Bedeutung und Interpretation des "immensum bellum"

Für einen "neuen" Krieg gibt es in der Tat keinen direkten Hinweis. Ich finde es eben nur seltsam, dass niemand außer Velleius es für erwähnenswert gehalten haben soll, dass Tiberius in einen schon seit drei Jahren dauernden großen Krieg geschickt wurde.

Ob es aber auf einen "alten" Krieg des Tiberius überhaupt einen Hinweis gibt, hängt davon ab, wie man bei Velleius die Passage mit dem triennium interpretiert. Bei allen anderen Autoren, die den Krieg des Tiberius erwähnen, gibt es jedenfalls keinen Hinweis auf eine dreijährige Vorgeschichte (allerdings auch nicht wirklich etwas, was ausdrücklich dagegen spricht).

Das ist ja gerade die spannende Frage:

Wenn es ein alter Krieg sein sollte, dann mußte Tiberius die Kohlen aus dem Feuer holen.

War es ein neuer Krieg nach dem immensum bellum?
Da gibt es nunmal keinerlei Hinweise.

Fakt ist, daß der Tiberius nach Germanien geschickt wurde. Das war wohl 4. n.Chr. der Fall. Er (Tiberius) war ausgewiesener Kenner in Germanien. Er kam aus einem, sagen wir selbst gewähltem Exil und war jetzt auch offiziell Nachfolger des Augustus. Mußte er da ins rechte Licht gerückt werden? War der immesum bellum nur Propaganda? Oder waren diese Feldzüge des Tiberius garnicht dem immensum bellum zuzuordnen? Das ist die Frage.

Die Feldzüge des Tiberius 4/5 n.Chr. sind allerdings durchaus ernstzunehmen. Offensichtlich haben sie immerhin 2 Jahre gedauert. In diesem Zusammenhang sei auch an die Anlage des Lagers Anreppen erinnert.
Warum sollte Tiberius ein solch großes Lager angelegt haben? Offensichtlich steht das Lager Anreppen in Zusammenhang mit diesen Feldzügen.
Das kann eigentlich nur bedeuten, daß der Tiberius diesen immensum bellum endgültig bekämpft hat.

Oder warum wurde dieses Lager in Anreppen sonst angelegt?
 
Ich glaube, wir befinden uns allmählich in einer Sackgasse. Endgültig beantworten lassen sich all diese Fragen infolge der dürftigen Quellenlage wohl nicht.

Dass der "immensum bellum" Propaganda war, glaube ich nicht. Er wird schließlich außer bei Velleius nirgendwo so erwähnt, daher glaube ich nicht, dass er offizielle Propaganda war. Ich nehme eher an, dass ihn nur Velleius so übertrieben hat, um Vinicius zu ehren.

Die Entsendung des Tiberius kann verschiedene Gründe gehabt haben. Auf jeden Fall brauchte er nach der Rückkehr aus dem Exil wieder eine vernünftige Beschäftigung. In Rom herumzuhängen wäre wohl nicht sein Fall gewesen - und der seines frischgebackenen Adoptivvaters wohl auch nicht. Da kann es natürlich gelegen gekommen sein, dass in Germanien gerade ein immenser Krieg tobte, mit dem Vinicius nicht so recht fertig wurde, und Tiberius war auch unabhängig von seiner Zugehörigkeit zum Kaiserhaus nun einmal der erfahrenste und auch erfolgreichste Feldherr, den Rom damals hatte, also auf jeden Fall eine gute Wahl. Oder aber die Lage in Germanien war gar nicht so brenzlig und Tiberius wurde eher entsandt, um ihn zu beschäftigen, als weil die Lage außer Kontrolle geraten wäre. Irgendwelche Aufstände als Grund wird es gegeben haben, und ansonsten konnte Tiberius seine Zeit damit verbringen, die Unterwerfung Germaniens abzuschließen, letzte weiße Flecken auf der Landkarte zu beseitigen und ein paar aufmüpfigen Stämmen (wie etwa den Cheruskern) zu demonstrieren, wer der Herr war.

