Konflikt und Gewalt durch komplexere neolithische Gesellschaften?

Wir haben oben Beispiele gebracht, dass Nomaden (Tuareg) und Wildbeuter (Northwest-Indians) in der Neuzeit Sklaven hielten.

Bin ich auf Igno gestellt? "Wir" haben gar nichts.
Die Ethnien im Kulturareal Nordwesten sind keine Wildbeuter. Die Ernährungsgrundlage bildete Fischfang, bei einigen Ethnien kam noch Walfang dazu. Pflanzliche Beikost wurde dann in der Tat gesammelt und nicht aus Ackerbau geerntet, war aber so reichlich vorhanden, daß dafür keine unseßhafte Lebensweise notwendig war.

Dieser Artikel English Trade in Deerskins and Indian Slaves | New Georgia Encyclopedia beschäftigt sich mit dem Sklavenhandelzwischen Indianern und zwischen Indianern und europäischen Siedlern im Osten der USA/Kanada zwischen 1550 und 1700.

Auch ein Beispiel für Gesellschaften, die noch recht mobil waren.

Soweit ich den Artikel eben angelesen habe, befaßt er sich mit einem Teil des Sklavenhandels, den die Europäer an der Ostküste in Gang setzten (einem Teil deswegen, weil er - soweit gelesen - auf die Praxis der Europäer nicht eingeht, in eigener Kriegstätigkeit 'erbeutete' indigene Kriegsgefangene selbst in die Sklaverei zu verkaufen, was eine Form des Ethnic Cleansing darstellte).

Ethnic Cleansing war aber letztlich auch die Wirkung - und es wird auch angesprochen, daß es womöglich auch die Absicht war - des initiierten Handels. Der Artikel stellt ja heraus, daß Bezahlung europäischer Handelsware entweder in Fellen oder in Sklaven erwünscht war.

Zum weiteren wurde mit diesen Praktiken auch eine Variante des "Teile und Herrsche" bedient, da einige Ethnien (wie zb die im Artikel auch genannten Westo und Yamassee) von den Kolonisten gezielt eingesetzt wurden, um gegen ihnen feindlich eingestellte bzw von ihnen so wahrgenommene Ethnien vorzugehen sowie gegen Ethnien, die Ländereien besaßen, die man selbst haben wollte. Die betreffenden Ethnien konnten dies durchaus als privilegierten Status erleben, da sie natürlich bevorzugt mit Waffen und anderen Gütern beliefert wurden und die durch die Bewaffnung entstandene militärische Macht ihnen natürlich ebenfalls bei bzw gegenüber den benachbarten Ethnien eine stärkere Position verschaffte.

Auch die Tuscarora fanden sich in einer solchen Situation wieder: es gab englische Versuche, sie dazu zu bringen, Sklaven aus benachbarten Ethnien an die Engländer zu liefern. Das Schicksal der Westo und Yamassee - die letztlich selbst in Konfrontation zu den Engländern gerieten, woraufhin diese sich neue Bundesgenossen suchten und die Westo und danach auch die Yamassee durch Krieg und Versklavung nicht nur dezimierten, sondern beide Ethnien vernichteten -, entschieden sich die Tuscarora dazu, nach Norden auszuweichen; sie baten letztlich in der Konföderation der Irokesen um Aufnahme.

Abgesehen davon, daß das Thema Sklaverei bei indigenen Völkern in dem Artikel offenbar nur gestreift wird, eignen sich auch diese Ethnien (Kulturareale Nordosten und Südosten) nicht wirklich als Beispiele für Sklavenhaltung bei *Wildbeutern*, denn das waren diese nicht.
 
