2. Huhn oder Ei?
""wobei angenommen wird, dass unterschiedliche Sparquoten eine wichtige Ursache der Vermögensungleichheit sind."
Und umgekehrt: eine Banalität. Bestehende Vermögensungleichheiten, zB auch verursacht durch Bevölkerungsdynamik, verursachen unterschiedliche Sparquoten.
Hierfür würde ich ihn nicht kritisieren. Von einer Kausalität der Sparquoten in Richtung anderer Faktoren auszugehen ist in der VWL üblich und einem gewissen Pragmatismus geschuldet, da Modelle mit endogener Sparquote einen Quantensprung in der Komplexität darstellen, wenn man nicht auf andere Variablen verzichten möchte.
3. Ökonomie anno 1900?
"Lange Zeit besagte die unter Ökonomen am weitesten verbreitete These, die ein wenig zu schnell Eingang in die Lehrbücher fand, dass die Verteilung des Nationaleinkommens auf Kapital und Arbeit langfristig sehr stabil gewesen sei und im Allgemeinen bei einem Drittel/zwei Drittel lag. ... Aufgrund des historischen Abstands und neuer Daten werden wir zeigen können, dass die Wirklichkeit viel komplexer ist."
Erst wird eine abstruse These entwickelt, die in die Nähe naturgesetzlicher Vorgänge gerückt wird, das Ganze ohne Zitat. Dann wird Widerlegung angekündigt.
Die These finde ich eigentlich nicht abstrus. Tatsächlich wird, hier wieder aus Gründen des Pragmatismus und vor allem seit die Cobb-Douglas-Produktionsfunktion ( bei der der Output einer Volkswirtschaft mittels des Produktes von Kapital und Arbeit, jeweils um seinen Anteil am Gesamtkapital potenziert, berechnet wird) Eingang in die VWL gefunden hat, von einem solchen Kapital-Arbeitsverhältnis ausgegangen. Tatsächlich findet sich diese in den meisten Lehrbüchern die ich kenne bzw. ich habe es auch so gelernt.
4. Lange Zeitreihen:
"Andererseits: Nimmt man jenseits dieser zweifachen Kehrtwendung [Anm.: Erster und Zweiter Weltkrieg] eine sehr langfristige Perspektive ein, so stellt man fest, dass die These von einer vollständigen Stabilität des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit nicht zu der Tatsache passt, dass sich das Kapital radikal verändert hat (vom Bodenkapital des 18. Jahrhunderts zum Immobilien-, Industrie- und Finanzkapital des 21. Jahrhunderts)."
Was soll hier "Veränderung" darstellen? Angesprochen sind Quantitäten und eine Relation. Probleme wie diejenigen der Bewertung (s.o.) und Wirkungen der Innovationen und Institutionen wird verkannt. Der Kapitalbegriff bleibt völlig diffus und vermischt (Forderungs- und Anteilsrechte und Gegenständliche Definition) sowie Teile bleiben außer Betrachtung (Humankapital, Patente, Lizenzen, etc.)
Schreibt Piketty irgendwo, ob r>g auch vor 1870 in Frankreich oder anderen "kapitalistischen" Ländern gegolten hat? Oder was der Mechanismus war, der vor dem Kapitalismus Vermögensunterschiede zurfolge hatte?
Zugleich sind darin auch wenig plausible Wirkungsketten versteckt. Wörtlich genommen, behauptet Piketty den folgenden unmittelbaren Zusammenhang: sehr schwaches Bevölkerungswachstum bewirkt sehr starkes Wachstum der Kapitalvermögen (greift auf absolute/nominale Betrachtungen zu!). Das lässt sich als Hypothese ja diskutieren, mglw. über "Umwege" (-> per capita-Betrachtungen): allein fehlt hier jeder (internationale) Nachweis.
Meine These ist, dass es hier es ein kleines Begriffsproblem gibt, dem Pikettys synonyme Verwendung von Kapital und Vermögen zugrunde liegt. Mit Wachstum der Kapitalvermögen scheint er hier die "Konzentration" von Vermögen per se zu meinen, d.h. niedriges Bevölkerungswachstum führt zu einer starken Konzentration der Vermögen auf die Kapitalbesitzer. Diese These ließe sich nicht mit einer pro-Kopf-Betrachtung analysieren, sondern eher mit einer Median-Betrachtung oder eben einer Betrachtung der Vermögen der oberen 1, 5, oder 10 Prozent. Dafür, nur das oberste eine Prozent in den Blick genommen zu haben, wurde er u.a. von Krugman kritisiert.
Eine Vermögenskonzentration beim Kapital muss aber nicht mit einer Erhöhung des Kapitalanteils am Input einhergehen und zwar aus zwei Gründen: einerseits steigt durch technologischen Fortschritt, der in Pikettys Definition von Kapital integriert zu sein scheint, die Kapitalproduktivität und damit der Anteil des Kapitals am Einkommen. Zweitens bleibt die Sparquote in seinem Modell konstant (es gibt nur Unterschiede zwischen Ländern, aber nicht im Zeitverlauf einer Volkswirtschaft), d.h. der Überschuss der im steady-state (d.h. nach Abschreibungen und Investitionen zur Aufrechterhaltung der Sparquote) durch technologischen Fortschritt produziert wird, wird von den Kapitaleignern verkonsumiert und nicht investiert.
