Müssen wir bei dem in Ann. I, 63 beschriebenen Geschehen überhaupt von einem singulären und auf wenige Stunden zusammengedrängten Ereignis ausgehen?
Meiner Meinung nach ja.
Wäre nicht auch denkbar, daß Tacitus zum vorherigen Erzähltempo zurückkehrt? Daß er schildern will, wie Germanicus sein Heer so weitermachen läßt wie vor der Bestattungsaktion? Daß Reiterei und Leichtbewaffnete ausschwärmen, die noch unorganisierten Germanen vor sich her treiben, sie in kleinen Gruppen stellen sollen, woimmer und wannimmer möglich? Daß Arminius, obwohl mittlerweile am Ort des Geschehens eingetroffen, sich zunächst noch treiben lassen muß (vielleicht aber auch treiben lassen will, solange die Richtung stimmt), noch Ordnung in das Chaos der versprengten Brukterergruppen bringen muß, aber auch darauf vertrauen kann, daß er von Tag zu Tag stärker wird, weil sich hinter ihm die Hauptmacht seiner Truppen sammelt? Daß Arminius dann irgendwann sich mit seiner Verstärkung vereint wendet und nun seinerseits die römische Kavallerie vor sich her treibt, der es nicht gelingt, sich mit den anderen Kontingenten zu treffen und organisiert solange Widerstand zu leisten, bis Germanicus mit der schweren Infanterie eintrifft und eingreifen kann? Daß es Arminius beinahe gelingt, die Römer in sumpfiges Terrain abzudrängen, wo sie ihm nicht mehr entkommen könnten, dann aber doch Germanicus noch rechtzeitig mit ausreichend Verstärkung aufmarschiert und die Reiterei heraushaut (wobei in diesem Szenario Arminius sich recht schnell zurückziehen müßte, weil offenbar noch nicht stark genug für eine Entscheidungsschlacht mit Germanicus' Legionen, und das Heraushauen also eher Scharmützelcharakter hätte)? Daß Tacitus also ein Geschehen beschreibt, das sich über etliche Tage hinzieht anstatt nur ein paar Stunden, das nicht eine einzelne Schlacht umfasst, sondern vielmehr eine Abfolge von kleineren Gefechten?
Die Schlüsselstelle ist sicherlich
Muß sich ubi primum copia fuit auf einen konkreten Ort beziehen? Das würde natürlich eine Kausalkette initiieren, die das Vorstürmen der Reiterei, das Zurückweichen des Arminius, den Gegenangriff von dessen zweiter Schlachtreihe, die scheiternde Unterstützung durch die leichtbewaffneten Verbände, das drohende Zurückdrängen in den Sumpf und die Rettung durch Germanicus' Auftauchen in einen engen lokalen und zeitlichen Zusammenhang stellt.
Die Schlüsselstelle, aus der sich meiner Meinung nach primär ergibt, dass es sich um ein einziges Gefecht handelte, ist "evehi equites campumque, quem hostis insederat, eripi iubet": Der Feind hatte ein Feld bzw. eine Ebene besetzt, und Germanicus befahl der Reiterei die Säuberung. Es ist nicht davon die Rede, dass er die Reiterei ausschwärmen ließ, um die Germanen anzugreifen, wo immer sie ihrer habhaft wird, sondern es ist von EINEM Feld die Rede. Tacitus schreibt nicht, dass der Feind eine Gegend (z. B. "regio", allenfalls "ager") besetzt hielt, die Germanicus von der Reiterei säubern ließ, sondern er schreibt von einem campus, also einer eher überschaubaren Fläche.
Weiters schreibt Tacitus nicht, dass es der von Arminius vor sich hergetriebenen römischen Kavallerie nicht gelungen sei, sich mit den anderen Kontingenten zu treffen, sondern er schreibt von "missaeque subsidiariae cohortes", also Kohorten, die ausdrücklich "entsandt" wurden, offenbar zur Hilfe.