Dagegen, dass Tiberius einen wirklich gefährlichen Krieg beenden musste, spricht meiner Meinung nach gerade die Schilderung bei Velleius: Obwohl es ihm darum ging, den Tiberius zu verherrlichen, ist seine eigentliche Schilderung des Kriegsverlaufs recht inhaltsarm: Er preist zwar mit vielen Worten, wie Tiberius durch Germanien zog, viel eroberte, viele Stämme unterwarf, sich Stämme ergaben etc., bleibt dabei aber meist recht vage. Alles in allem kein Vergleich mit der Schilderung der Feldzüge des Germanicus bei Tacitus. Er nennt nicht einmal die Masse der eingesetzten Truppen wie beim Pannonischen Aufstand, um die Größe des Unterfangens zu verdeutlichen. Man könnte das ganze auch so lesen, dass der Widerstand eher verhalten war und es nur vereinzelt zu größeren Kampfhandlungen kam. Das würde aber gegen einen "immensum bellum" sprechen. Lediglich bei den Langobarden wird Velleius zumindest ansatzweise deutlicher, wenngleich er auch hier nur mit ein paar Floskeln (die auch eher Propaganda gewesen sein könnten) schwere Kämpfe andeutet. Auch Cassius Dio ist nicht ergiebiger, im Gegenteil: Über den Vorstoß zu Weser und Elbe schreibt er, dass nichts Besonderes vorgefallen sei. Tiberius weilte auch gar nicht durchgehend in Gemanien, sondern kehrte zwischendurch immer wieder nach Rom zurück, z. B. zur Einweihung des Tempels von Castor und Pollux.

Was das Lager betrifft: Irgendwo musste Tiberius seine Truppen im Winter ja wohl unterbringen, immensum bellum hin oder her. Die Legionen mussten ohnehin über kurz oder lang in Germanien überwintern, statt immer zum Rhein zurückzukehren, wenn man das Gebiet bis zur Elbe dauerhaft halten und befrieden wollte. Außerdem war es natürlich auch praktischer, wenn Tiberius seinen Feldzug im nächsten Jahr fortsetzen wollte.
Als zwingendes Indiz für einen gewaltigen Krieg sehe ich das Lager daher nicht.
 
Auf einen "neuen" Krieg des Tiberius gibt es keinerlei Hinweis.
Bleibt also wohl der immensum bellum.
Doch, es gibt einen Hinweis auf einen neuen Krieg: gegen die Markomannen.

Auch Cassius Dio ist nicht ergiebiger, im Gegenteil: Über den Vorstoß zu Weser und Elbe schreibt er, dass nichts Besonderes vorgefallen sei.
Das mit der Elbe könnte ein entscheidender Punkt sein. Wenn es stimmt, dass Tiberius den römischen Einflussbereich bis zur Elbe vorgeschoben hat, dann kann es sich dabei eigentlich nicht um die Fortsetzung eines Krieges gehandelt haben, der zur erneuten Unterwerfung aufständischer Stämme geführt wurde. Tiberius hat also keinen Aufstand in einem bereits unterworfenen Gebiet niedergeworfen, sondern in neue Gebiete ausgegriffen.

Folgende These: Rom hat sich im Jahr 5 bereitgemacht, in einer erheblichen Kraftanstrengung das Markomannenreich zu zerschlagen. Das wäre sicher nicht versucht worden, wenn in Germanien zu dem Zeitpunkt noch ein "gewaltiger Krieg" getobt hätte.

