Bismarcks Friedenspolitik

clemens schrieb:
bismarck war, soweit ich es richtig in der erinnerung habe, gegen annexionen.
Bismarck war keineswegs gegen Annexionen. Um es etwas differenzierter zu sagen: In Bezug auf Dänemark zeigte er sich sehr an territorialem Zugewinn interessiert. Die Herzogtümer Schleswig und Holstein fielen nach 1864 an Preußen und Lauenburg an Österreich.
Was Österreich betrifft, so spekulierte Bismarck 1866/67 wohl schon auf einen potentiellen - daher friedensvertragstechnisch zu schonenden - Bündnispartner gegen Frankreich. Das als Zeichen einer Bismarckschen Friedenspolitik zu werten, ist doch ziemlich gewagt. Übrigens bemühte sich Frankreich umgekehrt auch um Österreich.
Nach dem Sieg gegen Frankreich 1871 eignete sich dann das neugegründete Deutsche Reich dem Willen des Reichskanzlers entsprechend das Elsaß und große Teile Lothringens an.
Die deutsch-französische Feindschaft war bestimmt nicht nur Resultat dieser Ereignisse. Ein Konkurrenzverhältnis gab es schon lange und Kriege zwischen Frankreich und deutschen Staaten auch, zuletzt die Napoleons, aber die Situation nach 1871 hatte, glaube ich, eine neue Qualität.
 
Zuletzt bearbeitet:
1884 erklärte Bismarck im Reichstag, dass er eine Abneigung gegen deutsche Kolonien hege, wohl aber anerkenne, dass das Deutsche Reich die Pflicht habe, kaufmännische Unternehmungen in Übersee gegen Angriffe eingeborener Nachbarn als auch europäischer Mächte zu schützen.
Obwohl Bismarck Kolonien für überflüssig hielt und besonders die diplomatischen Verwicklungen mit der Kolonialgroßmacht Großbritannien fürchtete, wurden unter seiner Kanzlerschaft die meisten deutschen Kolonien gegründet.
 
Liebe Gisele,
Bismarck war durchaus bewußt, dass dem deutschen Kaufmann, Wohl oder Übel die Schutztruppen folgen mußten. Trotzdem , dass der Aufwand der dadurch betrieben werden mußte, in keinem Verhälnis zu dem Nutzen stand, den Deutschland dafurch hatte. :rolleyes:
 
Lieber Heinz,
die eigentliche Initiative ging nicht vom Reich, sondern von hanseatischen Kaufleuten aus. Obwohl Bismarck Kolonien für überflüssig hielt, wurden unter seiner Kanzlerschaft die meisten deutschen Kolonien gegründet. Dass die deutsche Kolonialpolitik, gemessen an den eigenen Ansprüchen wie im Vergleich mit den großen Kolonialmächten wenig erfolgreich war, ist mir auch klar. Aber danke für den Hinweis
 
heinz schrieb:
Bismarck war durchaus bewußt, dass dem deutschen Kaufmann, Wohl oder Übel die Schutztruppen folgen mußten. Trotzdem , dass der Aufwand der dadurch betrieben werden mußte, in keinem Verhälnis zu dem Nutzen stand, den Deutschland dafurch hatte. :rolleyes:

Na ja, nicht ganz. Bismarck hatte anfangs schon die "fromme Hoffnung", daß die deutschen Kolonialgesellschaften es schaffen würden allein die Schutzgebiete zu verwalten. Der Kanzler hatte mit seinen Schutzzusagen mehr den Schutz "nach aussen" also gegen andere imperiale Mächte im Sinn.

Was dann später deutsche Truppen in die Länder geführt hat, war die Unfähigkeit der Kolonialgesellschaften im Lande für Ordnung zu sorgen. Bismarck stand plötzlich vor der Wahl ob er sich dem Gelächter in London und Paris aussetzen lassen wollte, weil die Deutschen ihre jüngst erlangten Gebiete eigentlich schon wieder verloren hatten, oder in den sauren Apfel zu beissen und teure Reichstruppen nach Übersee zu schicken. Er entschied sich gegen die Häme.
Auch später waren die Schutztruppen niemals dafür vorgesehen und auch nicht in der Stärke, gegen andere Kolonien in Afrika Krieg zu führen. Es war eigentlich immer eine Truppe, die im Land für Ordnung sorgen sollte.
Es hieß, daß ein Krieg in Europa und nicht in den Kolonien entschieden werden würde.

