Auswirkungen der 68er Bewegung

Teil 3:
Die personelle Kontinuität aus der 68er-Revolte schlug sich in den siebziger Jahren zunächst in der unterschiedlichen Organisationsformen der Neuen sozialen Bewegung nieder. Stellt sich darüber hinaus die Frage, in welchem Umfang die Betonung bestimmter ideologischer Positionen als Wertorientierung einen Eingang in der Bevölkerung gefunden haben. Und es wäre auch zu klären, in welchem Umfang neue Formen der unkonventionellen politischen Partizipation ihren Weg in die politische Kultur der Bundesrepublik gefunden haben.

In einem Beitrag von 1977 konstatierten Hildebrandt und Dalton, dass in Abgrenzung zu der „alten Politik“, basierend auf den „alten politischen Konfliktlinien“ , eine „neue Politik“ zu erkennen sei, die neue Themen auf die politische Agenda gesetzt hat und nicht mehr durch die traditionellen politischen Parteien repräsentiert wird.

Im Prinzip folgen sie dabei der These von Inglehart, der eine „Silent Revolution“ (1977) propagiert hatte, die die Ausbildung von „post-materialistischen“ Werten thematisiert. Diese sind sogenannten „materialistischen“ Werten kontrastiert. Zu den postmaterialistischen Werten zählen u.a. Forderungen nach Mitbestimmung am Arbeitsplatz, eine weniger unpersönliche Gesellschaft, Ideen zählen mehr als Geld, mehr politische Mitbestimmung und freie Rede (Inglehart, 1979a, S. 287). Die materialistischen Werte beinhalten eher eine Priorisierung von Sicherheitsbedürfnissen und materiellen Wohlstand.

Für das Jahr 1998 berichtet Thome, dass vor allem in der jüngsten Altersgruppe (unter 35) mittlerweile ca 25 Prozent europaweit als „Postmaterialisten“ anzusprechen sind und somit die „Neue Politik“ eine sozialstrukturelle Verankerung gefunden hat (Thome, S. 403)

Die These von Hildebrandt und Dalton zur Relevanz der „Neuen Politik“ findet bereits in den Ergebnissen von Kaase und Klingemann eine gewisse Evidenz. Sie konstatieren, dass die „Neue Linke“ sich den postmaterialistischen Werten verpflichtet fühlt und deutlich gegen die „Alte Linke“ – also im engeren Sinne die Sozialdemokratie – positioniert ist, die sich eher den traditionellen materialistischen Werten verpflichtet fühlte.

Die unterschiedlichen Wertvorstellungen und die unterschiedlichen Milieus der alten und der neuen Linken haben sich mit der Gründung der „Grünen“ manifest niedergeschlagen und die Grünen sind durch die wertemässige Verankerung in den postmaterialistischen Milieus zu einer etablierten Größe geworden (vgl Häusler und noch deutlicher Stifel)

Das Mobilisierungsniveau bei zentralen Protesten bzw. Demonstrationen im Zuge der Nachrüstungsdebatte etc. hat im Vergleich zu den 68er Unruhen noch einmal sich verstärkt, so die Zahlen von Hutter und Teune (vgl. Link, bes. S. 9). Dieses ist aber auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Bereitschaft zur unkonventionellen politischen Partizipation stark mit der Betonung von postmaterialistischen Werten verbunden ist (vgl. die Beiträge in Barnes und Kaase und auch die Bände von Infratest).

Abschließend soll mit Frei (S. 233) ein Resümee gezogen werden: „….dass die gesellschaftliche Verbreitung und politische Durchsetzung insbesondere der sozialmoralischen Werte [meine Anm. vgl. Wertewandel] und Normen von „68“ in den zurückliegenden Jahrzehnten weit vorangekommen ist: nämlich bis tief in das diesem Wandel einstmals ablehnend gegenüberstehende bürgerliche Milieu hinein.“

https://www.bpb.de/apuz/138272/protest-und-beteiligung

Mittlerweile liegen umfangreiche neuere Studien vor, die im transnationalen Sinne die globalen Netzwerke von „68“ untersucht haben (vgl. z.B. Klimke und andere). Ein beachtlicher Publikationsschwerpunkt – z.B. Fahlenbach: Protest Cultures - liegt dabei im Berghahn-Verlag vor. Ähnlich sind viele neuere Untersuchungen vorhanden, die die Mobilisierungsbedingungen von sozialen Bewegungen thematisieren (vgl. z.B. Porta: The Oxford Handbook of Social Movement).