Das könnte heißen: Kurz nach der Zeitenwende ist es in Germanien zu Aufständen gekommen, die Vinicius niedergeschlagen hat. Um seinen Kumpel (bzw. seinen Opa) zu ehren, hat Velleius diesen Krieg zu einem "immensen" hochstilisiert. Nachdem der Aufstand niedergeschlagen war, kam Tiberius ins erneut befriedete Germanien, um den Aufgallop zu einem neuen Krieg - dem gegen die Markomannen - vorzubereiten. Da ein Zangenangriff von Süden und von Westen geplant war, musste im Westen (Germanien) eine "Befriedung" der bis dahin weitgehend unabhängigen Stämme zwischen Weser und Lippe stattfinden, um die römischen Aufmarschwege zu sichern. Das war die Aufgabe, die Tiberius in Germanien erfüllen wollte.

Im Jahr 4 kam er an und unterwarf die bis dahin noch "freien" Stämme in Elbe-Nähe. Vielleicht sogar weitgehend unblutig. Man kannte sich ja bereits, weshalb Dio bemerkt, dass nichts "Besonderes" vorgefallen sei. Im Jahr 5 baute Tiberius dann die Basen und Versorgungswege für die Nachschublieferungen an die Legionen auf, die von Westen aus gegen die Markomannen vorgehen sollten. Das waren Anreppen und Marktbreit. Passt alles zum methodischen und bedächtigen Vorgehen von Tiberius.

Und dann, im Jahr 6, als es losgehen sollte, brach der Pannonische Aufstand aus - und schmiss all die schönen Kriegspläne über den Haufen.

Damit hätte Velleius den angeblich "gewaltigen" Krieg des Vinicius mit der noch gewaltigeren Aktion Roms gegen die Markomannen verknüpft. Eine weitere Ehrung für Vinicius. Er hatte den Boden bereitet für einen großen Sieg, der nur durch Verrat an anderer Stelle verhindert worden war...

MfG
 
Im Großen und Ganzen finde ich das plausibel. Allerdings glaube ich nicht, dass Germanien befriedet war, als Tiberius ankam, denn Cassius Dio schreibt, dass in Germanien ein Krieg ausgebrochen sei und dann Tiberius abgeschickt wurde.
Alles in allem vermute ich daher am ehesten, dass zuerst Vinicius einen Aufstand (den "gewaltigen Krieg") niederschlug und später ein neuer ausbrach, zu dessen Niederschlagung Tiberius abgesandt wurde. Als er damit fertig war, blieb er in Germanien und setzte - vermutlich weitgehend ohne größere Kämpfe, ausgenommen vermutlich gegen die Langobarden - die Eroberung Germaniens bis zur Elbe fort, um dann gegen Marbod zu ziehen.
 
Doch, es gibt einen Hinweis auf einen neuen Krieg: gegen die Markomannen.


Das mit der Elbe könnte ein entscheidender Punkt sein. Wenn es stimmt, dass Tiberius den römischen Einflussbereich bis zur Elbe vorgeschoben hat, dann kann es sich dabei eigentlich nicht um die Fortsetzung eines Krieges gehandelt haben, der zur erneuten Unterwerfung aufständischer Stämme geführt wurde. Tiberius hat also keinen Aufstand in einem bereits unterworfenen Gebiet niedergeworfen, sondern in neue Gebiete ausgegriffen.

Folgende These: Rom hat sich im Jahr 5 bereitgemacht, in einer erheblichen Kraftanstrengung das Markomannenreich zu zerschlagen. Das wäre sicher nicht versucht worden, wenn in Germanien zu dem Zeitpunkt noch ein "gewaltiger Krieg" getobt hätte.

Das könnte heißen: Kurz nach der Zeitenwende ist es in Germanien zu Aufständen gekommen, die Vinicius niedergeschlagen hat. Um seinen Kumpel (bzw. seinen Opa) zu ehren, hat Velleius diesen Krieg zu einem "immensen" hochstilisiert. Nachdem der Aufstand niedergeschlagen war, kam Tiberius ins erneut befriedete Germanien, um den Aufgallop zu einem neuen Krieg - dem gegen die Markomannen - vorzubereiten. Da ein Zangenangriff von Süden und von Westen geplant war, musste im Westen (Germanien) eine "Befriedung" der bis dahin weitgehend unabhängigen Stämme zwischen Weser und Lippe stattfinden, um die römischen Aufmarschwege zu sichern. Das war die Aufgabe, die Tiberius in Germanien erfüllen wollte.