Als Ergänzung zu dem oben verlinkten und schwer verrissenen Artikel aus der Welt noch ein paar Links zum Thema sklavenhaltende Indianer im Westen im 19.Jahrhundert:

https://de.wikipedia.org/wiki/Sklav...ersklavung_von_Afroamerikanern_durch_Indianer

Rassismus: Enkel der Sklaven bei Indianern unerwünscht - DIE WELT

https://de.wikipedia.org/wiki/Cherokee#Status_der_Nachkommen_von_ehemaligen_Sklaven

Mit Sucheinstellung English und den Schlagworten Slavery Indians kommt man schnell auf noch mehr Links.

Mit dem Thema "Enkel bei Indianern unerwünscht" haben wir uns bereits an anderer Stelle befaßt. Sorry, aber die Welt bedient da eine bestimmte politische Grundeinstellung und sucht sich die vorgeblichen Rosinchen dafür bei US-Publikationen, die damit (sowie mit weiteren Themen) ein ganz eigenes Süppchen kochen möchten (Stichworte Wise Use, keine "Sonderrechte" für Indigene etc.).

Der nun verlinkte Welt-Artikel ist ebensowenig empfehlenswert, ebenso tendenziös und stellt nicht faktengetreu ab - im Gegenteil werden Fakten geschnitzt.

Da er auch noch unter dem Stichwort "Rassismus" eingestellt ist, wird doch recht gut deutlich, daß der Vorwurf des 'reverse racism' implizit hineinkommen soll - und wo der herkommt und seine politische Heimat hat, ist man schon recht weit nach rechts raus. Konservativ ist das nicht mehr zu benennen.


Ebenso dürftig sind die beiden verlinkten Abschnitte aus Wikipedia-Artikeln, die mit ordentlich Mut zur Lücke erstellt worden sein dürften.
Die Aufnahme der befreiten schwarzen Sklaven in die Cherokee Nation fand auf Befehl aus Washington statt, gegen den es bereits im 19. Jahrhundert einige Opposition bei den Cherokee gab. Dieser Umstand wird in beiden WP-Artikeln aber nicht erwähnt. Ebenso wie nicht erwähnt wird, daß es auch gegen die Abstimmung entsprechende Opposition gab, mit dem Argument "Two wrongs don't make one right".
 
Ein Fund von mehreren Skeletten am Turkana-See (Kenia) lässt auf eine gewalttätige Auseinandersetzung zwischen Gruppen von Jägern und Sammlern vor 10.000 Jahren schließen.

Kenia: Knochenfund*lässt auf Gemetzel vor 10.000 Jahren schließen - SPIEGEL ONLINE

http://www.nature.com/nature/journal/v529/n7586/full/nature16477.html
Darüber wird auch in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung berichtet (print, S. 37) , dort wir das "Massaker" vom Turkana-See cor ca. 10.000 Jahren auch im Kontext mit anderen Funden gestellt; nachlesbar Gemetzel am Turkana-See: Krieg in der Steinzeit - Wissen - Sddeutsche.de
22. Januar 2016, 18:56 Uhr Konfliktforschung Massaker im Paradies

In Kenia haben Archäologen die Spuren eines Gemetzels vor 10 000 Jahren entdeckt. Brach am Turkana-See der erste Krieg in der Geschichte der Menschheit aus?

 
Man muss wohl ohnehin sehr vorsichtig sein, aus gewissen kulturellen oder rechtlichen Strukturen bei nomadisch lebenden Menschen einer bestimmten Zeit und Region auf ähnlich lebende Gruppen, die aber einer ganz anderen Epoche und Weltgegend angehören, zu schließen.

Es dürfte sich aber feststellen lassen, ob zumindest die Möglichkeit von sklavereiähnlichen Zuständen auch bei nicht sesshaften Kulturen besteht.

Die Kontrolle könnte dabei eine weniger gewichtige Rolle gespielt haben als die Bedeutung von persönlichem oder gemeinschaftlichem Besitz. Wenn ich es richtig sehe, gehört zur Sklaverei im Unterschied zu anderen Formen assymetrischer Rechtsverhältnisse ein gewisses Eigentumsrecht an der versklavten Person, die häufig auch einen Verkauf einschließt.

