Ich bin nicht gerade ein Kenner der Philosophiegeschichte. Deshalb sage ich alles folgende ausdrücklich unter Vorbehalt:
Am Anfang der griechischen Philosophie, den man für gewöhnlich ins frühe 6. Jh. v. Chr. setzt, stand nicht in erster Linie die Beschäftigung mit ethischen und moralischen Fragen, nicht mit Fragen nach einer sinnvollen, guten oder tugendhaften Lebensführung, sondern vor allem die Beschäftigung mit Fragen der Kosmogonie und Kosmologie. Die Themen des Thales von Milet und der meisten sogenannten Vorsokratiker waren: Weltentstehung, Weltordnung und Naturerklärung; welche Prinzipien und welche Urstoffe liegen dem beobachtbaren Kosmos und der erfahrbaren Natur zugrunde? Ethische Fragen wurden, soweit ich weiß, von den Vorsokratikern nur nebenbei angesprochen. Vielleicht kann man behaupten, dass die Sophisten dadurch, dass sie nicht mehr die Natur als Ganzes, sondern den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt ihrer Gedanken stellten und sämtliche tradierten Wertvorstellungen infrage stellten, den Weg zur philosophischen Ethik bahnten (wenngleich sie keine objektiv gültige Ethik liefern wollten und konnten). Sokrates schenkte der Ethik dann große philosophische Aufmerksamkeit und zwei Philosophen-Generationen später verstand Aristoteles die Ethik gewissermaßen als eine Art Disziplin der praktischen Philosophie.
Klar habe ich diese Entwicklung allzu oberflächlich und plakativ und im Detail möglicherweise sogar falsch beschrieben (weil ich's nicht besser weiß), aber ich denke schon, dass sich behaupten lässt: Nicht das Interesse an Ethik und Moral war die Initialzündung für das Aufkommen der griechischen Philosophie. Älter ist nämlich die Naturphilosophie.
Wo liegen dann die Gründe für das Aufkommen der Philosophie?
Zum Philosophieren braucht man Zeit und Muße. Wer sich täglich für seinen Lebensunterhalt abmühen muss, kommt nicht zum Philosophieren. In der griechischen Gesellschaft hielt sich aber mancher Polis-Bürger Sklaven, welche die täglichen Plackereien besorgten und ihren Besitzer zu relativem Reichtum brachten. Zeit ist nicht nur Geld, sondern Reichtum beschert dem Reichen auch Zeit für anderes als nur Wirtschaften und Arbeiten.
Zeit ist aber nicht alles, was es zum Philosophieren braucht. Denn z. B. auch die alten Jäger und Sammler dürften ja nach erfolgreichem Erlegen und Zerlegen eines Auerochsens phasenweise Zeit und Ruhe zur Verfügung gehabt haben. Trotzdem sind die Jäger nicht als Philosophen in die Annalen der Weltgeschichte eingegangen. Vielleicht ist es erst der Wohlstand und Luxus, ein wirtschaftliches und soziales Abgesichert-sein, welches die Gedanken des Menschen von den primären, lebenspraktischen Fragen zu solch sekundären Fragen, was der Urstoff der Welt sei, emporhebt.
Aber ist das Streben nach vernünftiger und rationaler Welterkenntnis und Selbsterkenntnis tatsächlich aus der Sättigung und der Langeweile reicher griechischer Bürger heraus entstanden? Warum haben sie in ihrer Freizeit nicht einfach mythische Epen gelesen und verfasst, Sinn in Mysterienkulten gesucht, Landwirtschafts- und Ökonomietheorie betrieben, ihre Muße der darstellenden Kunst gewidmet usw. Warum um alles in der Welt begannen einige Polis-Bürger im griechischen Raum irgendwann ausgerechnet Naturphilosophie zu betreiben?
Als Antwortmöglichkeit spinne ich mir folgendes zusammen:
Die Bürger der griechischen Poleis lebten in einer relativ geordneten Welt, in gesellschaftlicher und politischer Ordnung. Diese Ordnung war nicht das Produkt und der Nutzen eines Königs oder einer handvoll Adelsfamilien, sondern das Produkt und der Nutzen aller Bürger der griechischen Poleis (nur vorbeugend: nein, ich verwechsle hier nicht die Form griechischen Demokratie mit der heute in Westeuropa angewandten Form der Demokratie). Gesetze, Institutionen wie Volksversammlungen, Gerichte usw. waren Ordnungselemente oder Ordnungsprinzipien, mit denen sich die Bürger der griechischen Städte identifizierten. Ordnung fand sich nicht nur innerhalb einer polis, sondern mittels Verträgen und wirtschaftlichen und sonstigen Beziehungen befand man sich auch mit anderen Poleis in einer Ordnung. Da diese griechische Ordnung funktionierte, der Gesellschaft Stabilität garantierte, den Bürgern Lebensqualität und „Glück“ bescherte, beinahe als Idealbild eines „Organismus“ erschien, dessen Funktionstüchtigkeit seine Richtigkeit und Sinnhaftigkeit bewies, so suchten einige Griechen-Köpfe nach Übertragungsmöglichkeiten solcher Ordnungsprinzipien auf den Kosmos, auf das Ganze des Daseins. Der Blick auf die griechische Religion war keine Hilfe, denn im mythologischen Götterhimmel – dessen Durcheinander war kaum zu überbieten – suchte man vergeblich nach einer Ordnung, die der funktionierenden menschlichen Poleis-Ordnung zum Vorbild dienen konnte. Schupps war man bei naturphilosophischen Gedanken, über die Prinzipien und die Ordnung des Kosmos.
Das ist meine naive These zu den Gründen der Entstehung der griechischen Philosophie. Es wird allerdings in der wissenschaftlichen Literatur sicherlich auch gescheitere und etablierte Überlegungen zu dieser Frage geben.