Im Jahr 4 kam er an und unterwarf die bis dahin noch "freien" Stämme in Elbe-Nähe. Vielleicht sogar weitgehend unblutig. Man kannte sich ja bereits, weshalb Dio bemerkt, dass nichts "Besonderes" vorgefallen sei. Im Jahr 5 baute Tiberius dann die Basen und Versorgungswege für die Nachschublieferungen an die Legionen auf, die von Westen aus gegen die Markomannen vorgehen sollten. Das waren Anreppen und Marktbreit. Passt alles zum methodischen und bedächtigen Vorgehen von Tiberius.

Und dann, im Jahr 6, als es losgehen sollte, brach der Pannonische Aufstand aus - und schmiss all die schönen Kriegspläne über den Haufen.

Damit hätte Velleius den angeblich "gewaltigen" Krieg des Vinicius mit der noch gewaltigeren Aktion Roms gegen die Markomannen verknüpft. Eine weitere Ehrung für Vinicius. Er hatte den Boden bereitet für einen großen Sieg, der nur durch Verrat an anderer Stelle verhindert worden war...

MfG

Also zunächst heißt es bei Paterculus (2,97,4) für die vorchristlichen Feldzüge:
Siegreich durchzog er alle Gebiete Germaniens...Er unterwarf Germanien so vollständig, daß er es fast zu einer tributpflichtigen Provinz machte.

Muß man bei dieser Schilderung nicht davon ausgehen, daß Germanien bis zur Elbe (die wird nunmal auch für die Drususfeldzüge deutlich erwähnt) unterworfen wurde?
Auch Aufidius Bassus betrachtet übrigens die Germanen bis zur Elbe als unterworfen (Cassiodor Chron.min. 2,135)
Das bedeutet, daß der römische Einflussbereich bereits nach den Feldzügen 12 - 8 v.Chr. bereits bis zur Elbe reichte. Somit waren weder die Stämme im Westen, d.h. im Bereich der Lippe "weitgehend unabhängig" noch die Stämme zwischen Weser und Elbe.

Dann gab es offfensichtlich vor allem im Bereich nördlich der Lippe Schwierigkeiten (immensum bellum). Offensichtlich aber auch im Bereich zwischen Weser und Elbe - wo der Tiberius eingegriffen hat. Die Frage ist, ob diese Unruhen (zwischen Weser und Elbe) im Zusammenhang mit dem immensum bellum stehen. Wenn ja, dann war dieser Krieg wohl wirklich gewaltig.

Nach Tiberius' Rückkehr aus seinem freiwilligen Exil, wurde er sofort nach Germanien beordert. Offensichtlich mußte er insbesondere die Lage zwischen Weser und Elbe klären. Also eher ziemlich weit östlich. Daher auch die Anlage des Lagers in Anreppen, mit all den Speichergebäuden. Tiberius wußte, das er im Jahr 5 n.Chr. wiederholt weit (östlich) nach Germanien hinein mußte um die Situation endgültig zu klären. Mit den Marbod Feldzügen hat Anreppen nichts zu tun. Denn die Ausgangspositionen für diesen Feldzug lagen weiter südlich (Mainz und Carnuntum).

Mein persönlich Fazit:
Ein Austand brach in den Gebieten Norddeutschlands aus. Diesen konnte M. Vinicius weitestgehend niederschlagen. Der Aufstand griff dann aber auf die Gebiete zwischen Weser und Elbe über. Diesen niederzuschlagen war dann Aufgabe des Tiberius, welcher damit nach seinem Exil wieder ins Rampenlicht treten konnte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Also zunächst heißt es bei Paterculus (2,97,4) für die vorchristlichen Feldzüge:
Siegreich durchzog er alle Gebiete Germaniens...Er unterwarf Germanien so vollständig, daß er es fast zu einer tributpflichtigen Provinz machte.

