Das dürfte sie auf jeden Fall sein, wie man am Beispiel Nordkoreas sieht, das dank seiner Atomwaffen unantastbar wurde. Es hat schon seinen Grund, weshalb Machthaber so gerne nach Atomwaffen streben. Hätte Gaddafi Atomwaffen besessen, hätte sich der "Westen" gehütet, ihn wegzubomben. Hätte Saddam Hussein Atomwaffen besessen, würde er heute noch sein Land tyrannisieren (falls er nicht im "Arabischen Frühling" gestürzt worden wäre).
Im Prinzip richtig, allerdings ist hier nicht zuletzt die Zahl der verfügbaren Sprengköpfe und die Art der Trägermittel entscheidend, was weitere Aussagen über die Doktrin der nuklearen Abschreckung erlaubt.
Ein Beispiel:
Wäre Libyen jemals Nuklearmacht geworden, so hätte es (wenn man der Wikipedia glauben darf) einige wenige nukleare Freifallbomben besitzen können. Unantastbar gegenüber dem "Westen" wäre es dadurch nicht geworden, allenfalls gegenüber einer landgestützten Invasion hätte dieses Arsenal Schutz geboten.
Libyen verfügte nämlich nur über eine Handvoll taktischer Bomber mit kurzer Reichweite, und hätte mit militärisch wertlosen Terrorangriffen allenfalls Malta oder Lampedusa bedrohen können. Das integrierte Luftabwehr-System der NATO, das täglich dutzende russische Flugzeuge an seinen Grenzen sicher abfängt, hätte – vor allem mit entsprechender Vorbereitung – einen libyschen Angriff leicht vereiteln können.
Kim Jong-un hingegen sitzt sicher unter seinem Nuklearschirm, weil er nicht nur über viele Sprengköpfe verfügt, sondern auch über geeignete Trägersysteme, die Seoul in zwei Minuten erreichen könnten.
Im Gegensatz zu Gaddafi besitzt er damit eine sichere Erstschlagfähigkeit, die Südkorea und die USA davon abhält, Krieg gegen ihn zu führen – was diese übrigens völkerrechtskonform jederzeit tun könnten, da sich Nordkorea nach wie vor in dem von ihm eröffneten Kriegszustand mit beiden Staaten befindet.
Gleichwohl kann Kim einen Erstschlag nicht wagen, da ihm die Zweitschlagfähigkeit fehlt, und er wohl auch nicht mehr unter dem Schutz Chinas steht. Sollte er offensiv Nuklearwaffen gegen Südkorea und/oder die auf Wunsch Südkoreas dort stationierten US-Truppen einsetzen, wäre dies das Ende seines Landes.
Daran kann man die zwei entscheidenden Schwächen der Doktrin der nuklearen Abschreckung ableiten:
Nicht umsonst spricht man von einem "Gleichgewicht des Schreckens", doch eine Balance, soll sie etwas bewirken, muss gehalten werden. Ein Wettrüsten wird damit schier zur Pflicht, da qualitative und quantitative Ungleichgewichte nicht mehr wie bei konventionellen Waffen durch andere Faktoren ausgleichbar sind.
Nicht bei einer etwaigen Aufrüstung des Gegners gleichzuziehen, wäre also noch gefährlicher als selbst aufzurüsten. Besteht nämlich ein Ungleichgewicht und dieses wird dem Gegner bekannt, könnte er versucht sein, den vermeintlichen Vorteil auszunutzen. Eine solche Situation führte zur Oktoberkrise von 1962.
Die Literatur nennt noch zwei andere Probleme, die aber vielleicht mehr Wertungsspielraum lassen:
"Mad man in the loop" bezeichnet die Frage, was passiert, wenn eine entscheidungsbefugte Person in einem nuklear bewaffneten Staat in einer Phase geistiger Verwirrung einen Nuklearschlag befiehlt.
Persönlich sehe ich hier Anlass zur Hoffnung, dass rein gar nichts passieren wird, weil an dem Start selbst einer einzigen Interkontinentalrakete eben nicht nur diese Person, sondern hunderte beteiligt sind, und der Kalte Krieg gezeigt hat, dass diese Personen selbst in Situationen, in denen ihre Vorgesetzten nicht den Verstand verloren haben, noch selber zu denken imstande sind (erinnert sei nur an Stanislaw Petrow).