Alles in allem - im Nachhinein betrachtet - war die deutsche Kolonialepoche eine riesige Geldvernichtung. Bildlich gesprochen, man hatte sich ein teures Statusobjekt zugelegt, daß einem 1919 weggenommen wurde, bevor man davon profitieren konnte.
Allerdings ist es fraglich, ob man wirklich, jemals echten Gewinn aus den Kolonien gezogen hätte. Wenn man sich die spätere Entwicklung der französischen, britischen, holländischen, spanischen oder portugiesischen Gebiete ansieht, können wir eigentlich froh sein, diesen "Ballast" nicht bis in die Sechsziger Jahre hinein getragen zu haben.
 
Für mich war Bismarck ein weder ein Kriegs noch ein Friedenspolitiker, sondern er ließ sich nur von dem leiten was am jeweiligen Standpunkt geeignet war. Gegner können ihn deswegen Unbeständigkeit vorwerfen, aber ist das nicht ein Merkmal aller Politiker?
Er war trotzdem der bedeutenste deutsche Politiker (Hitler will ich nicht dazu aufführen, er war zwar geschichtlich auch bedeutend, aber dieses wort ist zu positiv für ihn) und wenn seine Nachfolger gewesen wären wie er, hätte es den 1. und 2. Weltkrieg in dieser Form nie gegeben. Bismarck hatten nur dann den krieg riskiert wenn der Sieg wahrscheinlich bis sicher war, doch die zunehmende Hochmütigkeit der Deutschen , ließ sie das vergessen.
Bismarck war übrigens im Privatleben meines Wissens nach äußerst sensibel und war ungern von seiner Frau getrennt (Da stand vor ein paar Wochen mal was in der Zeit drüber)
 
comiter.ulm schrieb:
...Er war trotzdem der bedeutenste deutsche Politiker (Hitler will ich nicht dazu aufführen, er war zwar geschichtlich auch bedeutend, aber dieses wort ist zu positiv für ihn) ...

Entschuldige, aber wie kann ein historisch gebildeter und politisch denkender Mensch einen der größten Gegner der Demokratie für den "bedeutendsten deutschen Politiker" halten ?

Und Krieg nur dann zu führen, wenn sie erfolgversprechend erscheinen, ist das ein Merkmal von "Bedeutsamkeit"?
 
Zuletzt bearbeitet:
ich würde den begriff "bedeutend" nicht wertend verwenden. und so kann nicht bestritten werden, daß bismarck einer der bedeutentsten politiker war, was dann aber selbstverständlich auch für hitler zu gelten hat. bedeutend im sinne von "gut" oder "böse" führt uns m.e. nicht weiter.

was biskmarck angeht, sollte man aber auch bedenken, daß krieg zu seiner zeit noch ein selbstverständliches mittel der politik war, und kriege nur dann zu führen, wenn sie erfolgversprechend waren, scheint mir dann, abseits einer moralischen bewertung, ein zeichen von politischer klugheit zu sein. hinsichtlich seiner demokratiefeindlichkeit sollte man fairerweise zugestehen, daß das von ihm geschaffene deutsche reich hinsichtlich demokratie (allgemeines und gleiches männerwahlrecht bei REICHSTAGSwahlen) keineswegs schlußlicht in den damaligen europäischen fortschritts-charts war. daß seine zugeständnisse an demokratische forderungen jedoch vor allem taktisch motiviert waren, da bin ich ziemlich sicher.

ich denke, daß bismarck einer der bedeutentsten und auch geschicktesten deutschen politiker war, aber wahrscheinlich kein besonders "netter kerl".

ponzelar
 
Klaus P. schrieb:
Entschuldige, aber wie kann ein historisch gebildeter und politisch denkender Mensch einen der größten Gegner der Demokratie für den "bedeutendsten deutschen Politiker" halten ?

Hmm..ich würde das "bedeutend" mal nicht als "engelsgleich" verstehen. Er hatte einfach eine hohe Bedeutung für die deutsche Geschichte - mal ganz von einer moralischen Wertung gelöst.
Ausserdem meine ich, man muß geschichtlichen Personen auch immer als Kinder ihrer Zeit und ihrer Umstände sehen. Wenn wir alle Personen der Weltgeschichte nach heutigen Maßstäben beurteilen würden, wären wohl fast alle Verbrecher, grausame Diktatoren etc.