Es wäre dann eben die Frage, ob man es als realistisch ansieht, dass rein nomadisch lebende Gruppen ohne jeden Kontakt zu sesshaften Völkern (wie ihn ja die Tuareg durchaus haben) ein Konzept von Eigentum an einer Person entwickeln. Auszuschließen ist es aber natürlich nicht.
 
Das Thema Sklaverei in Nordamerika vor der europäischen Kolonialzeit sollte abgetrennt werden.


Erstmal danke für den Cambridge-Link,.

Zum Abtrennen: die Sklaverei vor der Kolonialzeit wie bei den oben erwähnten Nordwest-Stämmen würde ich drin lassen. Ich finde, dass passt ganz gut zum Thema.

Das Thema schwarze Sklaven bei Indianern sollte eher raus. Hilft dem Thread nur wenig und ist emotional stark aufgeladen. Lohnt den Ärger wahrscheinlich nicht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Siehe oben, S. 246-247:

Kernproblem ist zunächst, wie Sklaverei überhaupt durch Merkmale ("wide range") zu fassen ist.
Weiterhin sollten Einzelfälle ("not all") von gesellschaftlich signifikantem Auftreten und einer Verbreitung als "Kulturbestandteil" abgegrenzt werden. Beides ungelöst, ist dies die Zusammenfassung:

"In conclusion, in indigenous North America in most domains of culture and society, within a pattern of broad regional similarities, there was a considerable range of variation. This was true of the fate of captives taken in intergroup conflicts who were the source of most of those in statuses of servitude within Native American societies. In many of these societies, captives were most often adopted into kin groups, and they and especially their children eventually became ordinary members of the community. But not all captives were adopted, and in many communities a few remained in poorly described and understood social-limbo statuses of servitude. In one region of indigenous North America, the Northwest Coast, captives were rarely adopted but usually became slaves in the full sense of the word. This was also true in a few other societies in the north Pacific coast region. Northwest Coast societies were typical small-scale nonstates in most ways and had a fishing, hunting, and gathering subsistence base, but they also had hereditary ranked strata much like classes, and full-blown slavery. From a world perspective, these societies and a few of their neighbors, such as the Tutchone, show that under appropriate conditions even very small- scale societies can develop statuses of bondage and exploit those held in servitude as fully as in the much larger-scale and better-known societies that have practiced slavery."

Siehe weiterhin:

Brooks, Captives and Cousins: Slavery, Kinship, and Community in the Southwest Borderlands
Donald, Aboriginal Slavery on the Northwest Coast of North America
Perdue, Slavery and the Evolution of Cherokee Society 1540–1866
Rushforth, “‘A Little Flesh We Offer You’: The Origins of Indian Slavery in New France,”
Trigger, The Children of Aataentsic: A History of the Huron People to 1660
White, The Middle Ground: Indians, Empires, and Republics in the Great Lakes Region, 1650–1815
 
Eine weitere aktuelle Publikation zum Thema, nun bezogen auf eine Fundlage in Kalifornien.

Eerkens et. al., Isotopic and Genetic Analyses of a Mass Grave in Central California: Implications for Precontact Hunter-Gatherer Warfare

AJPA Januar 2016,
Isotopic and genetic analyses of a mass grave in central California: Implications for precontact hunter-gatherer warfare - Eerkens - 2015 - American Journal of Physical Anthropology - Wiley Online Library

"A romanticized interpretation often depicts hunter- gatherers as peaceful peoples with, at most, very low rates of interpersonal violence when compared with more complex and state-level societies. Recent archaeo- logical and anthropological research has challenged these notions (e.g., Walker, 1989; Keeley, 1996; LeBlanc, 1999; Lambert, 2002; Arkush and Allen, 2006; Allen, 2012; Jones and Allen, 2014). These studies suggest that the level of organization in warfare was often lower among hunter-gatherers, but that per-capita rates of non-lethal violence and homicide were often just as high (but see Fry, 2007 and Fry and Söderberg, 2013 for an alternate perspective)."
 
