Rollsiegel 2-10 (RS25):
Und nun das erste Siegel. Der längste Text, aber nicht nur, weil es sich um eines der bekanntesten Rollsiegel handelt, zum Einstieg ein Muss.
Das Grünsteinsiegel des Schreibers Adda
Das Siegel:
Dieser akkadische Siegelzylinder aus Grünstein wird auf 2300-2200 v. Chr. datiert. Er ist 3,9 cm hoch und hat einen Durchmesser von 2, 55cm. Die Eigentumsinschrift verrät nicht nur den Namen des Siegelinhabers, Adda, sondern auch dass es sich dabei um einen Schreiber handelte. Zu sehen ist es in London, im Britischen Museum.
Das Motiv:
Diese Siegelabrollung eignet sich hervorragend als Beispiel mythologischer Darstellungen in der Akkad-Zeit. Wir begegnen gleich fünf der großen, sumerischen Gottheiten. Alle Figuren tragen die „Hörnerkrone“, die mit Hörnern verzierte Götterkrone. Es handelt sich hier um die Standartvariante, die sich in der Akkadzeit entwickelt hat und noch bis in das erste Jahrtausend v. Chr. hinein belegen lässt (G, Bd.4, S. 432f.) Die Hörnerkrone geht auf die Verehrung des Stieres zurück. Die Anzahl der Hörner ist ein Hinweis auf den Rang der Gottheit. Auch der vergöttlichte Herrscher Naramsin hat sich auf der berühmten Kampfstele mit Stierhörnern darstellen lassen (RS26). Vergleiche hierzu auch Abb. RS27, eine Tabelle der verschiedenen Hörnerkronen.
Der Löwe ganz links wird nach einer möglichen Interpretation als Hinweis auf den hohen Rang des in der Eigentumsinschrift darüber genannten Schreiber Adda gedeutet. Eine Interpretation des Löwen als Bedrohung für die Herde scheint hier ausgeschlossen.
Die Gottheit ganz rechts stellt den janusgesichtigen Isimud, den Boten und „Wesir“ des Enki dar. Er begleitet seinen Herrn, der links von ihm abgebildet ist. Enki ist gut an dem Wasser zu erkennen, das aus seinem Oberkörper fließt, hier mit Fischen ergänzt, eine übliche Darstellung. Enki war Gott des Süßwasserozeans und der Weisheit. Zeitweise verdrängte er Anu und Enlil als oberste Gottheit und befehligte in dieser Position die Annunaki. In manchen Mythen gilt Enki als Schöpfer der Welt und der Menschen, gebietet über die Schicksalstafeln und das Wasser des Lebens.
Rechts des Gebirges ist eine Ziege, ein Steinbock oder ein Stier abgebildet. Die Fantasiebegabten unter uns mögen hier vielleicht auch eine frühe Einhorndarstellung erkennen. Eine eindeutige Interpretation kann ich hier nicht anbieten. Der Stier versinnbildlicht die göttliche Kraft und steht zudem für Fruchtbarkeit oder Wettergottheiten. Auch der Adler darüber taucht meist in Verbindung mit Wettergottheiten, besonders Ningirsu, auf.
In der Bildmitte erkennt man den sumerischen Sonnengott Utu (Schamasch), zu erkennen an der Säge in seiner Hand und die Sonnenstrahlen, die aus seinen Schultern steigen. Mit der Säge bahnt sich der Sonnengott morgens den Weg aus der Unterwelt (L, S. 362) oder dem Gebirge im Osten (I, S. 135). Daher auch hier die für uns befremdliche Darstellung mit dem Sonnengott, der in einer Grube zu hocken scheint. Nach Amiet sind Gebirge und Unterwelt gleichzusetzen (I, S. 136). Das ist etwas verkürzt dargestellt. Mit dem Gebirge ist sicher das im Osten liegende Gebirge zum Iran gemeint. Nach sumerischer Vorstellung befand sich dort der Tunnel zur Unterwelt, den auch Gilgamesch auf seiner Suche nach dem Kraut der Unsterblichkeit durchschreiten musste. Der Sonnengott beendete seine Bahn abends im Meer des Westens, brachte des Nachts Licht und Speise in die Unterwelt und stieg dann im Gebirge wieder auf. Auf Abb-RS28 ist der Aufgang aus der Unterwelt mit zwei Pförtnern und Türflügeln dargestellt. Die sieben (vierzehn) Tore der Unterwelt kennen wir aus dem Mythos von Inannas Gang in die Unterwelt.
