Kolonialismus in der neusten Forschung

Und da habe ich teilweise den Eindruck, dass versucht wird, uns jede Abweichung von traditionellen West- oder Mitteleuropäischen Verhältnissen als eine solche "Normalität nonbinärer Identitäten" zu verkaufen, z. B. wenn die Existenz von Eunuchen in manchen solchen Gesellschaften als Argument ins Feld geführt werden.

Wird die denn ernsthaft als Argument ins Feld geführt?
 
Von welchem Kolonialismus sprechen wir eigentlich?

Vom Kolonialismus im 16. bis ins 18. Jahrhundert?

Vom Imperialismus im 19. Jahrhundert?

Was ist mit dem ostafrikanischen Sklavenhandel arabischer Händler und Warlords?

Wo in Afrika wo im Reich Mali, im Aschantireich, dem Reich von Dahome, dem Reich der Zulu unter Shaka, im Sulanat Bornu, im Reich M Tesa Kabakas von Uganda hat es überhaupt jemals eine solche Akzeptanz von Homosexualität gegeben?

Homosexualität war weit verbreitet, im Laufe der Jahrhunderte dürfte es eine beträchtliche Zahl von Leuten gegeben haben, deren Leben durch gesellschaftliche Stigmatisierung ruiniert wurde, die erpresst wurden, die sich niemals outen konnten.

Es dürfte aber die Zahl der Leute, die man dezidiert deswegen in den Knast gebracht hat, dürfte eher gering gewesen sein. In Frankreich oder Italien gab es keinen § 175 und solange man es nicht an die große Glocke hängte lebten Homosexuelle in Europa relativ unbehelligt. Um Leute zu überführen, braucht es Bettgenossen, die auspacken. Tatsächlich ist es nur ein sehr kleiner Zeitraum in der Menschheitsgeschichte, in dem Homosexualität als gleichberechtigte sexuelle Orientierung anerkannt wurde, in der Homosexuelle Partnerschaften eingehen und adoptieren können. In der sie sich lautstark dazu bekennen können, selbst wenn das eigentlich niemand interessiert.
In der auch noch der bizarrste Fetisch offensiv ausgelebt werden kann.

Tatsächlich ist es ein sehr kleines Zeitfenster und eine sehr kurze Periode in der Menschheitsgeschichte, dass Homosexualität tatsächlich als eine gleichberechtigte sexuelle Orientierung akzeptiert wurde.

Das sind auch gerade mal eine Handvoll europäischer Staaten, Kanada. Mit viel Wohlwollen kann man die USA dazuzählen, für Lateinamerika hätte ich große Bedenken. Das war´s aber dann auch schon, und das sind eigentlich genau die "weißen", strukturell rassistischen, christlich-patriarchialischen , heteronormativen postdemokratischen Gesellschaften ehemaliger Kolonial-Mächte, die meist von alten weißen Männern regiert werden.

Sonst hat eine solche Liberalität nirgends in der Menschheitsgeschichte existiert- Nicht in Asien, nicht in Afrika nicht in Australien.


Vor dem Imperialismus der Europäer war der Kolonialismus arabischer Händler und Warlords. Die waren überhaupt die Rechtfertigung für den Scramble for Africa. Vor der Kolonialisierung herrschte vielerorts Stammesrecht oder Shariah.

In einer Gesellschaft wie der der San, der Massai, der Zulu wäre es glatter Selbstmord , sich Partner zu suchen, die nicht in der Lage sind, die Rolle auszufüllen, der sie als Mann oder Frau nun einmal gerecht werden müssen.
 
Siehe z. B. das Posting #23, in dem @Maglor u. a. mit der Existenz von Eunuchen in traditionellen islamischen Gesellschaften begründet, diese seien nicht heteronormativ gewesen (und Heteronormativität kann man sicher als eine Art Gegenpol zur "Normalität nonbinärer Identitäten" verstehen).
Ah danke, diesen Beitrag hatte ich nicht (mehr) auf dem Schirm.
 
