nahezu keinem Buch über den Kriegsausbruch 1914 eine Rolle.

Die ständigen Kriegsüberlegungen, in einem diffusen Sinn auch "präventiv", sind eigentlich ein alter Hut.

Der Aktenvermerk belegt hier nichts Neues, sondern korrespondiert zB mit Darlegungen wie von Mombauer in Hamilton/Herwig, War Planning 1914: "The planners and their 'Weltbild'. Er ist auch nicht notwendig, um das unten besprochene "Hintergrundrauschen" noch zu belegen, dafür gibt es reichlich Quellen.

Solche Überlegungen fanden sich auf allen Ebenen, sozusagen konsensual. Bei Jansen spielen auch die unteren Ebenen und die Militärbürokratie eine Rolle, das Ganze kulminiert jedoch im "cult of offensive", in der "short war illusion" und im Schlieffen/Moltke-Plan.

Siehe hierzu Afflerbach:
http://www.sehepunkte.de/2006/11/pdf/9404.pdf
"Jansen kommt in seiner Dissertation zu dem Ergebnis, dass das deutsche Militär in der Julikrise keinesfalls auf einen unmittelbaren Krieg vorbereitet gewesen, sondern von diesem ebenso überrascht worden sei wie alle anderen auch. Er sieht dies als weiteres Argument dafür, dass die deutsche Reichsleitung Anfang Juli 1914 einen großen Krieg nicht für wahrscheinlich gehalten habe. Diese Erkenntnis ist zwar keine wirkliche Überraschung,* aber trotzdem ein wichtiger Befund, der es der schrumpfenden Gruppe von erschwörungstheoretikern noch schwerer machen wird, von einem von langer Hand vorbereiteten deutschen Angriff zu sprechen. "

Damit ist indirekt der Kriegsrat von 1912 angesprochen, der nicht explizit einen "Kriegsplan" 1914 zum Gegenstand hatte, im "präventiven Denken" aber das Hintergrundrauschen sowohl für Bethmanns "kalkulierte Risikopolitik" mit Blankoscheck wie für Moltke Kriegsforderungen Ende der Julikrise darstellt. Alles längst geklärt.

Ärgerlich daran ist, dass die Presse mal wieder "Neuigkeiten" heraushaut, wo keine sind, weil sie die Diskussionen der letzten 30 Jahre mangels Interesse und Sensationspotenzial überhaupt nicht wahrgenommen haben.

* Autoren wie Mombauer werden zB hier im Forum durchaus wahrgenommen. Interessant ist die massive Rüge von Afflerbach dazu, dass die rezensierte Dissertation diese Literatur übersehen hat.
 
Den Vorwurf, dass Clark den Aspekt (nicht: die Quelle) nicht behandeln würde, kann man nicht machen:

"Somit kann man von zwei gegensätzlichen Prozessen sprechen: einem, durch den die Initiative zu einem beträchtlichen Teil an eine laut Verfassung untergeordnete Militärführung überging, und einem zweiten, in dem ein prätorianisches Militär, das nach der Verfassung eine gewisse Unabhängigkeit genoss, von den Politikern eingedämmt, gesteuert oder abgelenkt wurde. Moltkes Rufe nach einem Präventivkrieg wurden von Kaiser Wilhelm II. und den zivilen Führungspersonen ebenso abgeblockt wie Conrads von Kaiser Franz Joseph, Erzherzog Franz Ferdinand und Leopold von Berchtold. Kokowzow schaffte es, zumindest eine Zeitlang, geschickt die ambitionierten Initiativen des Kriegsministers zu stoppen. Ende 1913 versuchte Suchomlinow, Kokowzow, den damaligen Ministerpräsidenten und Finanzminister, völlig aus den Überlegungen zum Militärhaushalt auszuschließen. Allerdings erkannte der Ministerrat, dass der herrschsüchtige Kriegsminister zu weit gegangen war, und lehnte den Antrag ab. In Russland, Deutschland und Österreich, Großbritannien und Frankreich blieb die militärische Planung letztlich den politischen und strategischen Zielen der zivilen Führungen untergeordnet."

Quelle: Clark, Schlafwandler.


Die oben zitierte Beurteilung ist allerdings nur auf den Zeitraum vor der Juli-Krise bezogen, nach dem 23.7. und mit dem ÖU-Ultimatum kippte diese "Unterordnung", wie Mombauer etc. das anhand des deutschen Militärs nachgewiesen haben. Jetzt griffen die Automatismen der Militärplaner in fataler Weise ein.
 
Vorsicht, in der Denkschrift steht, das eine aktuelle Bedrohung nicht ansteht, aber mit einer späteren Drohung zu rechnen ist.Zwischen den Zeilen lese ich, das man (noch) einen Vorsprung in Rüstung und Mobilmachung hat, und das dieser Vorsprung auszunützen sei, um den "Waffengang" zu gewinnen.