Was Zeitraffer/Zeitlupe betrifft: Wenn man, wie ich, davon ausgeht, dass kaum etwas vorgefallen ist, es insbesondere keine Schlacht gab, sondern nur ein kleines Scharmützel, ist die Schilderung ausführlich genug. Ich vermute, dass einerseits die Reiterei rasch umkehrte, als die Germanen aus dem Wald hervorbrachen, und sich in kein großes Gefecht einließ, andererseits die verfolgenden Germanen rasch umkehrten, als sie den Legionen zu nahe kamen, statt sich auf eine Schlacht einzulassen. Was hätte Tacitus daraus Großes machen sollen?
Stimmt, Arminius war es der sich in das Unwegsame begeben hat, um dann in dem Unwegsamen zu sein, und Germanicus hat ihn dabei verfolgt. Also kamen beide aus dem Wegsamen.
Anderenfalls müssten wir Tacitus ob der Beliebigkeit, mit der er die Fälle verwendet, unterstellen, dass bei ihm der Akkusativ den Dativ sein Tod wäre.
Also eigentlich lässt sich aus der Stelle nur herauslesen, dass Arminius von einer weniger unwegsamen Gegend in eine unwegsame zog. Tacitus schreibt aber nirgendwo, dass Germanicus dem Arminius davor schon auf den Fersen geklebt wäre, sich also in derselben Gegend befunden hat wie Arminius. (Das ist wohl Deine Annahme, weil Du davon ausgehst, dass sich Arminius davor unmittelbar beim Varus-Schlachtfeld aufhielt, wo bekanntlich Germanicus verweilte. Das ergibt sich aus dem Text allerdings nicht.) Germanicus kann durchaus aus einer auch schon unwegsamen Gegend Kurs auf die unwegsame Gegend genommen haben, in die sich Arminius aus einer wegsameren zurückzog.
Ravenik, dass es wiederum gar nicht zum Kampf gekommen wäre, überzeugt mich auch nicht, fassen die Römer nicht wieder Vertrauen zum Kampf, könnte es nicht sein, dass die zuerst fliehende Reiterei umschwenkte, und wieder die germanische attackierte,
und diese dann nach kurzem Gefecht aufgab, und wendete?
Davon steht bei Tacitus nichts und passt nicht zu seiner Schilderung, wonach die Germanen die Römer offenbar so lange verfolgten, bis die Legionen auftauchten.
Mich irritiert das zweimalige Auftauchen des Wortes Schlacht (Schlachtreihe bei den Germanen, Schlachtordnung bei den Römern), das auf Infanterietruppenkörper in Gefechtsstellung hinweist, die von beiden Seiten dann nicht in den "unentschiedenen Kampf" eingegriffen hätten?
Wo steht das? Ich lese nur von einer "nova acie".
Gerade wenn es sich bei den Germanen, wie von Dir vermutet, primär um Reiter oder Plänkler handelte, ist klar, wieso die aufmarschierenden Legionen nicht in den "unentschiedenen Kampf" eingreifen konnten: Wenn die Germanen vor den Legionen flohen, waren die schweren Legionäre unmöglich in der Lage, fliehende Reiter und Plänkler einzuholen und zum Kampf zu zwingen.
Wenn die römische Gesamtmacht eine Chance hatte, das Arminiusbündnis zu stellen, dann doch dort, man lässt die acht Legionen nicht zur Schlacht aufstellen, um dann den Reitern zuzuschauen und Wetten auf sie abzuschließen.
Da Arminius einen Teil seiner Truppen im Wald versteckt hatte, konnte Germanicus nicht wissen, dass er den ganzen Feind vor sich hatte. Er sah offenbar nur die Germanen auf dem Feld. Gerade wenn es sich bei ihnen, wie von Dir vermutet, um Reiter oder Plänkler handelte, wäre es sinnlos gewesen, die Legionen gegen sie zu schicken. Germanicus sah offenbar eine überschaubare feindliche Truppe und hielt die Reiter für geeignet und ausreichend, um gegen sie vorzugehen.