Erwähnenswert finde ich auch die Praxis, dass in Italien vor allem zur Barockzeit (aber wohl auch noch bis ins 19. und frühe 20. Jahrhundert) Knaben kastriert wurden, damit sie die hohen Stimmen im Kirchenchor und der Oper singen konnten. Italien war eine europäische Kolonialmacht.
Die Kastration wurde im 19. Jahrhundert strafrechtlich verboten bzw. das Verbot wurde vom neuen Nationalstaat Italien durchgesetzt. Dies fällt auch mit der Entmachtung des Kirchenstaates und der Säkularisierung Italiens zusammen.
Die im frühen 20. Jahrhundert noch lebenden Kastraten waren bereits alte Männer.

Das Verschwinden des Kastraten fällt jedenfalls in eine Epoche der zunehmenden Heteronormalisierung. Die Zweigeschlechtlichkeit wurde zu einer immer starreren Norm zementiert.
Ein Beispiel für die Verrechtlichung der Zweigeschlechtigkeit wäre auch die Ablösung des "Zwitterparagrafen" im Preußischen Landrecht durch das BGB.
Jedenfalls war das ein globaler Trend, der sich nicht so einzelnen Kolonialreichen oder Imperien festmachen lässt. Die Verschärfung breitet sich mit der Modernisierung der Medizin und der Juristerei aus.
Ein konkreter Zusammenhang mit christlicher Mission besteht nach meinem Eindruck nicht.

Verallgemeinerungen zu Eunuchen sind schwierig.
Die kleinasiatischen Galloi im antiken Kleinasien oder die Khusra in Pakistan tragen auch Frauenkleidung.
Palast-Eunuchen trugen hingegen Männerkleidung und galten als sexuell inaktiv und gerade deswegen als Haremswächter geeignet. (Statt Eunuchen setzte der afghanische Emir Habibullah Khan biologische Frauen in Männerkleidung als Haremswächter ein.)

Der italienische Sänger-Kastrat unterscheidet sich von den eigentlichen Eunuchen anatomisch schon dadurch, dass er noch einen Penis hat.
Einige von ihnen waren so etwas wie Superstars und Gegenstand sexueller Phantasien von Frauen und Männern.

Die Rolle der Castrai ist jedenfalls eine andere als die der osmanischen Eunuchen. Trotzdem verschwanden beide Personengruppe ungefähr zur gleichen Zeit von der Bildfläche.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das Verschwinden des Kastraten fällt jedenfalls in eine Epoche der zunehmenden Heteronormalisierung. Die Zweigeschlechtlichkeit wurde zu einer immer starreren Norm zementiert.
Oder man sah es einfach nicht mehr als akzeptabel an, Kinder und Halbwüchsige (gegen ihren Willen oder in einem Alter, in dem ihnen die Bedeutung des Vorgangs und seine Konsequenz noch nicht voll bewusst sind) aus welchen Motiven immer ihrer Männlichkeit zu berauben. (Zumal die Kastration selbst auch riskant ist und mitunter tödlich endete.)
 
Die Kastration musste vor dem Einsetzen der Pubertät.
Nicht unbedingt: "Nach der Tangzeit wurde die Eunuchenversorgung normalerweise durch Knaben aufrechterhalten, die von ihren eigenen Eltern bereits kastriert oder noch unkastriert verkauft wurden, sowie durch Erwachsene, die sich freiwillig selbst kastrierten, um eine Anstellung bei Hofe zu erhalten und wirtschaftlicher Armut zu entgehen." Eunuch – Wikipedia
 
...man könnte, da momentan Kastrationen im Vordergrund sind, auch die Skopzen erwähnen. Aber mir ist noch nicht klar, was Eunuchen, Kastraten (und Kapaune) mit den paradiesischen vorkolonialen Kulturen samt ihrer Normalität nonbinärer Identitäten, für die es an Quellen mangelt, zu tun haben.
 