Der Generalstab hatte wohl die nicht ganz unberechtigte Furcht, das "wenn die mit den anderen fertig sind, wir dran kommen" und empfiehlt, militärisch taktisch vollkommen richtig, den Angriff, um einen Angriff und Krieg auf Reichsgebiet zu vermeiden . Echte Rüstung in Richtung "defensive Armee" war ja nicht mehr zu erkennen, die entsprechenden Militärdoktrinen sahen denn auch m.W. vor, den Krieg im Zweifel auf dem Gebiet des Gegners stattfinden zu lasse. Frankreich und Rußland waren ja von einer defensiven Militärdoktrin hin zu einer offensiven geschwenkt.
Damit war 1914 noch keine besondere Gefahr, da die beiden ihre Pläne in Bezug der Umsetzung noch nicht fertig waren. Also , vom militärischen her, wäre ein Angriff auf beide Armeen und eine Zerschlagung dieser so schnell wie möglich nötig gewesen.

Einzig bei ÖU ist eventuell eine defensive Strategie gegen Rußland und Frankreich zu erkennen.
 
Angesichts dessen war beinahe überraschend, was Generalmajor Georg von Waldersee, als Oberquartiermeister einflussreichster deutscher Militär nach Generalstabschef Hellmuth von Moltke dem Jüngeren, am 18. Mai 1914 in einer Denkschrift festhielt. "Für den Augenblick" sei nicht "der Beginn eines Krieges von Seiten der Gegner Deutschlands zu gewärtigen". Bis dahin würden "wohl noch etliche Jahre" vergehen.

Erst 2005 wurde das Dokument bewertet

Das fettgedruckte aus dem Artikel ist übrigens Unsinn.

Mombauer wertet die Mai-Denkschrift ("Die militärpolitische Lage Deutschlands", Archivierung der Quelle: BA-MA W-10/50276) in ihrem Buch aus. Waldersee hat sie in einem Memo nach dem Kriegsausbruch zitiert. Die Schrift zielt im Kern auch auf eine weitere Heeresvermehrung.

Frühere Zitate habe ich jetzt nicht geprüft.*

*EDIT: Jetzt aber, siehe Anhang Mombauer S. 177. Siehe auch Röhl im Aufsatz "Germany", in Keith Wilson, Decisions for War 1914.
 

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Die Waldersee-Denkschrift wird doch, wie leicht festzustellen ist, in zahlreichen Werken zum Ersten Weltkrieg behandelt, so u.a. und sicher nicht abschließend
Possony - Zur Bewältigung der Kriegsschuldfrage Völkerrecht und Strategie bei der Auslösung zweier Weltkriege 1968
Zechlin – Krieg und Kriegsrisiko 1979
Michalka – Der erste Weltkrieg Wirkung, Wahrnehmung Analyse 1994
Kronenbitter – Krieg im Frieden 2003
Ehlert et.al. Der Schlieffenplan 2006
Hoffmann – Der Sprung ins Dunkle 2010

Der Herr Kellerhoff von der Welt bezeichnet sich zwar als Historiker, aber eine ordentliche Arbeitsweise hat er bei seinem Studium offenbar nicht gelernt.
 
kosmokrat schrieb:
Die knappe Zusammenfassung der Julikrise von Annika Mombauer ist, neben dem komplexeren Dokumentenband von Gerd Krumeich, wohl die beste Möglichkeit, sich über die Hintergründe des Kriegsbeginns vor 100 Jahren zu informieren.

Das möchte ich doch in Frage stellen. Beide Bände sind m.E. nach nicht umfassend genug, um die überaus komplexe Vorgeschichte gerecht zu werden. Dafür bedarf es doch eines erheblich umfassenderen Literaturstudiums, um die Materie zu durchdringen.
 
Die Waldersee-Denkschrift wird doch, wie leicht festzustellen ist, in zahlreichen Werken zum Ersten Weltkrieg behandelt, so u.a. und sicher nicht abschließend

Da das interessant ist, hier noch die Vorgeschichte:

Die älteren Zitate betreffen nur Ausschnitte, das Dokument lag nicht vor. Die Ausschnitte beriefen sich auf einen Aufsatz in der Kriegsschuldschrift von 1927. Sekundär wurde es dann von Ritter oder Zechlin zitiert (Bethmann-Hollweg, Kriegsrisiko und SPD 1914, resp. in dem Sammelband).

Das gesamte Dokument befand sich in 40 Tonnen Akten, die 1988 von der SU an die DDR zurückgegeben wurden.

Es wurde erstmals vollständig von Röhl ausgewertet, damit auch der Auszug in der Kriegschuldschrift bestätigt, nachdem seine Doktorandin Mombauer es in den Aktenmassen entdeckt hatte. Siehe auch Röhl in Wilson, wie oben zitiert (bzw. im Michalka in dem Aufasatz: Vorsätzlicher Krieg?).
 
Nebenbei: Dass Münkler sich im „Großen Krieg“ ganz auf die „entsprechenden Fachhistoriker“ stützt, bezweifele ich eher. So widerspricht er zum Beispiel der Darstellung, dass der „deutsche Militarismus“ den Krieg verursacht habe oder dass Militärs den Krieg erklärt hätten oder dass Deutschland die Alleinschuld am Krieg trage. Aber das Buch ist erst heute angekommen. 900 Seiten konnte ich noch nicht lesen.

