@DerNutzer
Das ist gewiss richtig, bildet aber nur einen Teil der Realität ab. Zunächst einmal haben Kombattanten das völkerrechtliche Privileg, einander straflos zu töten. Sie dürfen durchaus auch zivile Opfer verursachen, wenn die Kollateralschäden durch einen militärischen Vorteil aufgewogen werden. Umso größer der Vorteil, desto größer die akzeptablen Kollateralschäden. Verboten ist militärische Gewalt, die keinen militärischen Zweck hat: gezielte Angriffe auf Zivilisten, unnötige Zerstörungen und unnötiges Leid.
Kriegsverbrechen können—im Sinne der Kausalität, nicht des Rechts—durch Fahrlässigkeit geschehen, indem schlecht ausgebildete oder panische Soldaten das akzeptable Gewaltmaß überschreiten. Sie können durch gesellschaftliche Fehlentwicklungen oder eine ideologisch extreme Regierungspolitik gefördert oder gar ausdrücklich angeordnet werden. Und es gibt ein gewisses Hintergrundrauschen an unnötigen Gewalttaten, die schlicht unvermeidlich sind.
@El Quijote
Wobei das natürlich auch Schutzbehauptungen gewesen sein können.
Man kann in puncto My Lai durchaus eine Art Systemfrage stellen; ich wollte nicht ausdrücken, dass es unmöglich wäre, nur, dass es den Rahmen des Abiturs sprengen dürfte. Denn der Weg nach My Lai hatte viele Stationen.
Die Masse der US-Soldaten waren Wehrpflichtige, und das in einem System, in dem Wehrgerechtigkeit nicht existierte. Umso ärmer man war und umso geringer das eigene Bildungsniveau, desto höher die Gefahr, nach Vietnam geschickt zu werden—in einen Krieg, der vielen Amerikanern unverständlich war, und den die jüngeren Generationen ablehnten.
Diese Männer kamen also schon mit Frust im Bauch in Vietnam an. Das schreibe ich nicht etwa, um ihre Gewaltbereitschaft zu rechtfertigen, sondern um auf deren latentes Vorhandensein hinzuweisen. Sie richtete sich z.B. auch gegen die eigenen Offiziere (sog. Fragging).
Dann muss man berücksichtigen, dass die amerikanische Unterschicht aufgrund des unterentwickelten Sozialstaats ein höheres Maß an Delinquenz aufweist. Statistisch gesehen war also ein gewisser Anteil an Männern unter den Wehrpflichtigen, die zur Straffälligkeit neigten.
Drittens kommen die Belastungen der irregulären Kriegsfürung hinzu, die
@Shinigami bereits angesprochen hat. Gegen einen Feind kämpfen zu müssen, der nicht greifbar ist und nicht "mit offenem Visier" kämpft, erzeugt wiederum Frust und Paranoia. Roger Trinquier hat postuliert, dass ein solcher asymmetrischer Krieg ohne Missachtung des humanitären Völkerrechts gar nicht gewonnen werden kann, und die militärischen Erfolge der Franzosen zu Beginn des Algerienkrieges scheinen diese These zu bestätigen.
Außerdem wurde die Begehung von Kriegsverbrechen in Vietnam durch Pentagon und Weißes Haus mehr oder weniger achselzuckend begünstigt. Um in einem endlos scheinenden Krieg überhaupt irgendwelche Fortschritte vermelden zu können, wurde der Erfolg der Armee in "Body Counts" gemessen, was die Soldaten im Feld dazu verleitete, unabsichtlich oder sogar absichtlich getötete Zivilisten als Vietcong-Mitglieder auszugeben. Es bestand also eine Erwartungshaltung, Leichen vorweisen zu können.
Last but not least unterliegt das US-Militär seiner eigenen Gerichtsbarkeit, und das ist immer schon ein schlechter Kompromiss gewesen. Streng hierarchische Organisationen haben keine ausreichenden Selbstreinigungskräfte. Das gilt umso mehr, wenn die vorgesetzten Offiziere, die Straftaten zur Anklage bringen sollen, damit ihre eigenen Karriereaussichten beschädigen, da jeder Normenverstoß unweigerlich ihre Autorität als Disziplinarvorgesetzte beschädigt.
@Shinigami
Mal die Moral ganz und gar ausklammernd: Das humanitäre Völkerrecht zu achten, ist nicht nur moralisch richtig, es ist auch vernünftig.
Beispiel aus der Gegenwart: Ohne die Massaker in Butscha, Irpin und Mariupol hätte sich der ukrainische Kampfgeist vielleicht nie entzündet. Ohne die Massaker an ihren Kriegsgefangenen hätten die Ukrainer wahrscheinlich nie begonnen, bis zum letzten Mann Widerstand zu leisten.
Kein vernünftiger Soldat will die Entschlossenheit des Feindes stärken und sich das Leben unnötig schwer machen. Wozu die eigenen Erfolgs- und Überlebenschancen senken, wozu sich mehr Arbeit aufhalsen, immerhin ist Gefechtsdienst Knochenarbeit?
Ein Soldat, der dies dennoch tut, ist entweder hoffnungslos verroht, ideologisch verblendet, oder neigte bereits zur Gewalt, bevor er auch nur einen Fuß in das Kriegsgebiet gesetzt hatte.