Revolutionierte Kanada 1917 die Kriegführung?

Alfirin

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Auf einer anderen (englischsprachigen) Website mit Schwerpunkt Geschichte, die auf scienceblogs.de wärmstens empfohlen wird, stieß ich beim Querlesen der Kommentare auf eine These, die mir völlig neu war (was gut daran liegen könnte, daß ich mich mit dem 1. Weltkrieg nur mäßig beschäftigt habe). In zwei Beiträgen dort (#1 und #2) entwirft der Kommentator ein Bild, wonach die Canadian Expedition Force, später das Canadian Corps, sich im Verlauf des Krieges zu einer Elitetruppe entwickelte, die ab Ende 1916/ Anfang 1917 durch grundlegende taktische Neuerungen an der Westfront einige womöglich kriegsentscheidende Operationserfolge erzielen konnte, angeblich zumindest aber die schlagkräftigsten deutschen Einheiten band ("they became so feared by the Germans, as being the main threat to break the Western Front, that the Germans began to move their best formations in lockstep with the Canadians, wherever the Canadians moved, the Germans moved their crack troops to block them"). Im Kern geht es darum, die Kanadier hätten durch sorgfältige Planung, Schlachtfeldauflärung, vorbereitendes Training selbst kleinster Einheiten, ein geändertes Rollenverständnis bis hinunter zu den Mannschaftsdienstgraden und effektives Verzahnen verschiedener Einheiten und Waffengattungen im Prinzip die Kriegführung revolutioniert ("they did it the way we do it now, and when I say 'we', I mean everybody in NATO including the Americans"). Ist da was dran? Oder wird hier der kanadische Beitrag zur Entente im Speziellen und zu taktischen Fragen im Allgemeinen schlicht über-glorifiziert?
So ganz isoliert stehen diese beiden Beiträge in jenem Forum ja nicht. In der englischsprachigen Wikipedia etwa gibt es eine ganze Reihe von Artikeln mit ähnlichem Tenor, von denen der eine oder andere sicherlich über's Ziel hinaus schießt, z.B. wenn unter dem Schlagwort Canada's Hundred Days der Eindruck erweckt wird, die vier Divisionen des Canadian Corps hätten es während der Hunderttageoffensive im Spätsommer/ Herbst 1918 ganz allein mit zwölfmal sovielen deutschen Divisionen aufgenommen.
Geradezu zum nationalen Mythos verklärt wird offenbar die Battle of Vimy Ridge im April 1917, die der deutschsprachigen Wikipedia wenig mehr als eine Randnotz wert ist, jedenfalls was die kanadische Beteiligung betrifft. Ähnlich ist es bei der Second Battle of Passchendaele in der Endphase der dritten Flandernschlacht 1917, die die deutsche Wiki ebenfalls nur kurz abhandelt, immerhin aber mit dem Satz garniert: "Die Kanadier hatten einen besonders guten Ruf auf alliierter Seite". Nur auf allierter Seite? Oder wird hier die Rolle des Canadian Corpse fahrlässig kleingeredet, womöglich weil deutschsprachige Bearbeiter die "kanadische Revolution" bisher einfach übersehen haben? Wenn das Canadian Corpse tatsächlich so gefürchtet war, daß auf dessen Manöver stets mit massiven Truppenverschiebungen reagiert wurde, wie oben behauptet, sollte sich das ja in der einen oder anderen deutschen Quelle widerspiegeln.
 
ich kann nur ein Zitat eines englischen Lords erwähnen, der gesagt haben soll:

"wo immer die deutschen feststellen das ihre Gegner Kanadier sind, bereiten sie sich auf das schlimmste vor."

die "wertschätzung" scheint also beidseitig vorhanden gewesen zu sein.
der name des lords ist mir entfallen, gehört hab ich davon aber im letzte woche erschienen special zu den canadian forces auf "der erste weltkrieg" - einem kanal auf youtube.
 
ich kann nur ein Zitat eines englischen Lords erwähnen, der gesagt haben soll:

"wo immer die deutschen feststellen das ihre Gegner Kanadier sind, bereiten sie sich auf das schlimmste vor."
Das Zitat wird dem britischen Premierminister David Lloyd George zugeschrieben, der nach der Schlacht an der Somme gesagt oder geschrieben haben soll:
The Canadians played a part of such distinction that thenceforward they were marked out as shock troops - whenever the Germans found the Canadian Corps coming into the line they prepared for the worst.
Zitiert nach dem derzeitigen britischen Premierminister David Cameron, ohne damit eine Wertung zur Quellentauglichkeit abgeben zu wollen - aber ich finde gerade wirklich nichts besseres :hmpf:
 
Schau dir mal den Artikel zu Sir Arthur Currie in der englischen Wikipedia an.... Liest sich sehr gut und gibt einen guten Eindruck darüber was die Kanadier im Gegensatz zu anderen Kriegsteilnehmer richtig gemacht haben.