Nun wird es sehr "frühzeitlich". Zu den Wurzeln des Verhaltens eine neue Studie:

OUR CLOSEST PRIMATE RELATIVES MAY HAVE EVOLVED “US VERSUS THEM” SOCIAL TRAITS AS A MEANS TO COPE WITH COMPETITION FROM RIVAL GROUPS OF MONKEYS LONG BEFORE THIS BEHAVIOUR FIRST OCCURRED IN HUMANS, NEW RESEARCH SUGGESTS.

?Us versus them? social traits may have evolved in monkeys before humans – HeritageDaily – Heritage & Archaeology News

Universität Lincoln:
Us versus them” social traits may have evolved in monkeys before humans:
"Us versus them" social traits may have evolved in monkeys before humans
 
Die Studie behauptet hier jedenfalls, erstmals einen link zwischen den steigenden Intensitäten der Bindung zur eigenen Gruppe und der Intensität des "Wettbewerbs" bzw. Animositäten/Aggressionen gegenüber Nicht-Gruppenangehörigen bei Primaten nachgewiesen zu haben.

Ich weiß nicht, ob da bereits frühere Erkenntnisse vorgelegen haben. Die Qualität bzw Plausibilität des behaupteten Nachweises werden sicher "peers" kontrovers diskutieren.

Spannend ist das allemal. Fraglich ist mE auch, ob etwa komplexe Hierarchien diese interne Bindung verstärken (iSv us versus them) oder ob das ein separater Faktor ist.
 
(Voranmerkung: habe jetzt den Thread nur quergelesen, sodass ich paar Dinge evtl. wiederhole)


Spannend ist das allemal. Fraglich ist mE auch, ob etwa komplexe Hierarchien diese interne Bindung verstärken (iSv us versus them) oder ob das ein separater Faktor ist.
Komplexe Hierarchien würde ich an und für sich ausschließen. Ein Faktor für Aggression scheint aber die starke Unterdrückung zu sein, was auch in einfacheren Hierarchien stattfinden kann.

Dazu ein Artikel aus der Welt von Anja Wagenblast, Aggression ist kein Urtrieb des Menschen. Da steht u.a., dass Bauer (nicht Jack :cool:) festgestellt habe, dass die Homizid-Rate größer sei, je mehr Ungleichverteilung herrscht. Daraus lässt sich o.w. folgern, dass Ähnliches auch zwischen Gruppen stattfinden kann. Wahrscheinlich kann also auch eine kollektive Aggression durch Ungleichheit zwischen Gruppen entstehen.

Für mich vorstellbar wäre auch die Ersatzaggression von unterdrückten sozialen Schichten, die in der eigenen Gruppe zwar nicht vorzudreschen trauen, aber nach draußen. Besitzt eine Gesellschaft viele unzufriedene Mitglieder, kann dies für den Nachbarn gefährlich werden.

Für die Entstehung, bzw. für das Eskalieren von Aggression würde ich aber auch andere Faktoren nicht ausschließen: z.B. inwieweit Nahrung, Vitaminmangel die Aggressionsbereitschaft beeinflusst. Aber auch Rituale, bei denen regelmäßig Halluzinogene im Spiel sind, könnten eine Rolle spielen, indem sie Ängste steigern, sodass die Reaktion darauf eher stattfindet.


