thanepower
Aktives Mitglied
Die These des interessanten Links Hitlers Redetalent hätte „nur geringen Einfluss“ gehabt, ist nicht aus sich selbst heraus schlüssig, da ja andere Erklärungsmodelle für die fehlende Korrelation von Auftritt und Erfolg möglich sind.
Ich unterstelle, dass Du mit der Aggregatdatenanalyse vertraut bist. Am häufigsten wird sie z.B. in diesem Forum im Kontext der Wahlentscheidungen in der Weimarer Republik (vgl. Falter: Hitler`s Wähler und entsprechende Folgepublikationen von ihm) zitiert. Inklusive der Hinweise zur Begrenztheit der Aussagen über individuelle oder gruppenbasierte Entscheidungen im Kontext des "ökologischen Fehlschlusses".
Selb und Munzert haben die These operationalisiert, dass Hitler als Wahlkämpfer einen meßbaren Einfluss haben muss, sofern die in der NS-Forschung geäußerte Vermutung, dass Hitler ein außergewöhnlich guter Wahlkämpfer sei. Und als Grund dafür wurde sein Charisma und /oder seine außergewöhnlich Rhetorik angeführt.
Dazu wurden die Auftritte den entsprechenden statistischen Einheiten zugeordnet. Für diese statistischen Einheiten kann man eine Reihe von strukturellen Merkmalen hinzufügen, um statistisch vergleichbare - homogene - Einheiten zu erhalten und so die kontrollierbaren Merkmale in der statistischen Analyse zu kontrollieren.
Es ergibt sich somit eine "Experimentalgruppe", in der Hitler Auftritte hatte und eine Kontrollgruppe, in der keine Auftritte erfolgten. Damit die These als stichhaltig angesehen werden kann, müßte in den homogenisierten statistischen Einheiten in der Experimentalgruppe ein deutlicher Anstieg der Wahlentscheidung für die NSDAP bzw. Hitler zu verzeichnen sein.
Eine Überlegung, die aus der Wahlsoziologie entlehnt ist, die die Wahlentscheidung zerlegt in die "Parteibindung", die "Zuschreibung von Problemlösungskompetenz bei einzelnen Themen" ("Issues") und die "Kandidatenorientierung".
Die richtige, angemessene statistische Methode ist dazu die "Differenz von Differenzen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Differenz_von_Differenzen
Für mich sieht die Studie, ohne das ich den Datensatz, inklusive der Variablen etc., kenne, methodisch einwandfrei aus. Falters Datensatz war im Prinzip nicht wesentlich anders aufgebaut wie der von Selb und Munzert.
Die Ergebnisse der Analyse bestätigen lediglich mit einer Ausnahme die Hypothese. Und deshalb erscheinen mir ihre Aussagen und ihre Schlussfolgerungen nicht fragwürdig, sondern korrekt.
Und auch die Schlussfolgerung ist bemerkenswert: "Auf der Grundlage dieses historischen Belegs empfehlen die Wissenschaftler, auch die herkömmliche Meinung, dass charismatische Führungsfiguren einen entscheidenden Erfolgsfaktor für den Aufstieg für zum Beispiel rechtspopulistische Bewegungen darstellen, mit Skepsis zu betrachten."
Ein Ergebnis, das sich mit dem Befund von Brown deckt.
Und das führt zum zweiten Punkt:
Erklärmodelle hin oder her: Den politischen Erfolg dieses Hampelmanns in der ausgehenden WR habe ich nie verstanden.
Ich persönlich finde es nicht angemessen, Hitler als "Hampelmann" zu bezeichnen. Und ich finde es auch nicht nachvollziehbar, en passant die "Erklärmodelle" [welche eigentlich?] zu relativiert und ihnen keine plausible Erklärungskraft aus der subjektiven Perspektive mehr zuzuschreiben [mit welcher Begründung?].
Demgegenüber: Eine Erklärung der Wirkmächtigkeit von Hitler auf die Massen wird kaum ohne die Interaktion traumatisierender historischer Ereignisse und individueller und kollektiver psychischer Reaktionen auskommen. Und mann muss auch die Begrenztheit und den zeitlichen Zusammenhang dieser Wirkmächtigkeit genauso deutlich sehen, um auch die Grenzen vor 1928 zu erkennen.