Die Gottheit links im Bild ist nicht eindeutig zuzuordnen. Nach einer Variante wird er als Nusku, eine Jagdgottheit, gedeutet (IA, add B02). Nusku ist uns als Begleiter, Bote und „Wesir“ des Himmelsgottes Enlil bekannt. In akkadischen Texten erscheint er allerdings vor allem als Licht- und Feuergott, weshalb ihm die Öllampe als Göttersymbol zugeordnet wird (K, S. 324; L, S.302). Eine andere Interpretation deutet die Figur als namenlose Vegetationsgottheit. Eindeutig zu identifizieren sind aber die vier anderen abgebildeten Götter. Die zweite Gottheit von links stellt Inanna/Ischtar dar. Die Pflanze links von ihr dürfte ihr in ihrer Funktion als Fruchtbarkeitsgöttin zugeordnet werden. Die Göttin ist hier mit Flügeln dargestellt. Die Flügel gehören nicht zwingend zum typischen Erscheinungsbild der Inanna/Ischtar, sind aber auch kein ungewöhnliches Element der Darstellung. Laut Bildbeschreibung des British Museum (IA, add B02) stehen die Flügel für den „Sieg“, ähnlich wie bei der griechischen Siegesgöttin Nike. Auch in Schriftquellen wird Inanna/Ischtar als fliegende Gottheit beschrieben. Allerdings scheinen die Flügel eher den Aspekt der Göttin als „Wind-„ oder „Sturmgöttin“ widerzuspiegeln. Groneberg assoziiert die Göttin mit der Sturmdämonin „Lilu“ (M, S. 126ff.). Wir kennen bereits die Verknüpfung von geflügelten Tieren und Mischwesen mit Wetter- und Sturmgottheiten (vgl. Zu, Löwenkopfadler, u. ä.). Die „Strahlen“ (L, S.187), die aus ihren Schultern sprießen, werden mehrheitlich als Pfeile gedeutet. Es sind auch Darstellungen mit zwei Köchern statt der sechs Strahlen bekannt. Außerdem ist Ischtar in der Bildkunst statt mit den Pfeilen auch mit Keulen oder einem Bogen belegt (G, Bd.5, S.88). Auch in dem Mythos „Inanna und Ebeh“ tritt die Göttin mit einer Keule bewaffnet auf. Auf dieser Grundlage ist der runde Gegenstand, den Inanna/Ischtar in ihrer linken Hand hält, als Keule zu deuten (vgl. „Keule des Mesilim“ RS15). Dabei fällt auf, dass nur der Arm mit der Keule abgebildet ist, der andere fehlt.