Bismarck ist unter diesem Gesichtspunkt allemal sehr bedeutend gewesen. Schließlich hat er den Lauf der Geschehnisse entscheidend beeinflußt. Übrigens zählte er nach der Umfrage "Die größten Deutschen" zu den Top 10 (9.Platz)...
 
Hitler war ein Massenmörder und ein Wahnsinniger...Ich glaube, dass sich Bismarck jetzt im Grabe umdreht bei diesem Vergleich....
Hitler als bedeutend zu kennzeichnen ist meiner Meinung nach absurd.
 
Gisele schrieb:
Hitler war ein Massenmörder und ein Wahnsinniger...Ich glaube, dass sich Bismarck jetzt im Grabe umdreht bei diesem Vergleich....
Hitler als bedeutend zu kennzeichnen ist meiner Meinung nach absurd.

Das führt jetzt völlig vom Thread-Titel weg, aber Giselle, wenn du deine obige These bis zum Ende denkst, wäre Hitler unbedeutend für die Geschichte...das passt doch nicht. :S
Du verbindest wieder Bedeutsamkeit mit "verehrenswürdig" oder einem ähnlichen Terminus.
 
Wörterbuch der deutschen Sprache

be|deu|tend [Adj. ] 1 fähig, allgemein bekannt und anerkannt; ein ~er Schriftsteller 2 groß; eine ~e Summe 3 [als Adv.] erheblich, beträchtlich, ziemlich viel; b. größer, kleiner, mehr, weniger

in dieser bedeutung ist bismarck sicher einer der bedeutendsten deutschen politiker, der herr aus österreich sicher nicht!
 
Arne schrieb:
Du verbindest wieder Bedeutsamkeit mit "verehrenswürdig" oder einem ähnlichen Terminus.

Das ist verständlich, das Wort ist für viele eben positiv besetzt.
Hitler ist verhängnisvoll für die dt.Geschichte .

Das Verhängnisvolle an ihm und seine Untaten haben eine Bedeutung in der dt. Geschichte.
Er selber ist nicht bedeutend , da seine Eigenschaften dies nicht waren.
Er war kleinkariert und spießig ! Ein Wortvergleich im Sinne wirklich bedeutenden Menschen würde den Verbrecher Hitler in seiner Verabscheuungswürdigkeit relativieren, bitte bedenke dies mal...!
 
Zuletzt bearbeitet:
um wieder zum thema zurückzukommen:

bismarck war kein friedenspolitiker, das war im 19. jhdt. keiner. er war, als es drauf ankam, ein eiskalter machtpolitiker, der auch vor 3 kriegen nicht zurückgescheut hat. das war aber bis 1914 ein legitimes mittel europäischer politik, das alle mächte für sich in anspruch nahmen. er hat, als seine aussenpolitischen ziele erreicht waren, eine zurückhaltend-defensive politik betrieben und das deutsche reich aus konflikten herausgehalten.

so konnte er die rolle als "ehrlicher makler" auf dem berliner kongress übernehmen und sein ausgeklügeltes netzwerk an bündnissen knüpfen.

dass auch das deutsche reich kolonien in dieser zeit erwarb, kann man ihm nicht ankreiden, welche europäische macht hat in dieser zeit KEINE kolonien erworben? verglichen zur machtposition in europa konnte man die besitzungen ja nur als bescheiden bezeichnen. erst nach seinem abgang konnten sich die kräfte gehör verschaffen, die einen höheren anteil am "platz an der sonne" verlangten.

auch der "krieg in sicht"-artikel ist kein typisch bismarcksches oder preussisches säbelrasseln, auch andernorts gab es zeitungsartikel, die einen krieg heraufbeschoren, ich denke da besonders an die falludscha-affäre zwischen grossbritannien und frankreich.

da es hier um die aussenpolitik bismarcks geht, verkneife ich mir kommentare zu seiner innenpolitik.
 
collo schrieb:
da es hier um die aussenpolitik bismarcks geht, verkneife ich mir kommentare zu seiner innenpolitik.

Das kann bei Bismarcks politischen Handeln aber nicht getrennt werden.

