@Turgot: Du hast zu meinen letzten Ausführungen zum Wiener Kongress ja gar keine Stellung bezogen.
@Turgot: 1815 ging es „nur“ darum das europäische Gleichgewicht der Mächte und die Restauration wieder zur Geltung kommen zu lassen. Das war doch in Versailles ganz anders. Hier ging es auch darum die Theorie des Nationalitätenprinzips und das Selbstbestimmungsrecht der Völker umzusetzten.
Ich habe in #182 versucht zu erklären, dass man es 1815 schaffte, einen vormalig revolutionären Zustand der Mächte untereinander in ein allgemein anerkanntes System der Legitimität zu überführen. Im Gegensatz dazu wurden die neuen Prinzipien des `Selbstbestimmungsrechts´ und des `Nationalitätenprinzips´ eben nicht konsequent verfolgt sondern mischten sich mit Reparationsforderungen und Gebietsabtretungen zum Zwecke der Machtbeschneidung. Doppelt schwer wog auch, dass man deutscherseits meinte, unter diesen Bedingungen den Waffenstillstand eingegangen zu sein und auch unter diesen Bedingungen einen Frieden zu erwarten.
Den Vermerk deinerseits auf die `Macht der Presse´ oder `Macht des Boulevard´ (@Turgot:„…Vor der Tür lauerten Heerscharen von Journalisten, die die Interessen der Verleger mit Nachdruck vertraten. Die öffentliche bzw. veröffentliche Meinung, es war eine überaus aufgeputschte, ließ sich nicht so einfach ignorieren!...“) dem die alliierten Konferenzteilnehmer ausgesetzt waren habe ich verstanden. Aber auch die Staatsmänner in Wien 1815 waren Vorgesetzten zur Rechenschaft verpflichtet und arbeiteten nicht im `luftleeren Raum´. Castlereagh war seinem Parlament verpflichtet, Metternich musste seinem störrischen Kaiser des Öfteren zum „Einlenken“ bewegen und so fort! Gerade weil diese Staatsmänner auch gegen ihre Vorgesetzten letztlich zum Wohl Europas entschieden, schätze ich ihre Leistung im Gegensatz zu ihren Amtskollegen von 1919 höher ein.
@Turgot: Ich jedenfalls für mein Teil bevorzuge den Vergleich mit Brest. Er zeigt eigentlich vielmehr, wie unberechtigt die deutschen Klagen über die angeblichen Ungerechtigkeiten des Versailler Vertrages gewesen waren.
Der Vergleich zwischen Versailles 1919 und Wien 1815 sollte die Gegensätze aufzeigen. Der Vergleich mit Brest 1918 zeigt, da stimme ich dir uneingeschränkt zu, eher Gemeinsamkeiten und kaum Gegensätze. Daher ist der Frieden von Brest als Blaupause für einen Verständigungsfrieden 1919 ungeeignet - obwohl:
@Turgot: Russland musste enorme territoriale Zugeständnisse machen. Polen, Finnland, Estland, Lettland und Litauen sowie wie Transkaukasien gingen verloren. Sie wurden entweder souveräne Staaten unter deutschen Protektorat oder direkt dem Deutschen Reich einverleibt. Des Weitern mussten die Russen die Unabhängigkeit der Ukraine anerkennen.
Hätte ein allgemeiner Friedensschluss aller Kriegsteilnehmer, also Russland eingeschlossen, unter der Beachtung des `Nationalitätenprinzips´ nicht genau diese Staatenbildung bedingt? Oder waren die Finnen, Polen, Esten, Litauer, Letten und Ukrainer denn Russen? Ich bitte, mich nicht falsch zu verstehen: Der Friede von Brest war ein Diktatfrieden und er schadete Deutschland 1919 aber Russland 1914 war halt ein Vielvölkerstaat und Deutschland nicht. Die „ehernen“ Prinzipien, welche die USA im Gepäck nach Versailles mitbrachten, ließen sich nur auf eigene Kosten durchsetzen – das war nicht im Sinne Frankreichs!
@Turgot: Jener Clemenceau, der danach von den Franzosen eben nicht zum Staatspräsidenten gewählt wurde und sich bereits 1920 "verbittert aus der Politik zurückzog" Im Alter von 79 Jahren durfte er das auch.
Hierbei geht es nicht um das Alter, sondern um die Tatsache, dass das französische Volk ihn bereits direkt nach dem Sieg nicht als Staatspräsidenten haben wollte!
@silesia: Ich bin sehr bei Turgot, aufgrund der oben skizzierten Veränderungen ergeben Vergleich mit dem 19. Jahrhundert und daraus resultierende Wertungen keinen Sinn.
„Der Aufstieg und Niedergang der früheren, auf Vielstaatlichkeit beruhenden Weltordnungen – vom Westfälischen Frieden bis in unsere Zeit – ist die einzige Erfahrung auf die man zurückgreifen kann, wenn man nachvollziehen will, mit welchen Schwierigkeiten Staatsmänner heute konfrontiert sind….Aus der Geschichte lernt man durch Analogien, die Schlüsse auf die möglichen Konsequenzen in vergleichbaren Situationen zulassen. Jede Generation muss für sich entscheiden, welche Umstände tatsächlich vergleichbar sind…Der Staatsmann muss auf der Grundlage von Einschätzungen handeln, für die es zum jeweiligen Zeitpunkt keine Beweise gibt; ihn wird die Geschichte zum einen danach beurteilen, wie klug er den vermeintlichen Wandel vollzogen, vor allen Dingen aber danach, wie gut er den Frieden bewahrt hat.“(1)
@silesia: Es wäre zweckmäßig, wenn Franz-Ferdinand einmal kurz skizzieren würde, wie er sich die inneren Verhältnisse Frankreichs, Großbritanniens und der USA 1918/19 vorstellt, oder jedenfalls ganz grob vorstellt, aus welcher Literatur er seine derzeitigen Schlüsse über die treibenden Kräfte, inneren Friktionen etc. dieser Länder zieht.
„Frankreich hatte sich im Krieg weißgeblutet. Die Generation, die seit 1870 von einem Vergeltungskrieg geträumt hat, war siegreich daraus hervorgegangen, aber um einen verhängnisvollen Preis an nationaler Lebenskraft. Es war ein hohlwangiges Frankreich, das die Morgenröte des Sieges erblickte. Tiefe Furcht vor Deutschland bedrückte die französische Nation schon am ersten Tag nach ihrem überwältigenden Erfolg…Zweifellos war endlich Friede und Sicherheit erreicht. Mit einem einzigen leidenschaftlichen Aufschrei rief das französische Volk: „Nie wieder Krieg!“…
Die wirtschaftlichen Bestimmungen des Vertrages waren so bösartig und töricht, dass sie offensichtlich jede Wirkung verloren. Deutschland wurde dazu verurteilt, unsinnig hohe Reparationen zu leisten. Diese Diktate drückten sowohl die Wut der Sieger aus wie den Irrtum ihrer Völker, die nicht begriffen, dass keine besiegte Nation oder Gemeinschaft die Kosten des modernen Krieges ersetzen kann… Die siegreichen Alliierten versicherten nach wie vor, dass sie Deutschland ausquetschen würden, „bis die Kerne krachen“. Das alles übte auf das Gedeihen der Welt und auf die Stimmung des deutschen Volkes gewaltigen Einfluss aus…“(2)
(1) H. Kissinger `Die Vernunft der Nationen´ Berlin 1994
(2) W. Churchill `Der Zweite Weltkrieg´ Bern 1948