Literatur: Wertewandel, Politischer Protest, politische Kultur die Grünen:
Barnes, Samuel Henry; Kaase, Max (Hg.) (1979): Political action. Mass participation in five western democracies. Beverly Hills, London: Sage Publications.
Frei, Norbert (2017): 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag
Häusler, Alexander (2018): Bündnis 90 / Die Grünen (Grüne). In: Frank Decker und Viola Neu (Hg.): Handbuch der deutschen Parteien. Wiesbaden: Springer VS, S. 203–225.
Hildebrandt, Kai; Dalton, Russel J. (1977): Die neue Politik. In: Max Kaase (Hg.): Wahlsoziologie heute. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 1976. Politische Vierteljahresschrift 18 (2/3). Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 230–256.
Hutter, Sven; Teune, Simon (2012): Politik auf der Straße. Deutschlands Protestprofil im Wandel. In: APuZ: Aus Politik und Zeitgeschichte 62 (25-26), S. 9–17.
Infratest Wirtschaftsforschung GmbH (1978): Politischer Protest in der Sozialwissenschaftlichen Literatur. Stuttgart: Kohlhammer.
Infratest Wirtschaftsforschung GmbH (1980): Politischer Protest in der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zur sozialempirischen Untersuchung des Extremismus. 2 Bände. Stuttgart: Kohlhammer.
Inglehart, Ronald (1977): The silent revolution. Changing values and political styles among Western publics. Princeton, New Jersey: Princeton University Press.
Inglehart, Ronald (1979a): Wertwandel in den westlichen Gesellschaften: Politische Konsequenzen von materialistischen und postmaterialistischen Prioritäten. In: Helmut Klages und Peter Kmieciak (Hg.): Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel. 3. Aufl. Frankfurt am Main, New York: Campus, S. 279–316.
Inglehart, Ronald (1979b): Wertwandel und politisches Verhalten. In: Joachim Matthes (Hg.): Sozialer Wandel in Westeuropa. Verhandlungen des 19. Deutschen Soziologentages Berlin 1979. Frankfurt: Campus, S. 505–533.
Kaase, Max (1979): Legitimationskrise in weslichen demokratischen Industriegesellschaften: Mythos oder Realität? In: Helmut Klages und Peter Kmieciak (Hg.): Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel. 3. Aufl. Frankfurt am Main, New York: Campus, S. 328–350.
Kaase, Max; Klingemann, Hans Dieter (1979): Sozialstruktur, Wertorientierung und Parteiensystem: Zur Problem der Interessenvermittlung in westlichen Demokratien. In: Joachim Matthes (Hg.): Sozialer Wandel in Westeuropa. Verhandlungen des 19. Deutschen Soziologentages Berlin 1979. Frankfurt: Campus.
Stifel, Andreas (2018): Vom erfolgreichen Scheitern einer Bewegung. Bündnis 90/Die Grünen als politische Partei und soziokulturelles Phänomen. Wiesbaden: Springer VS.
Thome, Helmut (2005): Wertewandel in Europa. In: Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hg.): Die kulturellen Werte Europas]. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl.
 
Am Beispiel Familie dürfte aber jeder Geschichtsbewusste erkennen, dass man die kleinste Keimzelle der Gesellschaft, bewährt seit zigtausend Jahren in der Menschwerdung, mit der leicht schwachsinnigen Begründung der Förderung faschistoider Strukturen nicht einfach zerstören darf. Das genannte Kollektiv von Halbkranken ist nicht aus der Luft gegriffen. Gender tut das Übrige.

Ja, in den letzten Jahren ist es sehr in geworden, den 68ern Schuld an der Auflösung der Familien zu geben. Aber die 68er waren nur ein Milieu. Selbst in der Generation der 68er waren die 68er nur ein Teil der Generation.
In Europa sind die 68er doch eigentlich nur in Frankreich und Westdeutschland von Bedeutung gewesen. Vielleicht noch in London, weil viele Poptrends damals, wenn nicht in Kalifornien, in London gesetzt wurden. Dennoch ist die Auflösung der Familien ein Problem, welches wir in vielen Teilen der "Ersten Welt" erleben, auch in solchen, wo die 68er nie Bedeutung hatten.

Yuval Noah Harari sieht vor allem zwei Dinge als ursächlich für den Verlust des Familienzusammenhalts an: Staat und Markt. Er sieht das durchaus neutral, bzw. besser ausgedrückt: Sieht daran sowohl positive als auch negative Dinge.