Ich glaub es war auch ein Kanadier, der die Idee hatte die frühen Tanks nicht für den direkten Angriff zu nutzen, sondern um warme Mahlzeiten zu den angreifenden Infanteristen zu bringen.
 
Schau dir mal den Artikel zu Sir Arthur Currie in der englischen Wikipedia an.... Liest sich sehr gut und gibt einen guten Eindruck darüber was die Kanadier im Gegensatz zu anderen Kriegsteilnehmer richtig gemacht haben.
Möglicherweise. Möglicherweise ist aber auch dieser Wiki-Eintrag in wesentlichen Teilen einer bis heute wirksamen kanadischen "Filter Bubble" geschuldet, die mit der glorifizierenden Berichterstattung während des Krieges begann.
Nicht meine Epoche, wie gesagt, ich fang' mehr oder weniger bei Null an. Bisher am aufschlußreichsten war für mich Jeff Keshen, The Great War Soldier As Nation Builder, in: Canada and the Great War: Western Front Association Papers, 2003:
Canada's contribution of 600,000 men and its loss of 60,000 young lives out of a population of under ten million did generate national pride [...] and it helps to explain the rapid growth of Canadian autonomy following the war. However, it is also a link constructed upon glorified accounts of Canada's Great War soldiers - accounts first articulated by wartime propagandists. And, to this day, these accounts are still often couched in romantic imagery and high diction.
 
Ich halte es für etwas übertrieben.

Die Kanadier haben wohl gut ausgebildete und motivierte Truppen gestellt, zu einem Zeitpunkt an dem die anderen Teilnehmer anfingen alles zusammen zu kratzen was sie kriegen konnten und die Moral auch deutlich nachlies. Im Vergleich waren sie wohl besser als der durchschnittliche Britische oder Französische Soldat während des Krieges, zwangsverpflichtet, schlecht ernährt und übereilt an die Front geworfen, aber nicht besser als die Berufssoldaten der britischen Vorkriegsarmee bzw. die französischen Soldaten der Kolonialarmee.

Die Kanadier hatten auch das Glück einen guten Kommandeur zu haben der sie nicht sinnlos verheizte, wenn er es vermeiden konnte.

Große Durchbrüche haben jedoch auch sie nicht erzielt und ihre Verluste waren letztendlich auch sehr hoch. Dieses wurde in der Zwischenkriegszeit ein Thema, so dass im 2 WK Kanada nur noch Freiwillige nach Übersee schickte.

Bahnbrechende Taktiken wurden von den Kanadiern auch nicht erfunden. Eine effektivere Art die Infanterie einzusetzen war ab 1916 auch bei den Franzosen und etwas später bei den Deutschen in der Entwicklung. Die Briten haben sich unsinnigerweise dagegen gesperrt, weil man meinte dass die "minderwertigen" Soldaten der Kitchener-Armee, solche Taktiken nicht beherrschen könnten und im Angriff den Offizieren aus der Hand geraten würden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dass Kanada 1917 die Kriegsführung revolutionierte, scheint nicht die offizielle kanadische Sicht der Dinge zu sein.
Den Begriff Revolution habe in der Tat ich verbrochen. Evolution und Innovation liest man aber durchaus häufiger. Wenn ich auch nicht sicher sagen kann, was tatsächlich der offizielle kanadische Sprachgebrauch ist.

Ein paar Literaturtipps hab' ich jetzt Jody Perrun, Review of Hayes, Geoffrey; Iarocci, Andrew; Bechthold, Mike, eds., Vimy Ridge: A Canadian Reassessment. H-Canada, H-Net Reviews, 2007 entnommen (hier online). Der Begriff Innovation wird offenbar, mindestens inzwischen, relativ betrachtet:
The Vimy legend makes much of Canadian tactical innovations and a new approach to training in preparation for the attack. Currie recommended a number of changes in the methods of planning major operations after studying the lessons learned by the French at Verdun. But as Paul Dickson explains, "Currie did not make his observations in a vacuum" (p. 44), and many of the methods he suggested had already been implemented within British as well as Canadian divisions.
 
Nun ja, mein Großvater hat im ersten weltkrieg und u.a. an der Somme gekämpft
und aus seinen Erzählungen weiß ich,daß man vor den Kanadiern auf deutscher Seite gehörigen Respekt hatte
 