Muß man bei dieser Schilderung nicht davon ausgehen, daß Germanien bis zur Elbe (die wird nunmal auch für die Drususfeldzüge deutlich erwähnt) unterworfen wurde?
Auch Aufidius Bassus betrachtet übrigens die Germanen bis zur Elbe als unterworfen (Cassiodor Chron.min. 2,135)

Du hast ein Wort vergessen zu markieren: fast. ;) Der Teufel steckt im Detail. Dass Drusus und Tiberius die Elbe erreichten, ist unbestritten. d.h. aber nicht, dass die Römer das Gebiet auch tatsächlich beherrschten. Das ist Propaganda.
 
Also zunächst heißt es bei Paterculus (2,97,4) für die vorchristlichen Feldzüge:
Siegreich durchzog er alle Gebiete Germaniens...Er unterwarf Germanien so vollständig, daß er es fast zu einer tributpflichtigen Provinz machte.

Ich bezweifle, daß die Germanen das auch so sahen. Zumindest Diejenigen, die mit Rom verbündet waren oder sich arrangiert hatten. Die müssen ziemlich überrascht gewesen sein, als da plötzlich Steuereintreiber und andere Gestalten auftauchten und sich aufspielten, als hätten sie hier irgendwas zu melden.

Ich frage mich, ob Augustus die Lage falsch einschätzte, oder Varus überschätzte. Was wäre wohl passiert, hätte er einen Typ wie Plinius als Statthalter nach Germanien geschickt.
 
Zuletzt bearbeitet:
Also zunächst heißt es bei Paterculus (2,97,4) für die vorchristlichen Feldzüge:
Siegreich durchzog er alle Gebiete Germaniens...Er unterwarf Germanien so vollständig, daß er es fast zu einer tributpflichtigen Provinz machte.

Muß man bei dieser Schilderung nicht davon ausgehen, daß Germanien bis zur Elbe (die wird nunmal auch für die Drususfeldzüge deutlich erwähnt) unterworfen wurde?

Meiner Ansicht nach nicht. Wir wissen ja nichtmal wirklich, was die Römer meinten, wenn sie in jener Zeit von "Germanien" sprachen.

Auch die Frage, wie tiefgreifend die römische "Beherrschung" dieser Region Germanien war, werden wir wohl nicht mehr mit letzter Sicherheit beantworten können. Ein Hinweis mag allenfalls die Tatsache sein, dass die Germanen die römische "Herrschaft" nach relativ kurzer Zeit ziemlich nachhaltig abschütteln konnten.

Wir können allerdings feststellen, dass es westlich der Weser zahlreiche archäologische Belege für eine über längere Zeit bestehende römische Präsenz gibt. Östlich der Weser sind römische Spuren selten. Belege für Lager gibt es gar nicht. Daraus schließe ich, dass die römische "Herrschaft" an der Weser endete. Auch die Schriftquellen kann man so deuten, denn die Vorstöße bis zur Elbe und die Kämpfe gegen die dort ansässigen Stämme werden selbst in der römischen Geschichtsschreibung besonders erwähnt und können deshalb als "ungewöhnlich" betrachtet werden.

Auch Aufidius Bassus betrachtet übrigens die Germanen bis zur Elbe als unterworfen (Cassiodor Chron.min. 2,135)
Das bedeutet, daß der römische Einflussbereich bereits nach den Feldzügen 12 - 8 v.Chr. bereits bis zur Elbe reichte.
Dass der "Einflussbereich" bis dahin reichte, davon kann man ausgehen. Das meinte ich mit "...man kannte sich...". Einflussbereich ist aber was anderes als Herrschaft. Es gibt eben keine archäologischen Belege für die Ausübung von römischer Herrschaft in der Region entlang der Elbe. Hingegen gibt es Hinweise darauf, dass die elbgermanischen Stämme mit Marbod verbandelt waren.