... würde ich gern nochmal einen Punkt aufspießen, der auch mein Interesse geweckt hat:
In mir hat ein Satz @El Quijotes Interesse geweckt – Zitat: "Wenn Moralvorstellungen oder Devianzwahrnehmungen übernommen wurde, müssen die Übernehmenden dafür auch empfänglich gewesen sein." Das klingt fast nach: Die Übernehmenden haben nichts anderes gewollt, als die Moralvorstellungen der Kolonialherren zu übernehmen. Dagegen habe ich mit Verweis auf die Christianisierung mit Feuer und Schwert angeschrieben und bin dabei gescheitert, weil es hier Diskutanten gibt, die auch konkrete Dokumente darüber, verfasst von einem der Eroberern, nicht haben gelten lassen wollen. Aber erstmal Schwamm drüber – ich will das in einem anderen Faden noch einmal zum Thema machen.

In Frankreich oder Italien gab es keinen § 175 und solange man es nicht an die große Glocke hängte lebten Homosexuelle in Europa relativ unbehelligt.
Zu Europa gehören auch England, Deutschland und Russland. Das sind Länder, die Homophob waren und zum Teil noch sind. Und wenn du verallgemeinernd sagst, Homosexuelle lebten in Europa relativ unbehelligt, dann unterschlägst du deren brutale Verfolgung während der Nazizeit in Deutschland, die Verfolgung in England im 19. und 20. Jahrhundert (Oskar Wilde, Alan Turing) oder die in Russland, die bis heute andauert.

Sonst hat eine solche Liberalität nirgends in der Menschheitsgeschichte existiert- Nicht in Asien, nicht in Afrika nicht in Australien.
Du hast Ozeanien vergessen. Es gibt ein Buch ("Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien") des Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski, in dem er u.a. beschreibt, wie die christlichen Missionare den Inselbewohnern die von ihnen praktizierende freie Liebe und damit auch die Lebensfreude austrieben. Natürlich ist das nicht so zu verstehen, dass die Eigeborenen Melanesiens früher im sexuellen Bereich völlig tabulos waren. Nein, sie haben sogar sehr viele Tabus gehabt – eines davon ist auch die Homosexualität. Doch die wird nicht bestraft, sondern nur als lächerlich* empfunden und als unerwünscht hingestellt. Das ist wahrscheinlich dem Matriarchat zu verdanken, das bei ihnen herrscht. Frauen sehen in diesen Dingen (Exhibitionismus, Oral- und Analerotik gehören auch dazu) offenbar nichts, wogegen man ernsthaft einschreiten müsste.

Vergleich man das mit den Zuständen in Europa, war das fast eine paradiesische Kultur - oder, @dekumatland?

* lächerlich ist für sie auch die Missionarstellung, weil sie, so die Begründung, der Frau die Mitmachmöglichkeit zu sehr einschränkt.
 
In mir hat ein Satz @El Quijotes Interesse geweckt – Zitat: "Wenn Moralvorstellungen oder Devianzwahrnehmungen übernommen wurde, müssen die Übernehmenden dafür auch empfänglich gewesen sein." Das klingt fast nach: Die Übernehmenden haben nichts anderes gewollt, als die Moralvorstellungen der Kolonialherren zu übernehmen. Dagegen habe ich mit Verweis auf die Christianisierung mit Feuer und Schwert angeschrieben und bin dabei gescheitert, weil es hier Diskutanten gibt, die auch konkrete Dokumente darüber, verfasst von einem der Eroberern, nicht haben gelten lassen wollen. Aber erstmal Schwamm drüber – ich will das in einem anderen Faden noch einmal zum Thema machen.
Mir ist aufrichtig unklar, wie Du diese Botschaft in @El Quijote's Kommentar hineinlesen konntest.

Erstens: Unabhängig vom Thema Zwangstaufe kannst Du doch nicht einfach die vielfältigen Beweise dafür ignorieren, dass Moralvorstellungen der fremden Mächte eben nicht immer übernommen worden, Druck hin oder her. Voodoo ist nur ein Beispiel dafür, wie sich die animistischen Kulte afrikanischer Herkunft viel traditionelles Erbe bewahrten und auch gegen Verbote und Verfolgung verteidigten.

In wieder anderen Kulturen waren nicht einmal Verbote und Verfolgung nötig, da fanden "heidnische" und christliche Riten aus politischen oder praktischen Gründen ohne große Reibereien zusammen. Wohlgemerkt, bis hierhin betrachten wir öffentliches, nicht privates Verhalten! Öffentliches Verhalten lässt sich viel einfacher sanktionieren als privates, selbst im Überwachungsstaat ist dies so.