Die Studie behauptet hier jedenfalls, erstmals einen link zwischen den steigenden Intensitäten der Bindung zur eigenen Gruppe und der Intensität des "Wettbewerbs" bzw. Animositäten/Aggressionen gegenüber Nicht-Gruppenangehörigen bei Primaten nachgewiesen zu haben.
Wäre einerseits nachvollziehbar, aber andererseits auch widersprüchlich. Nachvollziehbar, da man durch Bindung die Gemeinschaft mehr verteidigt. Ansonsten aber fördert die intensivere Bindung das Glücksgefühl, was Aggressionen mindert. Da käme es zusätzlich auf den inneren Druck der Gruppe an, wie stark man zum Konkurrenzkampf genötigt wird. Ein Mitglied, der um seine Stellung innerhalb der Gruppe fürchten muss, wird den Konkurrenzkampf schneller austragen wollen. Dafür würde ich auch hier weniger die Komplexität der Hierarchie verantwortlich machen, sondern ihre Labilität.


Nachtrag:
Da komplexe Systeme labiler sind, wird in einer komplexen Hierarchie die Wahrscheinlichkeit von Aggression vmtl. steigen. Ist aber nicht der eigentliche, d.h. kein zwingender Grund für die Aggression, da auch einfache Hierarchien labil sein können.
 
Zuletzt bearbeitet:
Da steht u.a., dass Bauer (nicht Jack :cool:) festgestellt habe, dass die Homizid-Rate größer sei, je mehr Ungleichverteilung herrscht.

Das kann schon eine Rolle spielen, ist aber sicher nur ein Faktor neben vielen.
Und für die Gesellschaften, mit denen wir in der Frühzeit des Menschen rechnen müssen, vielleicht sogar ein zu vernachlässigender Faktor.

Die Ungleichverteilung in modernen industrialisierten Gesellschaften ist ja astronomisch im Vergleich zu nichtstaatlichen Gesellschaften.

Dafür sind dort die Homizid-Raten unglaublich hoch.

Die Kriminologin Amy Nivette von der Universität Cambridge kommt zu einem eindeutigen Schluss. Sie wertete kürzlich Studien zur Häufigkeit von Gewalt unter nicht-staatlichen Gesellschaften aus (British Journal of Criminology, Bd. 51, S. 578, 2011). Selbst die friedlichsten der untersuchten indigenen Völker weisen demnach "vergleichsweise hohe Gewaltraten auf".
Das gleiche Bild zeichnet der Ethnologe Jürg Helbling von der Universität Luzern, Autor des Buches "Tribale Kriege. Konflikte in Gesellschaften ohne Zentralgewalt." Im Schnitt sterbe in nicht-staatlichen Gesellschaften ein Viertel der Bevölkerung durch Gewalt, unter Männern betrage die Mortalitätsrate sogar ein Drittel.
Für einzelne Ethnien liegen die Sterberaten durch gewalttätige Konflikte teils dramatisch hoch, zum Beispiel bei den Waorani (auch Huaorani), die in den Regenwäldern im Osten Ecuadors leben. Die Zeit zwischen 1860 und 1960 klingt wie ein 100-jähriges Gemetzel.
Die Mortalitätsrate in den Kriegen, die Waorani-Gemeinschaften gegeneinander führten, lag bei 44 Prozent - fast die Hälfte aller Menschen verlor in den Auseinandersetzungen ihr Leben. Unter den Männern fanden 53,6 Prozent einen gewaltsamen Tod. Die Waorani führten außerdem Kriege gegen andere Ethnien, die zusätzliche Opfer forderten. "Die haben sich gegenseitig fast ausgerottet", sagt Jürg Helbling, "die musste man in den 1950er-Jahren von außen pazifizieren."
Die Waorani sind ein extremes Beispiel. Doch auch in anderen Völkern ist ein gewaltsamer Tod ein häufiges Ereignis. Unter den Yanomami in Amazonien erreicht die kriegsbedingte Mortalität Raten bis zu 20,9 Prozent der Bevölkerung; bei den Abelam in Neuguinea liegt die Rate bei 30 Prozent. Zum Vergleich: Während des Ersten Weltkrieges lag die kriegsbedingte Mortalität bezogen auf die Gesamtbevölkerung in Frankreich und Deutschland bei etwa drei Prozent.
Trotzdem hält sich auch unter Ethnologen das Gerücht vom friedliebenden Wilden. Immer wieder wird ein Aufsatz des Anthropologen David Fabbro zitiert, der 1978 ein Bild egalitärer, freiheitlicher Gemeinschaften zeichnete, in denen die Menschen ohne Krankheit, Leid und Gewalt miteinander auskamen.
Die Daten sprechen dagegen, doch sind diese Forschungsergebnisse im Einzelnen immer angreifbar, wie Kriminologin Nivette betont. "Beobachtungen von Ethnologen sind meist auf wenige Dörfer beschränkt und zeitlich limitiert", sagt auch Helbling. Dies verzerre die Daten für einzelnen Ethnien. Das Gesamtbild, wonach Gewalt in nicht-staatlichen Gruppen häufig ist, sei aber unstrittig.
Menschliche Gewalt - Hauen und Stechen unter Jgern und Sammlern - Wissen - Sddeutsche.de