Nach Tiberius' Rückkehr aus seinem freiwilligen Exil, wurde er sofort nach Germanien beordert. Offensichtlich mußte er insbesondere die Lage zwischen Weser und Elbe klären.
So sehe ich das auch. Nur: Warum musste er das? Um einen gefährlichen Aufstand niederzuschlagen? Wenn dort so große Gefahr bestanden hätte, dann hätten die Römer sicher nicht zeitgleich einen Angriff gegen das Markomannenreich vorbereitet, der selbst für römische Verhältnisse eine gewaltige Kraftanstrengung darstellte.

Denn die Ausgangspositionen für diesen Feldzug lagen weiter südlich (Mainz und Carnuntum).
Stimmt. Deshalb wurde Marktbreit aufgebaut (und sofort wieder eingestampft). Aber nördlich des angepeilten Kampfgebiets gab es Stämme, die mit Marbod verbündet waren. Die lebten an der Elbe. Wie sollte man die davon abhalten, den römischen Angriff in das bömische Becken hinein mit einem Gegenangriff nach Germanien und in Richtung der römischen Versorgungswege zu erwidern? Diese nördlichen Verbündeten Marbods mussten in Schach gehalten oder gar niedergerungen werden. Dazu diente - meiner Theorie zufolge - Anreppen als Versorgungsbasis.

Ein Austand brach in den Gebieten Norddeutschlands aus. Diesen konnte M. Vinicius weitestgehend niederschlagen. Der Aufstand griff dann aber auf die Gebiete zwischen Weser und Elbe über. Diesen niederzuschlagen war dann Aufgabe des Tiberius, welcher damit nach seinem Exil wieder ins Rampenlicht treten konnte.
Egal wie "gewaltig" der Aufstand gewesen sein mag: Er war nicht so groß, dass er für Rom eine Bedrohung dargestellt hätte. Das war ein regional begrenzter Aufstand in einer weit entfernten (Fast-)Provinz. Dafür musste man nicht den in selbstgewählter Verbannung lebenden Tiberius wieder ausgraben. Das hätte jeder halbwegs fähige Feldherr erledigen können. Tiberius wurde "begnadigt", weil alle anderen Thronfolger des Augustus das Zeitliche gesegnet hatten und nur noch der ungebliebte Tiberius übrig blieb. Und nach seiner Rückkehr ist der Augustus-Nachfolger sicher mit größeren Aufgaben betraut worden als der Niederschlagung irgendeines Provinzaufstands. Der Aufmarsch von zwölf Legionen gegen den "größten Feind im Norden" scheint mir da eine würdigere Aufgabe gewesen zu sein.