Weder die Briten, noch die Kanadier haben 1917 die Kriegführung revolutioniert. Immerhin aber haben sie aus den katastrophalen Fehlern des Vorjahres gelernt. Als nach 7 tägigem Artilleriebeschuss am 1. Juli 1916 an der Somme die Infanterie aus den Gräben stieg, wurden sie reihenweise von deutschen MGs niedergemäht. An einem einzigen Tag erlitten die Empiretruppen fast 60.000 Mann Verluste, darunter mehr als 19.000 Tote, von denen die meisten in den ersten beiden Stunden der Schlacht gefallen waren. Nach harten Kämpfen konnte im November das Plateau von Thiepval genommen werden. Bei Flers wurden im September 1916 die ersten Tanks eingesetzt, und es entwickelten vor allem britische Verbände das sogenannte "creeping barrage", bei dem konzentriertes Artilleriefeuer in einer bestimmten Zeit vorverlegt wurde, während Infanterieverbände unter dem Schutz der Feuerwalze vorrückten. Henry Rawlinson u. a. Kommandeure entwickelten unter dem Eindruck der Sommeschlacht die sogenannte "bite-and hold"-Taktik, die nicht mehr den Durchbruch, sondern das festsetzen und aufrollen der feindlichen Stellungen anstrebte. Nachdem die neue Kitchner- Armee von Wehrpflichtigen an der Somme manche Lektion lernen musste, manche Stadt in GB verlor durch Verluste der sogenannten Pal-Battaillione, in denen sich ganze Vereine, Nachbarn und Straßenzüge gemeinsam anwerben ließen- fast alle männlichen Bewohner an einem Nachmittag, war die britisch-alliierte Armee 1917 gut ausgebildet, motiviert und zuverlässig, während Frankreich erst im Oktober 1917 an der Laffauxecke und bei Verdun wieder eine Offensive führen konnte.

Aber auch die Deutschen lernten aus Fehlern. Es wurden die ersten Linien nicht mehr so stark besetzt und die Verteidigung mehr in die Tiefe gestaffelt, statt stur die erste Linie halten zu wollen oder sie unbedingt durch Gegenangriffe zurückzuerobern. Unterstände die sehr tief waren, ließ Ludendorff sprengen, was anfangs bei der Truppe auf Widerstand stieß, aber die Verteidigung letztlich effektiver machte. Dank ihres "Creeping barrage" gelang es oft den britisch/kanadischen Truppen, deutsche Gräben zu besetzen, bevor die Infanterie aus ihren Unterständen heraufgestiegen war. Mit einer Handgranatenladung konnte dann eine Grabenbesatzung erlkledigt werden.

Die britischen Offensiven 1917 im April im Artois, Juni/Juli in Flandern und Ende November 1917 bei Cambrai waren aber bestenfalls Teilerfolge. Trotz 6km Geländegewinn und einnahme der Vimyhöhen blieb die Offensive stecken, und das war auch der Fall als kanadische Truppen das zerstörte Passchendaele eroberten. Auch während der Tankschlacht bei Cambrai hatten die Glocken von St. Paul´s Cathedral zu früh den Sieg eingeläutet. Die Tanks hatten die Siegfriedlinie an einem ihrer stärksten Punkte durchbrochen, aber in einem Gegenmangriff eroberten die Deutschen fast das ganze Gelände Anfang Dezember 1917 zurück, und die Tanks wurden ohne nachrückende Infanterie relativ leicht mit Artillerie, Flammenwerfern und improvisierten Kampfmitteln zerstört, als sich die überraschten Deutschen von ihrem Schreck erholten.
 
Ich halte es für etwas übertrieben.

Die Kanadier haben wohl gut ausgebildete und motivierte Truppen gestellt, zu einem Zeitpunkt an dem die anderen Teilnehmer anfingen alles zusammen zu kratzen was sie kriegen konnten und die Moral auch deutlich nachlies. Im Vergleich waren sie wohl besser als der durchschnittliche Britische oder Französische Soldat während des Krieges, zwangsverpflichtet, schlecht ernährt und übereilt an die Front geworfen, aber nicht besser als die Berufssoldaten der britischen Vorkriegsarmee bzw. die französischen Soldaten der Kolonialarmee.

Die Kanadier hatten auch das Glück einen guten Kommandeur zu haben der sie nicht sinnlos verheizte, wenn er es vermeiden konnte.

Große Durchbrüche haben jedoch auch sie nicht erzielt und ihre Verluste waren letztendlich auch sehr hoch. Dieses wurde in der Zwischenkriegszeit ein Thema, so dass im 2 WK Kanada nur noch Freiwillige nach Übersee schickte.

Bahnbrechende Taktiken wurden von den Kanadiern auch nicht erfunden. Eine effektivere Art die Infanterie einzusetzen war ab 1916 auch bei den Franzosen und etwas später bei den Deutschen in der Entwicklung. Die Briten haben sich unsinnigerweise dagegen gesperrt, weil man meinte dass die "minderwertigen" Soldaten der Kitchener-Armee, solche Taktiken nicht beherrschen könnten und im Angriff den Offizieren aus der Hand geraten würden.


Es waren kanadische Truppen, die sich im April 1917 durch die Eroberung der Vimy Höhe bei Arras einnahmen und im November 1917 Paschendaele.

Der Erfolg nahe Arras war schon ein größerer Durchbruch, es war immerhin der größte Geländegewinn, den eine alliierte Einheit seit langem an der Westfront erzielen konnte. Haig war so sehr von einem deutschen Zusammenbruch überzeugt, dass er Kavallerie zur verfolgung mobilisierte. Nahe Monchy le Preux östlich Arras fand am 9.April 1917 eine der letzten großen Kavallerieattacken an der Westfront statt, die allerdings im Abwehrfeuer zusammenbrach.
 
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