Er hatte ein Gespühr für die innenpolit. Entwicklungen hinsichtlich der internationalen Bedeutungszunahme des dt. Reiches nach dem gewonnenen Krieg 1871.
Die Kräfte die in Deutschland da nach oben strebten hat Bismarck bis in die letzte Konsequenz eines Revanchekrieges Frankreichs gegen Deutschland vorrausgesagt. Daher erklärte er Deutschland für "Saturiert" und wollte die zurecht beunruhigten Nachbarstaaten incl. England beruhigen. Er sah eine Entwicklung des jungen Reiches nur im Frieden mit den angrenzenden Staaten und knüpfte entsprechende Bündnisse.
 
collo schrieb:
... ich denke da besonders an die falludscha-affäre zwischen grossbritannien und frankreich.

Kleine Zwischenfrage, Collo: kann es sein, daß Du da aus aktuellen Gründen einen falschen Namen im Kopf hast? Du meintest doch bestimmt die Faschoda-Affäre oder -Krise von 1898 :grübel:
Falls ich Dir damit jetzt doch Unrecht tue, an dieser Stelle bereits ein aufrichtiges :sorry:
Falls ich recht habe, dann bitte nicht persönlich nehmen, denn diese Kleinigkeit war auch der einzige Makel in Deinem Beitrag :winke:
 
Klaus P. schrieb:
...

Allerdings lege ich politische Maßstäbe an (das heisst ja nicht "wertfreie"), und zwar aus heutiger Sicht, wie sonst.

...

wenn man zu bismarcks friedenspolitik im speziellen und zu bismarck im allgemeinen maßstäbe anlegt, täte man m.e. gut daran, historisch angemessene maßstäbe zu verwenden.

collo schrieb:
...

bismarck war kein friedenspolitiker, das war im 19. jhdt. keiner. er war, als es drauf ankam, ein eiskalter machtpolitiker, der auch vor 3 kriegen nicht zurückgescheut hat. das war aber bis 1914 ein legitimes mittel europäischer politik, das alle mächte für sich in anspruch nahmen. er hat, als seine aussenpolitischen ziele erreicht waren, eine zurückhaltend-defensive politik betrieben und das deutsche reich aus konflikten herausgehalten.

so konnte er die rolle als "ehrlicher makler" auf dem berliner kongress übernehmen und sein ausgeklügeltes netzwerk an bündnissen knüpfen.

...

bismarck wurde zum "friedenspolitiker", nachdem er seine durch krieg zu erreichenden ziele, kleindeutschland oder großpreussen, erreicht hatte und es galt, das geschaffene zu erhalten, also sich defensiv aufzuführen. es gab danach halt nichts mehr zu erreichen, was "die gesunden knochen eines einzigen pommerchen grenadiers" wert gewesen wäre. ob das gut oder böse ist? in jedem fall war das schlüssig. vorzuwerfen wäre bismarck allerdings, daß sein bündnisgeflecht (rückversicherungsvertrag mit rußland bei gleichzeitig bestehendem bündnis zur kuk-monarchie) sehr frivol, wenn man will auch verlogen -also böse- war.

ponzelar
 
@timotheus: klar, FASCHODA, nicht falludscha, ich sollte wohl manchmal eher googeln, bevor ich was niederschreibe.

@arcimboldo: mit innenpolitik meinte ich vor allem die bemerkung von klaus p., der bismarck vor allem als antidemokratischen autokraten sieht, was innenpolitisch in gewisser weise auch zutrifft, aber nicht zum pfad passt.

@ponzelar: du nennst bismarcks bündnispolitik verlogen und böse, man könnte sie auch genial nennen. aussenpolitisch waren seine nachfolger jedenfalls stümper.
 
nein, ich nenne die bündnispolitik nicht verlogen und böse, sondern "sehr frivol". schau noch mal nach, vielleicht hab ich aber auch nicht eindeutig genug formuliert.

ponzelar
 
collo schrieb:
...@arcimboldo: mit innenpolitik meinte ich vor allem die bemerkung von klaus p., der bismarck vor allem als antidemokratischen autokraten sieht, was innenpolitisch in gewisser weise auch zutrifft, aber nicht zum pfad passt.
@ponzelar: du nennst bismarcks bündnispolitik verlogen und böse, man könnte sie auch genial nennen. aussenpolitisch waren seine nachfolger jedenfalls stümper.