Vor der industriellen Revolution verlief der Alltag der meisten Menschen überwiegend in [...] der Kernfamilie [...] und der intimen Gemeinschaft. Die meisten arbeiten in Familienunternehmen, z.B. dem landwirtschaftlichen oder handwerklichen Betrieb der Familie. [...] Außerdem war die Familie soziales Netz, Gesundheitswesen, Versicherungsgesellschaft, Radio, Fernsehen, Zeitung, Bank und sogar Polizei in einem. Wenn jemand krank wurde, versorgte ihn die Familie, wenn jemand alt wurde, sprang die Familie ein und die Kinder waren die Rentenversicherung. Wenn jemand starb, kümmerten sich die Angehörigen um die Waisen. [...] Wenn jemand heiraten wollte, wählte die Familie den Partner [...]
Die Kernfamilie verschwand allerdings nicht völlig aus der modernen Landschaft. Als Staaten und Märkte der Familie ihre wirtschaftliche und politische Rolle weitgehend nahmen, ließen sie ihr einige wichtige emotionale Funktionen. Die moderne Familie soll nach wie vor die intimen Bedürfnisse befriedigen, die Staat und Markt (bislang) nicht abdecken können. Doch [...] der Markt greift immer mehr in die Gestaltung unseres Liebes und Sexuallebens ein. Während früher die Familie die wichtigste Partnervermittlung war, übernimmt diese Rolle heute der Markt, indem er erst unsere sexuellen Wünsche prägt und uns dann hilft, sie zu erfüllen [....] Früher lernten sich Braut und Bräutigam im elterlichen Wohnzimmer kennen, und das Geld wanderte von der Hand des einen Vaters in die des anderen. Heute spielen sich die Paarungsrituale im Café ab, und das Geld wandert von der Hand des hoffnungsfrohen Paars in die Schürze der Kellnerin. Auch der Staat nimmt die familiäre Beziehungen immer stärker unter die Lupe [...] Eltern müssen ihre Kinder auf eine Schule schicken [...] Eltern, die ihre Kinder körperlich oder psychisch misshandeln, können vom Staat gemaßregelt werden. Notfalls kann der Staat die Eltern sogar einsperren und die Kinder in eine Pflegefamilie geben. Früher wäre allein der Gedanke, dass der Staat die Eltern daran hindern sollte, ihre Kinder zu schlagen, vollkommmen absurd erschienen. Respekt und Gehorsam gegenüber den Eltern galten lange als oberste Tugenden. Die Eltern konnten tun und lassen, was sie wollten, sie konnten ihre Neugeborenen töten, ihre Kinder in die Skalverei verkaufen und ihre Töchter mit steinalten Männern verheiraten.
Man muss nicht alles, was Harari schreibt, für richtig halten, aber für ihn sind es eher die Stein-Hardenbergschen Reformen und das BGB sowie der moderne kapitalistische Markt, der Bedürfnisse erst schafft, die "Schuld" an Individualisierung (die eben tatsächlich ganz anders ist, als die Romantiker sich vorstellen) und Auflösung der Großfamilien haben, als irgendwelche Kulturrevolutionen, die eh nur einen Bruchteil der Menschen erreicht haben.
 
In Europa sind die 68er doch eigentlich nur in Frankreich und Westdeutschland von Bedeutung gewesen.

Italien war schon auch eine bemerkenswerte Bühne.
Frei (Norbert Frei -1968 und globaler Protest, S.164ff ), beschreibt die studentische "Protestwelle" Italiens mehr aus der "Fläche" kommend, "anders als in der Bundesrepublik, oder gar später in Frankreich".
Mithin eine besonders große Breite.

Und Italien ist auch deshalb ein interessanter Fall, weil hier erfolgreich mörderische Ausläufer der 68er entstanden.
Ebenso wie in der BRD und in Japan, mit der gemeinsamen Vorgeschichte des politischen Extremismus.

Was den Harari betrifft bitte ich Dich um Buch und Seite.
 
Was den Harari betrifft bitte ich Dich um Buch und Seite.
Das Buch ist Eine kurze Geschichte der Menschheit. Ich habe es vor einigen Wochen gelesen und erinnerte diese Stelle, als ich Opteryx' Beitrag las. Ich habe sie daher bei Google Books herausgezogen, wo leider keine Seitenzahlen angegeben sind. Und leider ist mitten in dem von dem mir zitierten Text eine dieser Vorschau-Lücken, denn ich bin mr sicher, dass das noch der ein oder andere Satz dazwischen gewesen ist, den ich gerne zitiert hätte.
 