Für die Entstehung, bzw. für das Eskalieren von Aggression würde ich aber auch andere Faktoren nicht ausschließen:
Die würde ich nicht nur "nicht ausschließen"...
 
...
Nachtrag:
Da komplexe Systeme labiler sind, wird in einer komplexen Hierarchie die Wahrscheinlichkeit von Aggression vmtl. steigen. Ist aber nicht der eigentliche, d.h. kein zwingender Grund für die Aggression, da auch einfache Hierarchien labil sein können.

Ich glaube nicht, dass komplexe Systeme per se labiler sind, außer, die Interaktion zwischen den einzelnen Komponenten ist so ausgeprägt dass eins vom anderen abhängig ist wie in einem Uhrwerk. Das ist aber kein zwingendes Merkmal von Komplexität, wohl eher eine Artefakten vorbehaltene Ausnahme.
Ein Ökosystem mit hoher Diversität steckt Umweltveränderungen besser weg als eines mit niedriger, einfach deshalb, weil immer eine "Reserve" da ist welche mit den geänderten Bedingungen noch klar kommt, so dass der Rest der Nahrungskette weiter funktioniert.
Aus der menschlichen Kultur fällt mir da ein Bericht ein, den ich über ein Land in Südostasien gelesen habe (Thailand? Kambodscha ? Vergessen).
Da war aufgrund von Umwälzungen temporär die staatliche Ordnung zusammen gebrochen, rien ne va plus.
Da übernahmen die Priester dann einfach Verwaltungsaufgaben, standen sogar auf den Kreuzungen und regelten den Verkehr. Es gab eben einen Konsens, dass diese gesellschaftliche Gruppe in aller Interesse respektiert wird und der führte dazu, dass der Staat halbwegs weiter funktionierte. Da hat also ein eigentlich komplexitätssteigerndes Element der Gesellschaft für Stabilität gesorgt.
Ähnlich ist es, wenn drei Nachrichtendienste mit eigenen Budgets etc existieren. Kompliziert, sorgt aber dafür dass kein einzelner Geheimdienstchef auf dumme Ideen kommt.
 
Dafür sind dort [= in nichtstaatlichen Gesellschaften] die Homizid-Raten unglaublich hoch.
Wie auch von Steven Pinker (S. 83 ff.) vorgetragen, der hier im GF noch gar nicht diskutiert wurde. [1]

... andere Faktoren...
"In den meisten Studien ist jedoch Rache das am häufigsten genannte Motiv" (Pinker S. 89).

Eine weitere Hypothese betrifft die Zusammensetzung einer Gruppe. Platt ausgedrückt: je höher der Anteil junger (beschäftigungsloser, zorniger) Männer, desto stärker die Neigung zur Aggressivität gegen andere Gruppen/Individuen. – Liegt da ein Körnchen Wahrheit drin?