Und man übersieht dabei auch schnell, dass er vor der Weltwirtschaftskrise zwar ein politischer Faktor war, aber ohne die Krise und ohne die Determinierung um Hindenburg, eine Diktatur wieder einzuführen, nie Kanzler geschweige denn "der Führer" geworden wäre. Für eine normale parlamentarische Arbeit, wie als Oppositionsführer im Bundestag, fehlte ihm fast jede Voraussetzung.
Auf den historischen Hintergrund muss nicht eingegangen. Aber es ist kein Zufall, dass die zunehmende Individualisierung in der industriellen Gesellschaft der Moderne durch Leute wie Kracauer (Ornament der Masse oder "Die Angestellten") in den 20er Jahren beschrieben wird. Parallel schreibt Ortega y Gasset sein "Aufstand der Massen" und Le Bon die "Psychologie der Massen". Und das Thema wird in der Folge durch Riesman "Die einsame Masse" und durch die Arbeiten von Arendt zur Grundlegung des Faschismus durch Vereinzelung weiter geführt.
Im Zentrum steht dabei vor allem die "Mittelschicht" in allen ihren sozialen internen Differenzierungen. Bei Kettenacker wird diese Gruppe zum "kleinen Mann", der voller Angst vor der Zukunft, auf eine bessere Zukunft hofft. Sehr ähnlich kann man Reichs Aussagen über die Ängste des Mittelstands lesen und seiner Reaktion.
Eine Reaktion, die im wesentlichen auf die Projektion der Wünsche und Hoffnungen auf eine messianische Führungsperson hinausläuft, die die - legitimen - Wünsche nach einem akzeptablen Leben erfüllen kann. Auf der individuellen Ebene, aber auch als Angehöriger eines Landes, das einen Krieg verloren hat. Und somit eine Form kollektiver Deprivation erlebt hat .Dabei ist es nur Wichtig, dieses "Erlösungspotential" auf die bessere Zukunft glaubwürdig zu kommunizieren und es ist zunächst relativ egal, ob man es auch einlösen kann.
Und an diesem Punkt baut sich Hitler konsequent seit 1920 als einziger "Führer" auf und vertritt diese "Einzigartigkeit" - erstaunlicherweise - von Anfang an als "Alleinstellungsmerkmal". Ein unter Polit-Marketinggesichtspunkten richtiger Schritt, da er damit eine Positionierung einnehmen kann, die die Glaubwürdigkeit seiner Problemlösungen für die "Massen" unterstreicht.
Natürlich stark durch seine Umgebung bzw. seine politischen Netzwerke in dieser Idee verstärkt, wie bereits sehr früh in München durch seinen Mentor "Dietrich Eckert", der Hitler trotz seines jugendlichen Alters bewundert hatte (vgl. z.B. Tyson: Hitler`s Mentor). Den Rest des Aufstiegs in München bzw. begrenzt auch in Bayern zunächst bis zum "Bierhallen-Putsch mag man als "Lernprozess" bzw. als "Konditionierung" angesichts des zunehmenden Erfolgs interpretieren.
Die komplexe Entfaltung von Hitler als "Der Führer" inklusive dem "Mythos" als "Messias" und den damit zusammenhängenden religiösen Heilsversprechungen für das "deutsche Volk" ist dann aber eher das Ergebnis der Phase nach 1933 und einer komplett gleichgeschalteten "Öffentlichkeit" und der repressiven Unterdrückung der Opposition (vgl. Herbst und Kershaw)
Brown, Archie (2014): The myth of the strong leader. Political leadership in the modern age. London: Bodley Head.
Herbst, Ludolf (2011): Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias. Frankfurt, M.: Fischer Taschenbuch Verlag
Kershaw, Ian (2018): Der Hitler-Mythos. Führerkult und Volksmeinung. Erste Auflage. München: Pantheon.
Kettenacker, Lothar (1983): Sozialpsychologische Aspekte der Führerherrschaft. In: Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen (Hg.): Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945. Eine Bilanz. Düsseldorf: Droste (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte, 21), S. 97–131.
Reich, Wilhelm (2011): Die Massenpsychologie des Faschismus. Köln: Kiepenheuer & Witsch
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