Relevanter scheint mir die von der Spieltheorie aufgeworfene Frage, ob nicht Bilder wie das vom "nuklearen Holocaust" dermaßen undenkbar sind, dass sie zum "Bluff" verleiten.
Eine militaristische zweitschlagfähige Nuklearmacht wie Russland könnte etwa den Westen angreifen, in dem sicheren Vertrauen darauf, dass die Gegenseite die Niederlage akzeptieren wird, anstatt mit einem nuklearen Erstschlag gegen den Angreifer auch den eigenen Fortbestand zu gefährden.
Nachdem Russland die Krim annektiert und entsprechende Pläne im russischen Staatsfernsehen durchdekliniert hatte, kam in der NATO die Befürchtung auf, der Kreml könnte versuchen, die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen im Sturm zu nehmen, in der Erwartung, dass der Westen wegen ein paar tausend Quadratkilometern Land und ein paar Millionen Menschen keinen nuklearen Winter riskieren wird.
Deshalb rotiert die NATO, auch Deutschland, regelmäßig Truppenkontingente durch diese Länder. Militärisch ist ihre Präsenz bedeutungslos, aber garantiert, dass auch westliche Soldaten einem Angriff zum Opfer fallen würden, was wiederum den Kreml zwingt, nicht darauf zu vertrauen, dass die NATO tatenlos bleiben wird.
Immerhin, im konkreten Fall scheint diese Gefahr einstweilen gebannt; ihre Leistung in der Ukraine zeigt, dass der russischen Armee die logistischen und wohl auch doktrinären Voraussetzungen dafür fehlen, die baltischen Staaten im Handstreich zu nehmen. Trotzdem wird man solche Fälle berücksichtigen müssen.
Allerdings gab es zwischen 1871 und 1914 in Europa, vom Balkan abgesehen, keinen größeren Krieg. Das waren immerhin 43 Jahre Frieden, und das in einer Zeit des Revanchismus, Militarismus und Säbelrasselns, als die Entscheidungsträger nicht mehr ihr eigenes Leben riskierten und es noch keine atomare Abschreckung gab.
Guter Einwand, doch wollte ich mein "schwerlich" nicht so verstanden wissen, als sei die wachsende Entfernung zwischen Front und Etappe bzw. Schlachtfeld und Hauptstadt der einzige Grund gewesen.
Freilich würde ich meinen, dass die genannte Zeitspanne einen Sonderfall darstellt.
Die britische Außenpolitik jener Jahre, die geschickte Diplomatie Bismarcks, aber auch die neue Blockbildung, sowie die vielfältigen technischen und organisatorischen Neuerungen, dehnten diesen scheinbaren Frieden über seine natürliche Lebenserwartung aus.
Niemand hat den Grund für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs je prägnanter formuliert als Rowan Atkinson in seinen Blackadder-Sketches: "Weil es zu anstrengend wurde, weiter Frieden zu halten."
Mir scheint, der erste industrialisierte totale Krieg der Geschichte (in Amerika) sowie der schnelle Sieg Deutschlands über Frankreich 1871 führten zu einer Art Zeit des Atemholens vor dem nächsten Sprung. Die Eisenbahn, die Telegrafie, später das Telefon und neue Waffen mussten erst Verbreitung finden, um die Entscheidungsträger überhaupt aus dem Bereich zu entfernen, wo sie noch Pulvergestank in der Nase hätten.
Im Amerikanischen Bürgerkrieg oder auch den Einigungskriegen fielen durchaus noch viele Mitglieder der Oberschicht. In Frankreich kämpften noch zwei unmittelbare Verwandte des Kaisers – darunter der spätere Friedrich III., der dadurch nachhaltig beeindruckt wurde und den Weltkrieg womöglich verhindert hätte.
Die Zeit zwischen 1871 und 1914 würde ich insgesamt eher als Beispiel dafür werten, wie der Kalte Krieg ohne "mutually assured destruction" sehr wahrscheinlich geendet hätte.