Was mich zu meinem zweiten Einwand führt: Tatsache ist, und sicherlich speiste sich auch daraus die rassistische Grundeinstellung des imperialistischen Zeitalters, dass die Europäer ihre Kolonien mit teils verschwindend geringem Aufwand erobern und beherrschen konnten, was aber gleichzeitig ihre Fähigkeit geschmälert haben dürfte, derart tiefgreifend in die lokalen Gesellschaften einzugreifen.

In Deutsch-Ostafrika z.B. soll die komplette "Staatsmacht" um 1900 aus weniger als 2.000 Weißen bestanden. Wie wollte man mit derart geringer Manpower und in einer feindseligen Umgebung ein Verbot auf jeder indigenen Bettstatt umsetzen? Das ist mir schwer vorstellbar.

Denn wie schon mehrmals in diesem Strang angemerkt wurde, ist es auch unter aus Sicht der Obrigkeit wesentlich günstigeren Vorzeichen als im afrikanischen Busch fast unmöglich, ein Verbot homosexueller Praktiken wirksam durchzusetzen. Ganz abgesehen von der fehlenden Infrastruktur der Strafverfolgung! Selbst der allmächtigen Gestapo genügte die bloße Anschuldigung nicht, da mussten Zeugen her, die den homosexuellen Beischlaf gesehen oder daran teilgenommen hatten.

Das wirft die Frage auf, wie die Kolonialmacht ihr "heteronormatives Weltbild" ganzen Völkerschaften so wirksam aufoktroyieren konnte, dass alles Vorherige restlos getilgt wurde, obwohl die Europäer weder in der Heimat Homosexualität unterbinden konnten, noch die afrikanischen Gesellschaften in so vielen anderen Dingen erfolgreich zur Abkehr vom Althergebrachten zwingen konnten.

Nebenbei; in Anbetracht des offenen Rassismus, den die Vordenker des Imperialismus, die die Afrikaner ja überhaupt erst einmal zu Menschen zu machen gedachten, an den Tag legten, würde ich erwarten, dass sich die These der ungenannten Historikern leicht durch entsprechende Schriften belegen ließe.

Haben wir denn solche Schriften, in denen sich Pater Gottlieb Prüde oder Professor Hypokrit Alterweißermann über all die schwulen Negerlein in Frauenkleidern echauffieren?

In der veröffentlichten Meinung fand ein derartiger Überbietungswettbewerb der Zerrbilder statt, um die Herrschaft des "Weißen Mannes" zu rechtfertigen, dass diese feinen Herren doch gewiss nicht die Chance vertan haben würden, über die laut der Historikerin allgegenwärtige Nicht-Heteronormativität in den zu kolonisierenden Gebieten herzuziehen?
 
was aber gleichzeitig ihre Fähigkeit geschmälert haben dürfte, derart tiefgreifend in die lokalen Gesellschaften einzugreifen
Ein Beispiel für einen relativ erfolgreichen Eingriff von Kolonialherren wäre allerdings das Vorgehen der britischen Kolonialmacht gegen die Witwenverbrennung in Indien.

Haben wir denn solche Schriften, in denen sich Pater Gottlieb Prüde oder Professor Hypokrit Alterweißermann über all die schwulen Negerlein in Frauenkleidern echauffieren?
Das umso mehr als Autoren seit der Antike ohnehin geradezu begierig danach waren, in ihren Schriften herauszukehren, was in fremden Kulturen „anders“ war, vor allem auch aus ihrer Sicht „abnorm“ oder „barbarisch“, z.B. Menschenfresserei oder Vielweiberei.
 