Die Studie behauptet hier jedenfalls, erstmals einen link zwischen den steigenden Intensitäten der Bindung zur eigenen Gruppe und der Intensität des "Wettbewerbs" bzw. Animositäten/Aggressionen gegenüber Nicht-Gruppenangehörigen bei Primaten nachgewiesen zu haben.
Ja, spannend. Wobei die Primaten wiederum unterschiedliche soziale Strukturen ausbilden. Typisch für Schimpansen (wie im Film?) sind Gruppen, die aus mehreren männliche und weiblichen Mitgliedern bestehen. [2] Vor allem die Männchen sind allzeit bereit, mit Gewalt gegen reale oder vermeintliche Bedrohungen des Territoriums vorzugehen. "Intraspecific violence is one of the leading causes of mortality for eastern chimpanzees." (S. 1613)


[1] Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt 2011
[2] Angela Meder: Great Ape Social Systems. In: Henke and Tattersall (eds.), Handbook of Paleoanthropology, Berlin 2015, S. 1593-1629.
 
...
Eine weitere Hypothese betrifft die Zusammensetzung einer Gruppe. Platt ausgedrückt: je höher der Anteil junger (beschäftigungsloser, zorniger) Männer, desto stärker die Neigung zur Aggressivität gegen andere Gruppen/Individuen. – Liegt da ein Körnchen Wahrheit drin?...

Das ist eigentlich längst bekannt und ergibt sich aus den Rollen bzw Funktionen der Gruppenmitglieder. Ein Mitglied mit geringer Chance auf Paarungserfolg ist tendenziell aggressiver. Bei Primaten haben Weibchen meist gute Chancen auf Paarungserfolg und sind deshalb wählerisch. Außerdem ist jedes Weibchen wichtig für die Reproduktion der Gruppe. Männchen sind austauschbar und entbehrlich, eines reicht ggf für eine ganze Gruppe.
Bei Pavianen können die männlichen Tiere ihre Chancen bei einem Weibchen erhöhen wenn sie dessen Kinder beschützen. Also ein ganz anderes Verhalten als das eines Alphatieres mit Fortpflanzungsmonopol, welches die Kinder anderer Väter zu töten geneigt ist (Löwen).
Und egal ob man Flusspferde, Büffel oder Menschen vor der Disco betrachtet, aggressiv und risikofreudig sind die Gammamännchen. Das hat eine Funktion, es dient dem Schutz der Gruppe. Selbst wenn ein Büffel bei einem selbstmörderischen Angriff von Löwen getötet wird schützt er damit noch die anderen Mitglieder der Herde.
Und bei Menschen sind es ja auch nicht gerade die privilegiertesten Stände, welche ihre jungen Männer zu Kanonenfutter machen. Das ist in der Funktion dasselbe. Man setzt die im Hinblick auf die Fortpflanzung entbehrlichsten den höchsten Risiken aus. Das folgt keiner Überlegung, es ist einfach ein Muster das sich in einigen Gattungen durchgesetzt hat, bedingt durch das Fortpflanzungs- und Sozialverhalten, Reproduktionsraten und zahlenmäßige Geschlechterverteilung. Die biologische Evolution hat das ganze über den Hormonhaushalt (Testosteronregulierung) zementieren geholfen. Komplizierte Regelkreise in allen Disziplinen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das ist eigentlich längst bekannt...
Umso besser, dann kannst Du sicher mit einigen Quellen- und Literaturhinweisen in Bezug auf komplexere neolithische Gesellschaften aufwarten – die Sache mit der Disco können wir ja später noch beackern. :winke:

Man setzt die im Hinblick auf die Fortpflanzung entbehrlichsten den höchsten Risiken aus. Das folgt keiner Überlegung, es ist einfach ein Muster das sich in einigen Gattungen durchgesetzt hat...
Hm. Magst Du das an einigen, möglichst frühen, historischen Beispielen festmachen?
 
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