Wenn die Ueberlieferung über mehrere Kopiervorgänge geht, dann ist es ja aber ziemlich unsicher, ob Plinius der Jüngere, Sallustus oder Titus Livius den überlieferten Text wirklich 1:1 so verfasst haben, oder nicht?
Genau. Mehr noch, man geht gleich davon aus, dass der Text eben nicht 1:1 original ist. Für manche Texte hat man Papyrusfragmente aus antiker Zeit, die sind natürlich sehr nützlich, einfach weil sie zeitlich am nächsten am Original dran sind. Ansonsten gibt es eben nur die mittelalterlichen Handschriften. Die werden verglichen und mit verschiedenen Methoden (El Quijote hat oben mit der
lectio difficilior schon die wichtigste Methode genannt) in ein Verhältnis gebracht, das man dann in einem Stemma codicum, wie ich es oben angehängt habe, darstellt. Und so lassen sich alle Abschriften auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen (in dem Fall α genannt, mittlerweile meistens ω).
Wichtig: Dieser Ursprung, Archetypus genannt, ist
nicht das antike Original, sondern die älteste Handschrift, und die versucht man zu rekonstruieren. Lateinische Buchstaben stehen für erhaltene Handschriften, kleine griechische Buchstaben für nicht erhaltene Handschriften, deren Existenz nur aufgrund gemeinsamer Abschreibefehler etc. angenommen wird. Fragezeichen und gestrichelte Linien sind (begründete) Vermutungen. Und rechts vom Archetypus siehst du die Papyri genannt sowie Kommentare anderer Autoren zu diesem Werk, die werden nämlich für die Rekonstruktion auch verwendet und geben oft vor allem stilistisch wertvolle Hinweise.
Aber wie du sagst, einen gesicherten Originaletxt gibt es nicht. Deswegen sehen auch in jeder kritischen Ausgabe wieder Details anders aus.
Da bin ich jetzt aber sehr enttäuscht, dass man sich nicht darauf verlassen kann, dass der betreffende Autor das wirklich so geschrieben hat, oder ob nicht im Laufe der Zeit etwas nachgebessert wurde, im Sinne der Ideologie des Kopierers.
Ganz so schlimm ist es auch nicht, meistens jedenfalls. Bei den Unterschieden in Handschriften geht es fast nur um Details wie einzelne vertauschte Buchstaben, andere Akzentsetzungen, vielleicht mal ein Wort vergessen.
Was die Ideologie des Kopierers angeht, da denke ich natürlich als erstes an christliche Umdeutungen, weiß nicht ob das auch dein Gedanke war. Nehmen wir einen Text der stoischen Philosophie als Beispiel. Oder besser noch, Platons Dialog Kritias. Sokrates spricht immer von "dem Göttlichen" im Singular, das lässt sich natürlich prima "recyclen". Aber da muss man ja gar nichts ändern. Ein Kopist (nicht unbedingt ein Gelehrter, da wurde teilweise jemand bestellt nur für das stupide Abschreiben - vieles, aber nicht alles passierte in Klöstern) schreibt den Text ab, damit jemand (oder er selbst) leichten Zugang dazu hat, ohne ihn zu ändern. Er passt ja, man hat kein Bedürfnis dazu. Und dann wird er einen Kommentar dazu schreiben, in dem das Ganze dann ausführlich christlich gedeutet wird. Das ist auch für denjenigen viel einfacher als einen Text inhaltlich zu verändern, man müsste ihn ja komplett umarbeiten - da kann man auch gleich etwas Neues schreiben.
Solche Texte, die vor allem in Klöstern überhaupt nicht beliebt waren oder allgemein zu "unchristlich", und die auch sonst niemand mochte, wurden schlichtweg nicht oder kaum abgeschrieben und sind deshalb kaum überliefert. Mir fallen da als Paradebeispiel Petrons Satyrica ein. Oder Ktesias' Persika, die zwar ständig erwähnt wird, aber wohl schon damals kritisch gesehen wurde.
Also kann man davon ausgehen, dass im Text wenigstens nur sehr wenige Umdeutungen vorgenommen wurden, schon allein des Aufwands wegen.