Nicht unbedingt: "Nach der Tangzeit wurde die Eunuchenversorgung normalerweise durch Knaben aufrechterhalten, die von ihren eigenen Eltern bereits kastriert oder noch unkastriert verkauft wurden, sowie durch Erwachsene, die sich freiwillig selbst kastrierten, um eine Anstellung bei Hofe zu erhalten und wirtschaftlicher Armut zu entgehen." Eunuch – Wikipedia

Ja, aber wir waren ja konkret beim Kastratensänger, und wenn man den nach dem Stimmbruch kastriert, bringt das exakt gar nichts... ;)
 
Im Ursprung geht es in diesem Thread um Geschlechtslosigkeit, Zweigeschlechtlichkeit oder Mehrgeschlechtlichkeit, allem, was wir heute als nicht-binär identifizieren würden, in Opposition zum binären Geschlechtersystem. Die Themen Homosexualität und Kastratentum (das ja meist nicht freiwillig vom Kastrierten vollzogen wurde sondern gegen dessen Willen) haben damit nichts zu tun. Auch ein Wallach oder ein Ochse oder eben ein Eunuch ist ein männliches Wesen, wenn auch entmannt. Bi- und homosexuelle Männer und Frauen sind Teil des "binären Geschlechtersystems", sie lieben halt gleichgeschlechtlich bzw. nicht ausschließlich auf ein Geschlecht festgelegt, sind aber dennoch eben Männer bzw. Frauen. Daher geht hier in diesem Thread viel durcheinander.
 
Das Verschwinden des Kastraten fällt jedenfalls in eine Epoche der zunehmenden Heteronormalisierung. Die Zweigeschlechtlichkeit wurde zu einer immer starreren Norm zementiert.

Die Themen Homosexualität und Kastratentum (das ja meist nicht freiwillig vom Kastrierten vollzogen wurde sondern gegen dessen Willen) haben damit nichts zu tun. Auch ein Wallach oder ein Ochse oder eben ein Eunuch ist ein männliches Wesen, wenn auch entmannt. Bi- und homosexuelle Männer und Frauen sind Teil des "binären Geschlechtersystems", sie lieben halt gleichgeschlechtlich bzw. nicht ausschließlich auf ein Geschlecht festgelegt, sind aber dennoch eben Männer bzw. Frauen. Daher geht hier in diesem Thread viel durcheinander.

Scheint keine Einigkeit zu bestehen... ;)

Ich hab den Eindruck, dass diese attestierte Heteronormativität sehr, sehr eng an die Moralvorstellungen gebunden ist, sie sich in Europa während der Industrialisierung herausbildeten. Alles, was von diesen abwich, wird dann zu "nicht-heteronormativ" erklärt, egal obs Kastration kleiner Jungen ist oder Witwenverbrennung. ..
 
Das Kastratentum im (früh)neuzeitlichen Europa hatte nichts mit Geschlechtlichkeit oder gar geschlechtlicher Selbstbestimmung zu tun, sondern diente allein dem Vergnügen des Adels (und gehobenen Bürgertums) sich Singstimmen (Alt, Mezzosopran, Sopran) zu erhalten.
 
In mir hat ein Satz @El Quijotes Interesse geweckt – Zitat: "Wenn Moralvorstellungen oder Devianzwahrnehmungen übernommen wurde, müssen die Übernehmenden dafür auch empfänglich gewesen sein." Das klingt fast nach: Die Übernehmenden haben nichts anderes gewollt, als die Moralvorstellungen der Kolonialherren zu übernehmen. Dagegen habe ich mit Verweis auf die Christianisierung mit Feuer und Schwert angeschrieben und bin dabei gescheitert, weil es hier Diskutanten gibt, die auch konkrete Dokumente darüber, verfasst von einem der Eroberern, nicht haben gelten lassen wollen. Aber erstmal Schwamm drüber – ich will das in einem anderen Faden noch einmal zum Thema machen.

Zu Europa gehören auch England, Deutschland und Russland. Das sind Länder, die Homophob waren und zum Teil noch sind. Und wenn du verallgemeinernd sagst, Homosexuelle lebten in Europa relativ unbehelligt, dann unterschlägst du deren brutale Verfolgung während der Nazizeit in Deutschland, die Verfolgung in England im 19. und 20. Jahrhundert (Oskar Wilde, Alan Turing) oder die in Russland, die bis heute andauert.