Teil 1

Seit dem – nie stattgefundenen - „Untergang des Abendlandes“ üben sich konservative Moralisten in Deutschland, Veränderungen im Rahmen des sozialen Wandels als degenerative Verfallsprozesse der Gesellschaft und der – von konservativen dominierten – staatlichen Institutionen zu brandmarken. Es werden dabei – natürlich – die politischen Gegner als „Schurken“ erkannt, die in subversiver und hinterhältiger Absicht eine – angeblich - bestens funktionierende Gesellschaft und ihre Institutionen zu zerstören.

Ernst genommen werden diese politisch motivierten konservativen Cassandra-Rufe vor allem im rechten politischen Spektrum und es interessiert diese konservative Zielgruppe nicht im geringsten, dass die eigentlichen Faktoren der Veränderung im Rahmen der zweiten Moderne nicht erkannt und somit auch in keinen Ursache-Wirkungszusammenhang eingeordnet werden.

Deswegen der Versuch einer systematischen Darstellung zum sozialen Wandel, dem empirisch wahrnehmbaren Wertewandel seit den späten sechziger Jahren und der Rolle der 68er. Sinnvolle analytische Rahmen, die den globalen, transnationalen Protest (vgl. Link z.B. das „Port Huron Statement des US-SDS)in den Kontext des sozialen Wandels eingebunden haben, lagen bereits Mitte der siebziger Jahre vor (vgl. Klages)

Eine zutreffende Beschreibung nimmt Westad vor, der schreibt:“In most respects, the late 1960s was a beginning rather an endpoint. …..It therefore makes sense to use the term „long 1970“…The students who were the main leaders in the protests prefered idealism over Marxism and individualism over class-based politics (even if the professed otherweise). ….Likewise, many of the student leaders from 1968 prioritized „liberation“ and „consciousness-raising“ over party construction and social transformation….“ (Westad, S. XXI)

Vor diesem Hintergrund sind die „68er“ als abgegrenzte Generationslagerung bezeichnen(vgl. Mannheim), deren politische Sozialisation im wesentlichen in der Nachkriegsphase, zwischen Mitte bis Ende der fünfziger Jahre und den späten sechziger Jahren verlief. In dieser Phase wurde ihr Weltbild maßgeblich beeinflusst und zentrale, allgemeine Wertvorstellungen und die Haltung zur Politik und Gesellschaft „geprägt“.

Bei Klages, in Anlehnung an die sozialpsychologische Kategorisierung von Riesman, wird diese Gruppe als eine von insgesamt sechs „typischen“ Bevölkerungsgruppen herausgearbeitet“. Entsprechend ihrem Protest und der – noch nicht – vorhandenen Integration (als Jugendkultur) in die produktive Gesellschaft, begreift er sie auch als ein lebenszyklisches Phänomen des Übergangs von der Adolenszensphase in die Rolle des Erwachsenen und beschreibt sie als „utopisch idealistische Engagierte“.

Eine plausible theoretische Erklärung, die eine gute empirische Evidenz aufweist, wurde von Inglehart vorgelegt (beispielhaft in 1979 in Anlehnung an sein Buch „Silent Revolution“ dargestellt). Inglehart geht von drei zentralen Überlegungen aus. 1. Menschen organisieren ihre Präferenzen im Rahmen von Werten. Dazu greift er auf Überlegungen von Maslow und von Rokeach zu. 2. Diese Werte und abgeleiteten „Einstellungen“ werden in der Präferenz durch eine „Mangelhypothese“ beeinflusst. Brecht drückte es so aus: „Erst kommt das Fressen dann kommt die Moral“. 3. Die Werte werden in den „formativen Jahren“ der allgemeinen und politischen Sozialisation maßgeblich beeinflusst und wirken dann als Generationserfahrung maßgeblich für den Rest des Lebens fort. Natürlich mit lebenszyklisch bedingten Modifikationen.