An dieser Darstellung wird einmal mehr deutlich, dass Dein Kenntnisstand der aktuellen Diskussion zum Kriegsausbruch ein wenig den aktuellen Stand "ignoriert". Oder anders gesagt, ich weiss nicht, auf welche "entsprechenden Fachhistoriker" sich Deine Aussage bezieht. In der Regel werden hier - im Forum - Historiker herangezogen, die durch ihre historischen Arbeiten den aktuellen Erkenntnisstand definiert haben. Nebenbei: Dazu gehört sicherlich nicht Münkler.

Zunächst stellt Münkler die Diskussion, eher fragmentarisch, zum Thema dar. Und dabei referiert er die Sichten der Fachistoriker. Abschließend fasst er das Resümee dahingehend zusammen:

" Der deutsche Militarismus beeinflusste eher die innere Struktur des Reichs und die darin stattfindenden politisch-sozialen Kämpfe als dessen Außenpolitik." (letzte Seite Abschnitt: Der deutsche Militarismus als kriegstreibender Faktor).

Und dieses Ergebnis basiert auf Studien von Fachhistorikern, die bereits vor Münch genau dieses darstellen.

Dass der "Militarismus" eine der Ursachen des Ausbruchs war, so wie in der These von Fischer zur Rolle der Eliten (Griff nach der Weltmacht oder in Bündnis der Eliten) wird seit einiger Zeit nicht mehr als Erklärung akzeptiert. Auf die entsprechenden Arbeiten von Hamilton, Herwig, Mombauer etc. wurde schon zig-Mal verwiesen. Dieses gilt primär für die kurzfristig wirksamen Erklärungsfaktoren für den unmittelbaren Ausbruch des WW 1. Da folgt Münkler uneingeschränkt den Arbeiten von obiger Autoren.

Für die langfristigen Erklärungen spielt der Militarismus aber weiterhin durchaus eine Rolle, wie bei Joll, (Origins of the First World War) dargestellt. Auf den sich Münkler inhaltlich und m.E. konzeptionell für seine Argumentation (Themenauswahl etc.) auch stützt.

Ein sicherlich gutes Bild, um den "Geist" vor dem Krieg einzufangen ist das Buch von B. Tuchmann, Der stolze Turm. Von E. Piper liegt eine interessante Erweiterung dieser sozialen und kulturellen Aspekte vor mit seinem Buch "Nacht über Europa. Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs", in dem er die "Stimmung" zum Krieg, auch die patriotischen Sichten und ihr "Kippen", deutlich herausarbeitet.

Ansonsten: Die Alleinschuld ist ohnehin vom Tisch, aber schön, dass da noch einmal explizit widersprochen wird! Für diese Feststellung brauchen wir allerdings kein weiteres Buch. Schon seit einiger Zeit, eigenlich seit Fay und Albertini, nicht mehr.
 
An dieser Darstellung wird einmal mehr deutlich, dass Dein Kenntnisstand der aktuellen Diskussion zum Kriegsausbruch ein wenig den aktuellen Stand "ignoriert". Oder anders gesagt, ich weiss nicht, auf welche "entsprechenden Fachhistoriker" sich Deine Aussage bezieht. In der Regel werden hier - im Forum - Historiker herangezogen, die durch ihre historischen Arbeiten den aktuellen Erkenntnisstand definiert haben. Nebenbei: Dazu gehört sicherlich nicht Münkler.
[...]

Ich kann dieser Aussage wenig sinnvolles abringen. Sicherlich können Diskutanten hier unterschiedlicher Meinung sein. (Das macht im übrigen eine gesunde Diskussion aus!)
Dabei möchte hier auch nicht so verstanden werden, daß ich Partei für eine Meinung oder deren Ansicht aus Literatur heraus ergreifen möchte, aber es wäre immer noch sinnvoll, für das Verständis von weniger Wissenden, wie mich z.B. (oder gar Außenstehende) des Themas, nicht immer wieder sich Meinungen zu bilden, auf reiner Literaturbasis, (mal ist das Buch, morgen ist das Buch), sondern aus dem was der Diskustant aus dem gelesenen Versteht und es als Meinung seines Verständnisses darlegt.

Nicht alle werden sich auf fachhistorische Meinungen beziehen! Ich hoffe, daß ist nun nicht wirklich der neue Trend hier im GF, die fachwissenschaftliche Größe eines Themas over the Top zu stellen. Das kann nicht funktionieren, weil wenige User hier diesen Gerecht werden können, oder gar wollen.

Interessant wäre bei aller Diskussion um die Ereignisse von 1914 nicht, die Bewertung der Literatur, sondern die Meinung und Ansicht der Diskutanten. Zumal ich als Leser dieses Themas, die Literatur garnicht bewerten kann und somit der Aussagen einzelner User glauben schenken muß oder auch nicht.

Ich kennzeichne meine Gedanken dazu als OT, um den Thread nicht zu wässern!
 
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