Sicher waren nicht alle Nachfolger Bismarcks unbedingt begnadete Politiker, aber "Stümper"? Immerhin ist es ihnen gelungen, dass Deutschland 24 Jahre lang keinen Krieg geführt hat. Manch einer würde sie schon deshalb als "Friedenspolitikern" beurteilen.
Die "Einkreisung Deutschlands" durch nach Bismarck veränderte Bündniskonstellationen wird z.T. auch heute noch gerne auf das versagen der deutschen Diplomatie unter Wilhelm II. zurückgeführt, die ja auch wirklich wenig rational war. Dass diese Außenpolitik aber im Wesentlichen nur Reflex der deutschen Innen- und Wirtschaftspolitik und dass die Außenpolitik Bismarcks doch nur bedingt "genial" war, zeigt ein Text, den ich hier zitieren möchte:

"...Die deutsche Außenpolitik der Vorkriegszeit hatte keine Wahl zwischen englischer und russischer Orientierung. Solange in Deutschland die Konservativen (die im wesentlichen die Interessen des ostelbischen Großgrundbesitzes vertraten) politischen Einfluss hatten, und solange die ganze Wirtschaftspolitik primär auf die staatliche Subventionierung der agrarkapitalistischen Getreideproduktion durch Zölle eingestellt war, hätte eine außenpolitische Entscheidung für England oder für Russland sozial in der Luft geschwebt. Mit dem sozialen Aufbau des Bismarck-Reiches harmonierte seitdem es in Deutschland eine Krise des politisch mächtigen verschu1deten Grundbesitzes östlich der EIbe gab, nur die Entscheidung der Außenpolitik gegen England und gegen Russland…
Die preußische Binnenwirtschaftspolitik, die ihre außenpolitische Basierung seit dem 18. Jahrhundert nicht in der Beherrschung von Kolonien und überseeischen Interessengebieten, sondern in der mit dem preussisch-polnischen Handelsvertrag von 1775 einsetzenden Exploitierung (Ausbeutung) des industriell unerschlossenen Ostens fand, änderte in der Agrarkrise seit 1875 ihre Tendenz. Bismarcks Zollpolitik von 1879 hatte außenpolitisch die Wirkung, dass Russland seine deutsche Einfuhr in den, achtziger Jahren fast auf die Hälfte drosselte, in den neunziger Jahren mit äußerster Anstrengung an die Währungsreform und an den Aufbau einer
eigenen Industrie ging, um von der deutschen Handelspolitik unabhängig zu werden… Schon Bismarcks politische Russenfreundschaft und wirtschaftliche Russenfeindschaft widersprechen sich vollständig und lassen in viel stärkerem Umfang als meist eingestanden wird, das kunstvolle Gebilde seines außenpolitischen Systems als eine anachronistische(widersprüchliche) künstliche Konstruktion einer diplomatischen Kabinettspolitik erscheinen, neben der isoliert eine autonome Wirtschaftspolitik steht, deren entgegengesetzte Wirkungen nicht ins Kalkül (in die Berechnungen) eingestellt werden. Bismarck hat diesen Bruch in seinem System nur zu sehr gefühlt, andere mit der These von der Inkohärenz (Zusammenhanglosigkeit) der wirtschaftlichen und politischen Außenpolitik zu beruhigen und sich selbst mit ihr eine Rückzugsbrücke zu bauen gesucht. Die wirtschaftliche Rücksicht auf die politisch russenfreundlichen Agrarkonservativen (d. h. die ostelbischen Großgrundbesitzer) hat eine zunächst wirtschaftliche und dann auch politische Feindschaft zwischen Russland und Deutschland hervorgerufen. Bismarck hat die wirtschaftliche Grundlinie des preußischen Staates: Exploitierung des industriell unerschlossenen Ostens durch die eigene Industrie umgebogen und, da ein ausländisches Absatzgebiet notwendig war, die Industrie auf die überseeische Expansion gezwungen…"
aus: Kehr, Eckart: Englandhass und Weltpolitik, in: Der Primat der Innenpolitik, Berlin 1965, S. 152 ff


Ich finde, dass viel Diskussionsteilnehmer sich zu sehr auf die Bismarcksche Bündnispolitik beschränkt und die Kolonial-und Außenwirtschaftspolitik zu wenig berücksichtigt haben.
Auch unter diesem Blickwinkel relativiert sich also die "Bedeutsamkeit" Bismarcks m. E. erheblich.
 
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