Die Darstellung als bewaffnete Göttin geht auf ihre Doppelfunktion als Göttin der Liebe und des Krieges zurück. Die starke räumliche und zeitliche Verbreitung der Inanna/Ischtar geht allerdings mit einer starken Variation der Göttin in Kult und Darstellung einher. Ob es sich jeweils um eine Variante derselben Gottheit oder ob verschiedene Göttinnen unter dem Namen der Göttin subsumiert wurden ist von Fall zu Fall unterschiedlich zu werten. Legen wir aber die gesicherten, zugegebenermaßen jüngeren Darstellungen der Inanna/Ischtar als bewaffnete Göttin zugrunde, lässt sich die linke Gottheit mit dem Bogen vielleicht neu deuten. Da nicht nur Pflanzen, sondern auch Tiere in den Einflussbereich der Inanna als Fruchtbarkeitsgöttin fallen und da Pfeil und Bogen nicht nur als Kriegswaffen, sondern auch als Werkzeug der Jagd gedeutet werden können, handelt es sich bei der linken Gottheit vielleicht um einen Begleiter der Inanna, einen ihr untergeordneten Jagdgott. Es ist anzunehmen, dass so elementare Funktionen wie die Jagd vielen regionalen Gottheiten mit begrenztem Machtbereich zugleich zugeordnet wurden. Vielleicht hatte der Siegelinhaber ein persönliches Verhältnis zu diesem namenlosen, regional verehrten Jagdgott, vielleicht war dieser sein persönlicher Schutzgott. Auch Inanna/Ischtar war eine dienende Gottheit mit Namen Ninschubura als Bote zugeordnet. Dieser wächst mit der Zeit mehr in die Rolle als „Wesir“ der Inanna/Ischtar hinein und wird in dieser Funktion mit einem Stab dargestellt. Ninschubura ist allerdings schon in präsargonischer Zeit belegt und würde besser ins Gesamtbild passen als Nusku, dessen typische Ikonographie auf dem Siegel ebenfalls fehlt. Der Löwe ganz links im Bild gilt in vielen Darstellungen als Begleiter der Inanna/Ischtar. Er ist allerdings auch als Begleiter anderer Götter belegt. Der Löwe gilt vor allem als Symbol der Macht und Herrschaft (besonders über die Erde). Die den Bogen tragende Gestalt wäre dann von zwei Symbolen (Löwe und Baum) umschlossen, die den Herrschaftsbereich der Inanna umreißen. Auch der Bildaufbau deutet auf eine solche mögliche Interpretation hin. Die Figur ganz rechts tritt ja auch nicht als selbstständige Gottheit, sondern als „Wesir“ und Begleiter des Enki auf. Dann würde die zentrale Gestalt der Darstellung im Bildmittelpunkt, der Sonnengott Schamasch, von zwei der höchsten sumerischen Gottheiten flankiert, die mit einem ihrem Wirkungsbereich zugeordneten Begleiter zwei Bildgruppen bilden. Damit würde sich der formale Bildaufbau in der Interpretation widerspiegeln. Bemerkenswert ist auch die Blickrichtung der Götter. Das linke Paar ist in Vorderansicht, das rechte Paar im Profil dargestellt.
Damit würde die Abrollung drei zentrale Bildthemen umfassen: Wasser, Sonne, Fruchtbarkeit. Erst das Zusammenspiel der drei Gottheiten garantiert dem Menschen die Überlebensgrundlage. Dabei sind in dem Bildthema auch drei grundlegende Zyklen der sumerischen Vorstellungswelt enthalten. Inanna, Göttin der Fruchtbarkeit, steht für den Wechsel von Sommerdürre und Erntezeit. Schamasch, der Sonnengott, steht für den Zyklus von Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit. (Sein Sonnenlicht ist grundsätzlich positiv besetzt. Nergal, Gott der Unterwelt, war Gott der tödlichen Sommerhitze.) Und Enki, Gott des Süßwasserozeans, steht für den Zyklus von Frühlingsflut und Niedrigwasser. Passender wäre in dem Zusammenhang, wenn Enki vom Gebirge herabsteigen würde, statt hinauf, ebenso wie Euphrat und Tigris vom Gebirge in die Steppen Mesopotamiens hinabsteigen.Inanna, Göttin des Venussterns, kündigt den Sonnenaufgang im Gebirge an (Morgenstern).Amiet interpretiert die Darstellung als Sinnbild für das „neue Jahr“.
Schwieriger ist es die abgebildeten Tiere, den Stier und den Adler zu deuten. Ich hatte die Idee, Adler und Stier als Wettersymbole mit den Annunaki, den Götterhelfern, in Verbindung zu bringen. In mindestens einem Mythos wird der Südwind mit einem der Annunaki gleichgesetzt. Zumindest in assyrischer Welt stellte man sie sich als Mischwesen (Adlermensch, Stiermensch) vor. Und wie erwähnt galt Enki zumindest zeitweise als Herr der Annunaki. Allerdings erscheint mir das Herstellen eines solchen Zusammenhangs konstruiert und unwahrscheinlich. Der Adler kann vielleicht mit dem Sturmvogel Zu in Verbindung gebracht werden, dessen Zuflucht das unbegehbare Gebirge war (N, S. 92f.). Aber das bleibt Spekulation.