Aus diesen Überlegungen schlussfolgert er, dass gemeinsame historische Erfahrungen zu ähnlichen Wertvorstellungen führen und diese wirken als gemeinsame „Generationslagerung“ (vgl Mannheim) fort. Die zentrale Idee bei Inglehart ist, dass Menschen eine Vielzahl von Bedürfnissen verfolgen, die entsprechend der Dringlichkeit priorisiert werden. Die höchste Priorität genießen dabei die Bedürfnisse, die für die tägliche Reproduktion bzw. das Überleben zentral sind. Sofern diese Bedürfnisse erfüllt sind wendet sich das Individuum „höheren“ Bedürfnissen zu.

Diese Überlegung ist zentral, sofern man den Generationskonflikt begreifen will, der sich zwischen der Nachkriegs-Generationslagerung der „68er“ und der Generationslagerung des „NS-Systems und des Krieges“, der Generationslagerung der Weimarer Republik“ und der „Generationslagerung des Kaiserreichs“ aufgetan hat.

Für die Generation, die nach dem WW2 in der BRD aufgewachsen ist, war die Welt vordergründig im Rahmen des Kalten Krieges friedlicher und auf der einen Seite durch einen deutlich zunehmenden materiellen Wohlstand gekennzeichnet und andererseits mit einer gewissen gesellschaftlichen Stagnation in Kombination mit dem noch nicht abschließend geklärten NS-Erbe. Gleichzeitig stand sie unter dem Eindruck von Massenvernichtungswaffen, dem Kampf der Kolonien um ihre Unabhängigkeit und den Fragen der Verteilungsgerechtigkeit der durch ein schnelles Wirtschaftswachstum im Westen erzeugten „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Die negativen Auswirkungen des wirtschaftlichen Wachstums traten zudem bereits in ihren Konturen und Auswirkungen zu Tage (Club of Rome etc.). Diese neuen Herausforderungen kollidierten mit einem neuen Verständnis von „Gerechtigkeit“ und wurden im Kohlberg`schen Sinne als „unmoralisch“ begriffen (vgl.Habermas und Ijzdendoorn)


Auf diese historisch vorgegebenen Herausforderungen mußte die Nachkriegsgeneration ihre Antwort finden, die ihrer Sicht gerecht werden konnte. Diese Reaktion entsprach in einer Reihe von Aspekten bereits vorhandenen Entwicklungen, die mit der „zweiten Moderne“ umschrieben worden sind. Es sind vielfältige politische und kulturelle Einflüsse, die nach 1945 im Weltbild der Nachkriegsgeneration der „68“ sich niedergeschlagen haben.

Ein zentrales gesellschaftliches Moment war der weiter zunehmende Prozess der „Individualisierung“ der Gesellschaft, der durch die Stadt-Land-Migration im Zuge der industriellen Revolution maßgeblich in seiner Dynamik beeinflußt worden ist (vgl. Beck & Beck-Gernsheim, S. 160 ff). In Kombination mit der Säkularisierung der Gesellschaften und der entstehenden globalen massenmedial vermittelten „Hippy-Kultur“ – in allen ihren Ausdrucksformen – entstanden neue kulturelle Stile. Diese wurden ideologisch zusätzlich durch Intellektuelle wie Satre und Beauvoir im selbstbestimmten individuellen Lebensentwurf bzw. auch der zunehmenden Bedeutung der Emanzipation der Frauen von klassischen familiären Rollen geprägt.

Der neue politische Stil, der sich für „New Left“ entwickelte, spiegelte diese kulturellen Rahmenbedingungen wider und erklärt teilweise das gegenseitige Unverständnis, dass die kaderorientierte traditionelle „alte Linke“ und die individualistische „neue Linke“ füreinander zeigten. Dabei orientierte sich die Gruppe um Dutschke stark an dem „unkonventionellen“ Politikstil der neuen Linken aus den USA und ergänzte es inhaltlich durch eine Mischung aus (vgl. Klimke)

Die relativ kleine Gruppe der aktiven Studenten die im Kern die Revolte von 1968 aktiv geprägt haben, ist somit eingebettet gewesen in einen wesentlichen breiteren sozialen Wandel. Aus einer Reihe von Gründen, so die Ergebnisse zur makro- und mikrosoziologischen Revolutionsforschung, sind es meistens kleine Gruppen, die als organisatorischer Kern den Protest einer sozialen Bewegung bündeln und als „politischer Agent bzw. Akteur“ auftreten (vgl. z.B. Moscovici)
 
Zuletzt bearbeitet:
Teil 2
Der Ausgangspunkt, die Kritik in einer Spengler`scher Tradition stehender kulturpessimistischer Konserativer, richtete sich gegen die angebliche Zerstörung der Familie und traditionellen sozialen Strukturen. Eine gebetsmühlenartig vorgetragene Kritik, die durch die Familiensoziologie widerlegt wurde.