Du hast Ozeanien vergessen. Es gibt ein Buch ("Das Geschlechtsleben der Wilden in Nordwest-Melanesien") des Sozialanthropologen Bronislaw Malinowski, in dem er u.a. beschreibt, wie die christlichen Missionare den Inselbewohnern die von ihnen praktizierende freie Liebe und damit auch die Lebensfreude austrieben. Natürlich ist das nicht so zu verstehen, dass die Eigeborenen Melanesiens früher im sexuellen Bereich völlig tabulos waren. Nein, sie haben sogar sehr viele Tabus gehabt – eines davon ist auch die Homosexualität. Doch die wird nicht bestraft, sondern nur als lächerlich* empfunden und als unerwünscht hingestellt. Das ist wahrscheinlich dem Matriarchat zu verdanken, das bei ihnen herrscht. Frauen sehen in diesen Dingen (Exhibitionismus, Oral- und Analerotik gehören auch dazu) offenbar nichts, wogegen man ernsthaft einschreiten müsste.

Vergleich man das mit den Zuständen in Europa, war das fast eine paradiesische Kultur - oder, @dekumatland?

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Die polynesischen Kulturen waren doch nicht matriarchialisch. Tatsächlich handelte es sich um recht patriarchalische Gesellschaften, in denen die Schlüsselpositionen von Männern besetzt waren und in denen Frauen nur untergeordnete Rollen wahrnehmen konnten. Der Verzehr bestimmter Lebensmittel war ihnen untersagt. Verstöße gegen bestimmte Tabus wurden bei Frauen in der Regel mit dem Tod bestraft, während Männer sich durch Bußen von Tabus befreien konnten. Lediglich im Rahmen zugewiesener Funktionen konnten Frauen eine geachtete Stellung einnehmen.

Die Südsee empfanden schon die ersten Europäer, die mit James Cook nach Tahiti kamen, als ein Paradies. Dieses Paradies war aber schon recht bald ein verlorenes Paradies. Es waren auch nicht verklemmte Missionare, die dem ein Ende bereiteten, sondern die Syphilis, die von Europäern eingeschleppt wurde und die Ausbeutung durch Plantagenbesitzer.

In Melanesien herrschte Matrilinearität. Das bedeutet, dass Besitz oder soziale Funktionen in mütterlicher Linie von Mutter auf Tochter vererbt werden. Matrilineare Gesellschaften gab es in unterschiedlichen Regionen der Erde.

Beispiele waren die Irokesen, die Tuareg oder bestimmte Ethnien auf Sumatra.

Matrilinerarität bedeutet aber nicht, dass dominierende Rollen in der Gesellschaft von Frauen besetzt wurden.
 
Das Kastratentum im (früh)neuzeitlichen Europa hatte nichts mit Geschlechtlichkeit oder gar geschlechtlicher Selbstbestimmung zu tun, sondern diente allein dem Vergnügen des Adels (und gehobenen Bürgertums) sich Singstimmen (Alt, Mezzosopran, Sopran) zu erhalten.
Nein, das Kastratentum geht auf die Forderung der Kirche zurück, Frauen haben in der Gemeinde/Kirche zu schweigen – siehe Paulus. Aber in der Musik werden alle Oktaven genutzt, d.h. auch hohe Stimmen, die gewöhnlich nur Kinder und Frauen haben. Aus diesem Grund ist man dazu übergegangen, Knaben vor dem Stimmbruch zu kastrieren: Sie hatten eine hohe Stimme und waren dem Geschlecht nach männlich, also konnten sie in der Kirche singen – nicht umsonst ist der letzte Kastrat im Jahr 1922 gestorben; als Mitglied der päpstlichen Kapelle.

Dass sich das Adel dem anschloss und ebenfalls gern Kastraten hörte, steht auf einem anderen Blatt. Auch heute werden Konzerte und Opern, in denen die sog. Countertenöre singen, gern und mehr besucht als die mit gewöhnlichen Tenören oder gar mit Frauen besetzten. Männer in Frauenkleidern, das war schon immer ein Hingucker; das Außergewöhnliche interessiert eben mehr. Countertenorstimmen sind zwar nicht mit Kastratenstimmen zu vergleichen, aber weil sie selten sind, sind sie eine Attraktion.
 
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