MfG
 
Ich frage mich, ob Augustus die Lage falsch einschätzte, oder Varus überschätzte.
Ich würde sagen, weder noch. Das klingt zwar angesichts des folgenden Debakels seltsam, aber ein Patentrezept für den Umgang mit einer frisch unterworfenen Provinz gab es nicht - und konnte es auch nicht geben, da jede Provinz aufgrund der Eigenart ihrer Einwohner, aber auch ihrer Lage etc. anders war. Somit konnte man auch kaum vorher wissen, welcher Typ als Statthalter geeignet war. Klar machte Varus - ex post betrachtet - einen schweren Fehler, indem er zu wenig Rücksicht auf die Eigenheiten der Germanen nahm, aber, realistisch betrachtet, musste irgendwann in jeder Provinz der Moment kommen, an dem ein Statthalter sich über die Wünsche und Bedürfnisse der Einwohner hinwegsetzte und sie durch Durchsetzung seines Willens zu Untertanen machte. Die Frage war nur, wann und wie schnell man dabei vorgehen konnte. Germanien war immerhin bereits 18 Jahre römisch. Keine Provinz konnte dauerhaft eine Ansammlung von relativ freien "Verbündeten" bleiben, und zu anfänglichen Aufständen gegen die neuen Herren kam es auch in den meisten anderen frisch eroberten Gebieten. Germanien wäre ein ziemlicher Sonderfall gewesen, wenn es tatsächlich nach wenigen Jahren bereits vollständig befriedet gewesen wäre. Aufstände in neu eroberten Gebieten (nicht nur, aber vor allem in "barbarischen", deren Einwohner das Leben als brave Untertanen eines Herrschers wie im hellenistischen Osten noch nicht gewohnt waren) waren normal, und normalerweise wurden sie früher oder später erfolgreich niedergeschlagen, bis die Einwohner resignierten. Varus hatte sich immerhin in seiner früheren Laufbahn bewährt, und Aufstände hatte es auch unter seinen Vorgängern - wie eben Vinicius - gegeben. Mit Aufständen war also auf jeden Fall zu rechnen, egal wen Augustus geschickt hätte.
Man sollte sich auch nicht beirren lassen: In Gallien war es zum gewaltigen Aufstand des Vercingetorix gekommen. War Caesar also ein unfähiger Statthalter gewesen, weil es zum Aufstand kam? Der Unterschied zwischen ihm und Varus ist eigentlich nur, dass Caesar siegte und Varus verlor. Varus war also der schlechtere Feldherr, aber nicht unbedingt auch der schlechtere Statthalter. Und auch Gallien war, als Caesar nach Italien in den Bürgerkrieg zog, noch lange nicht befriedet. Bis in die frühe Kaiserzeit hinein gab es noch immer wieder kleinere und größere Aufstände. Der Unterschied zu Germanien ist nur, dass keinem der gallischen Statthalter so ein desaströses militärisches Missgeschick passiert ist wie Varus, sondern alle Aufstände niedergeschlagen werden konnten. Wäre Varus nicht besiegt worden, wäre er vielleicht ein Statthalter unter vielen geblieben und den Namen Arminius würde heute vielleicht fast niemand mehr kennen.

Was wäre wohl passiert, hätte er einen Typ wie Plinius als Statthalter nach Germanien geschickt.
In der Annahme, dass Du den jüngeren meinst: Ich glaube, das wäre keine sonderlich gute Idee gewesen. Plinius nahm zwar auf die Befindlichkeiten seiner Provinzialen viel Rücksicht, aber beim Lesen seines Briefwechsels mit Traian konnte ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass er etwas gar übervorsichtig und wenig entscheidungsfreudig war. Er hat doch wirklich wegen jeder Kleinigkeit Rücksprache mit dem Kaiser gehalten. In einer vollkommen friedlichen Provinz wie Bithynien mag das angehen, aber in einer noch nicht wirklich befriedeten, in der z. B. beim Ausbruch eines Aufstands rasch reagiert werden muss und man nicht immer erst einen Boten nach Rom schicken kann, wäre so jemand auch fehl am Platz gewesen.
 
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Plinius war auch eher ein provokativ übertriebenes Gegenbeispiel zu Varus. Der ist fast so putzig wie Cicero in Kilikien. Aber Varus war dem Augustus als Hardliner aus Syrien bekannt. Er wusste also, was er tat, als er ausgerechnet diesen Mann nach Germanien schickte.

Wenn Augustus allerdings. für ein hartes Vorgehen war, womit mit Aufständen zu rechnen war, die man natürlich sofort brutal niederschlagen musste, dann hatte er mit Varus genau den richtigen ausgesucht. Er konnte ja nicht ahnen, daß er militärisch versagt angesichts seiner Erfahrung auch in anderen Feldzügen.

Es gab aber bereits unter Augustus weniger konfliktträchtige Methoden der Provinzverwaltung, mit denen man größere Aufstände vielleicht hätte vermeiden können. Die gallischen Aufstände nach Vercingetorix waren wohl auch eher lokal. Und es gab dort auch Statthalter ohne Probleme.