Relevanter ist da die Kritik an dem Individualismus und den damit zusammenhängenden – postmaterialistischen – Lebensentwürfen. Ein Aspekt, auf den Beck und Beck-Gernsheim hinweisen. „The decline of values which cultural pessimists are so fond of decrying is in fact operning up the possibility of escaping from the creed of „bigger“ , more, better in a period that is living beyond ist means ecological and economical.“ (ebd. S. 162)

Und an diesem Punkt war und ist eine postmaterialistische Orientierung eine zentrale sozialpsychologische Voraussetzung mit den Konsequenzen des Klimawandels auf der Ebene des kollektiven und individuellen Lebensstils überhaupt fertig zu werden.

Die Generationslagerung der „68er“ ist das Ergebnis einer Sozialisation, die auf Strukturen aufgebaut hat, für deren Vorhandensein die „68er“ nicht verantwortlich waren. Sie haben als politischer Akteur den „Zeitgeist“ mit verkörpert und ihn dynamisiert.

Und viele Aspekte, die heute mehrheitlich akzeptierte zentrale Bestandteile unserer Kultur, unserer modernen gesellschaftlichen Werte und der politischen Kultur sind, sind auch mit durch den politischen Diskurs der „68er“ geprägt worden, durch den „Marsch durch die Instanzen“ etabliert und durch die Gründung der Grünen bzw. der alternativen Listen erfolgreich im politischen System etabliert.

Vor diesem Hintergrund mögen ultrakonservative Gralshüter angeblich besserer „Werte“ weiterhin die destruktive Wirkungen einer hedonistischen „sexuellen Revolution“ auf eine traditionelle Sexualmoral anprangern oder die laute Musik von „Rock around the clock“ weiter kritisieren. Es sind die ideologischen Zuckungen eines untergehenden Weltbildes, das nicht mehr kompatibel ist zur Pluralität einer globalisierten Internetgesellschaft und Antworten bietet, die nicht mehr als zeitgemäß wahrgenommen werden. Die Integrationskraft der traditionellen Institutionen ist darauf angewiesen, dass die Zivilgesellschaft hilft, die Komplexität und die Widersprüche moderner kapitalistischer Sozialstaaten zu moderieren und so geselleschftliche Integration zu ermöglichen. Aber das ist ein Thema, bei dem man sich eher beispielsweise mit den Analysen von Morozow oder Castell beschäftigen müßte.

http://www.progressivefox.com/misc_documents/PortHuronStatement.pdf

Beck, Ulrich; Beck-Gernsheim, Elisabeth (2001): Individualization. Institutionalised Individualism and its Social and Political Consequences. 1. Aufl. London: SAGE Publications Ltd.
Habermas, Jürgen (2014): Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Inglehart, Ronald (1979): Wertwandel in den westlichen Gesellschaften: Politische Konsequenzen von materialistischen und postmaterialistischen Prioritäten. In: Helmut Klages und Peter Kmieciak (Hg.): Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel. 3. Aufl. Frankfurt am Main, New York: Campus, S. 279–316.
IJzendoorn, Marinus H. van (1980): Moralität und politisches Bewußtsein. Eine Untersuchung zur politischen Sozialisation. Teilw. zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1978. Weinheim, Basel: Beltz.
Klages, Helmut (1975): Die unruhige Gesellschaft. Untersuchungen über Grenzen und Probleme sozialer Stabilität. München: C.H.Beck
Klimke, Martin (2010): The other alliance. Student protest in West Germany and the United States in the global sixties. Princeton, N.J., Woodstock: Princeton University Press
Mannheim, Karl (1978): Das Problem der Generationen. In: Martin Kohli (Hg.): Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt: Luchterhand, S. 38–53.
Moscovici, Serge (1979): Sozialer Wandel durch Minoritäten. München: Urban & Schwarzenberg
Thome, Helmut (2005): Wertewandel in Europa. In: Hans Joas und Klaus Wiegandt (Hg.): Die kulturellen Werte Europas. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl., S. 386–443.
Westad, Odd Arne (2018): Preface: Was there a "global 1968"? In: Jian Chen et. al. (Hg.): The Routledge handbook of the global sixties. Between protest and nation-building. Abingdon, Oxon, New York, NY: Routledge, S. XX–XXIII.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zurück
Oben