In mir hat ein Satz @El Quijotes Interesse geweckt – Zitat: "Wenn Moralvorstellungen oder Devianzwahrnehmungen übernommen wurde, müssen die Übernehmenden dafür auch empfänglich gewesen sein." Das klingt fast nach: Die Übernehmenden haben nichts anderes gewollt, als die Moralvorstellungen der Kolonialherren zu übernehmen. Dagegen habe ich mit Verweis auf die Christianisierung mit Feuer und Schwert angeschrieben und bin dabei gescheitert, weil es hier Diskutanten gibt, die auch konkrete Dokumente darüber, verfasst von einem der Eroberern, nicht haben gelten lassen wollen. Aber erstmal Schwamm drüber – ich will das in einem anderen Faden noch einmal zum Thema machen.
Mir ist aufrichtig unklar, wie Du diese Botschaft in
@El Quijote's Kommentar hineinlesen konntest.
Erstens: Unabhängig vom Thema Zwangstaufe kannst Du doch nicht einfach die vielfältigen Beweise dafür ignorieren, dass Moralvorstellungen der fremden Mächte eben nicht immer übernommen worden, Druck hin oder her. Voodoo ist nur ein Beispiel dafür, wie sich die animistischen Kulte afrikanischer Herkunft viel traditionelles Erbe bewahrten und auch gegen Verbote und Verfolgung verteidigten.
In wieder anderen Kulturen waren nicht einmal Verbote und Verfolgung nötig, da fanden "heidnische" und christliche Riten aus politischen oder praktischen Gründen ohne große Reibereien zusammen. Wohlgemerkt, bis hierhin betrachten wir öffentliches, nicht privates Verhalten! Öffentliches Verhalten lässt sich viel einfacher sanktionieren als privates, selbst im Überwachungsstaat ist dies so.
Was mich zu meinem zweiten Einwand führt: Tatsache ist, und sicherlich speiste sich auch daraus die rassistische Grundeinstellung des imperialistischen Zeitalters, dass die Europäer ihre Kolonien mit teils verschwindend geringem Aufwand erobern und beherrschen konnten, was aber gleichzeitig ihre Fähigkeit geschmälert haben dürfte, derart tiefgreifend in die lokalen Gesellschaften einzugreifen.
In Deutsch-Ostafrika z.B. soll die komplette "Staatsmacht" um 1900 aus weniger als 2.000 Weißen bestanden. Wie wollte man mit derart geringer Manpower und in einer feindseligen Umgebung ein Verbot auf jeder indigenen Bettstatt umsetzen? Das ist mir schwer vorstellbar.
Denn wie schon mehrmals in diesem Strang angemerkt wurde, ist es auch unter aus Sicht der Obrigkeit wesentlich günstigeren Vorzeichen als im afrikanischen Busch fast unmöglich, ein Verbot homosexueller Praktiken wirksam durchzusetzen. Ganz abgesehen von der fehlenden Infrastruktur der Strafverfolgung! Selbst der allmächtigen Gestapo genügte die bloße Anschuldigung nicht, da mussten Zeugen her, die den homosexuellen Beischlaf gesehen oder daran teilgenommen hatten.
Das wirft die Frage auf, wie die Kolonialmacht ihr "heteronormatives Weltbild" ganzen Völkerschaften so wirksam aufoktroyieren konnte, dass alles Vorherige restlos getilgt wurde, obwohl die Europäer weder in der Heimat Homosexualität unterbinden konnten, noch die afrikanischen Gesellschaften in so vielen anderen Dingen erfolgreich zur Abkehr vom Althergebrachten zwingen konnten.
Nebenbei; in Anbetracht des offenen Rassismus, den die Vordenker des Imperialismus, die die Afrikaner ja überhaupt erst einmal zu Menschen zu machen gedachten, an den Tag legten, würde ich erwarten, dass sich die These der ungenannten Historikern leicht durch entsprechende Schriften belegen ließe.
Haben wir denn solche Schriften, in denen sich Pater Gottlieb Prüde oder Professor Hypokrit Alterweißermann über all die schwulen Negerlein in Frauenkleidern echauffieren?
In der veröffentlichten Meinung fand ein derartiger Überbietungswettbewerb der Zerrbilder statt, um die Herrschaft des "Weißen Mannes" zu rechtfertigen, dass diese feinen Herren doch gewiss nicht die Chance vertan haben würden, über die laut der Historikerin allgegenwärtige Nicht-Heteronormativität in den zu kolonisierenden Gebieten herzuziehen?