Daher meint er auch vermutlich, das man neben dem Kapital-/Arbeitsverhältnis an den Einkommen, auch auf das Verhältnis des Kapitalstocks am Produktionsvolumen schauen muss, eben um zu sehen, ob sich neben dem Kapital auch die Arbeit mengenmäßig verändert, oder nicht. Oben zitiertest Du Pikettys Ansicht, dass sich die Natur des Kapitals im Laufe der Zeit geändert habe. Diesen Umständ kann man einflechten: Die Faktorproduktivität des, vorranging, Bodenkapitals, blieb über viele Jahrhunderte konstant, erst der Einsatz von Werkzeug-, Maschinen- und Anlagekapital und vor allem die kapitalintensive Produktion in Fabriken, hatte eine (anhaltend) steigende Kapitalproduktivität zur Folge.
Stellen wir uns einmal ein Land im steady-state vor, die Produktivität der Arbeit und des Kapitals je eingesetzter Einheit sei genau 1. Bei jeweils 50 eingesetzten Einheiten hätten wir ein Produkt und daher ein Einkommen von 100 Einheiten, das zu gleichen Teilen auf Kapital und Arbeit verteilt wird, 50 : 50. Nun hat sich das Kapital aber gewandelt und damit stieg die Kapitalproduktivität auf 2, der Anteil des Kapitals entspricht aber immer noch dem der Arbeit, nämlich 50 Einheiten. Das Gesamteinkommen wäre nun 150, 100 durch das Kapital erwirtschaftete Einheiten und 50 durch die Arbeit erwirtschaftete Einheiten. Folglich wäre das Verhältnis nicht mehr 1 : 1, sondern 2 : 1. Gibt es aber gleichzeitig zum Anstieg der Kapitalproduktivität einen Bevölkerungsanstieg und damit einen weiteren Produktionsanstieg, sagen wir auf 100 Einheiten Arbeit, dann würde sich das Kapital-/Arbeitsverhältnis an der Produktion zu 1 : 2 verändern, das Gesamtprodukt würde auf 200 steigen, aber der Anteil von Kapital und Arbeit am Einkommen wäre gleich, nämlich 100 zu 100 Einheiten, also 1 : 1. Ein niedrigeres Bevölkerungswachstum bedeutet also bei steigender Kapitalproduktivität, dass das BIP nur noch im Verhältnis zur Steigerung der Kapitalproduktivität wächst, der Anteil des Kapitals am Input gleich bleibt, aber der am Einkommen steigt. Diese Steigerung ist natürlich nicht 50% sondern sehr viel geringer von Jahr zu Jahr. Dennoch führt diese über langen Zeit zu größeren Einkommensunterschieden, da die Produktivitätszunahme über der Bevölkerungszunahme liegt.
Zugrunde liegt dieser Überlegung aber die Prämisse, dass das Humankapital entweder zum Anlagekapital gezählt wird, oder aber das es über lange Zeit kaum gewachsen ist, denn sonst könnte die steigende Arbeitsproduktivität der Arbeit diese Entwicklung aufheben. Ersteres ist per seiner Definition von Kapital nicht der Fall. Letzteres, so sagt mir eine kurze Suche bei google books, stellt Piketty fest. Wenn das Humankapital zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität geführt hat, dann überhaupt nur in der sehr langen Frist und dann ohne signifikante Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität, schreibt er. Daraus folgt aber auch, dass sich eine pro-Kopf-Betrachtung nicht lohnt, da die Faktorentlohnung der Arbeit immer 1 ist, weshalb er sich wohl, wie Du schreibst, auf aggregierte Größen stützt. Außerdem liegt die Prämisse zugrunde, dass, wie ich oben bereits geschrieben habe, er eine beinahe vollständige Substituierung der Arbeit durch Kapital als möglich ansieht.
Um durch Modellberechnungen zu zeigen, was Piketty hier anstrebt, bräuchte man eigentlich ein Modell, in dem Kapitalvermögen und Geldvermögen nicht in einer Identitätsbeziehung, sondern in einer Gleichungsbeziehung stehen. Außerdem setzt er quasi voraus, dass Vermögen hauptsächlich durch Kapiteleinkünfte entstünden, aber wie bereits erwähnt, sind auch Arbeitseinkünfte von Managern, Politikern und Sportlern, beispielsweise, eine wesentliche Ursache der Vermögenskonzentration.
Thema: Auslandseinkommen. Übersieht die Investition und die Abschreibung des Kapitalstocks, die den Dividenden/Mieten aus Auslandsinvestitionen gegenüber stehen.
Zudem eine steile These: Piketty "nationalisiert" sozusagen die Produktion, weil hier implizit eine naturgesetzliche Verbindung von Binnenkonsum und "ihrer"/"nationalen" Binnenproduktion behauptet wird. Streng genommen würde der Zusammenhang sogar als nachteilig für die BRD auftreten, die "signifikante Teile 'ihrer' Produktion dem Ausland überlässt." Weiter wird hier das mit der "verlängerten Werkbank argumentiert. Offenbar setzt Piketty dabei gleich, ob Produktion exportiert wird oder die Verzinsung des produktiven Kapitals. Kritisch ist dazu anzumerken, dass
a) das getrennt betrachtet werden muss
b) wieder empirische Nachweise fehlen.
Die Abschreibungen sind in Pikettys Modell implizit vorhanden, da er nicht vom Brutto-Output ausgeht, sondern vom Netto-Output, Nettoinvestitionen und Nettosparrate ausgeht: Y(netto) = Y(brutto) – dK; s(netto) = sY – dK und I(netto) = dK + s(Y-dK). Ich sehe das ansonsten wie Du und wie oben, Piketty scheint sein begriffliches Instrumentarium nicht im Griff zu haben. In google books stehen die Seitanzahlen leider nicht dabei, aber irgendwo steht das; ob mit oder ohne formale Definition weiss ich nicht.