Etwa bei der Steuererhebung, wie auch bei der Rechtssprechung gab es Alternativen zu Varus' Vorgehensweise, sofern die Quellen das korrekt darstellen. Aber offensichtlich hielt Augustus diese Methoden für nicht angebracht in Germanien. Es muss ja nicht gleich ein Plinius sein. Aber mit Varus hatte sich Augustus wohl für die harte Tour entschieden. Eine Fehleinschätzung der Lage, wie ich meine.
 
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@Maelonn:

Ich kann deiner Theorie durchaus folgen. Sie klingt auch durchaus logisch. Allerdings deute ich Velleius ein wenig anders:

Tiberius rückte sogleich in Germanien ein, besiegte die Canninefaten, Attuarier und Brukterer und nahm die Cherusker in die Obhut des römischen Volkes auf.
(Paterculus 2,105,1)Anschliessend ist Tiberius weiter, über die Weser hinaus vorgedrungen. Das hört sich nicht nach Provinzaufstand an. Das hört sich nach einem breit angelegten Feldzug an. Und weiter: (2,105,3)

...Dort hatte er, mitten im Landesinneren an der Quelle des Flusses Lippe, vor seiner Abreise als erster ein Winterlager aufgeschlagen.

Dieses Winterlager ist offensichtlich Anreppen.

Im folgenden Sommer geht der Feldzug in Germanien dann weiter:

...unsere Heere durchzogen ganz Germanien, Völker wurden besiegt, die kaum vom Namen her bekannt sind, und die Chauken wurden in die Obhut des römischen Volkes aufgenommen....Geschlagen wurden auch die Langobarden...Ein römisches Heer wurde mit seinen Feldzeichen 400 Meilen vom Rhein aus bis zum Fluß Elbe geführt...

Das hört sich alles nach einem durchaus größerem Unternehmen in Germanien an. Unterwerfung verschiedener Stämme. Dann die Anlegung des Lagers Anreppen, für die folgenden Feldzüge tief nach Osten bis zur Elbe. Daher wohl auch die großen Vorratsgebäude in Anreppen. Ein Vorratslager für den Nachschub nach Osten.
Velleius bezeichnet diese Ereignisse als "weltgeschichtlich" (Vell. 2,107,1).
Er mag zu Übertreibungen geneigt haben, aber diese Feldzüge 4/5 n.Chr. haben offensichtlich eigenständige Bedeutung. Die Feldzüge gegen Marbod kamen erst anschliessend:

Es gab in Germanien nichts mehr zu erobern übrig, außer dem Volksstamm der Markomannen.
(Vell. 2,108,1)

Velleius schildert meines Erachtens nach die Ereignisse chronologisch und durchaus nachvollziehbar. Ob man diese Feldzüge dem immesum bellum zuordnen muß, ist eine andere Frage.

Tiberius mußte offensichtlich diverse Aufgaben in Germanien erfüllen. Der Feldzug gegen die Markomannen ist ein anderes Thema. Diesen muß man völlig losgelöst sehen von den Ereignissen in Germanien 4/5 n.Chr.
Das Lager Anreppen hat nach den neuesten archäologischen Erkenntnissen (Kühlborn) mit den Feldzügen gegen die Markomannen wohl nichts zu tun. Offensichtlich bestätigt durch Velleius.

Mein Fazit:
Die Feldzüge des Tiberius 4/5 n.Chr. habe absolut eigenständige Bedeutung. Sie umfassten einen Zeitraum von immerhin zwei Jahren und die Anlegung eines Lagers an der Lippe (Anreppen) um den Feldzug im darauffolgenden Jahr bis zur Elbe weiterzuführen. Mit dem Feldzug gegen die Markomannen hat Anreppen nichts zu tun. Sowohl Velleius als auch der archäologische Befund sprechen dagegen. Tiberius hatte Germanien ziemlich unterworfen. Es fehlten noch die Markomannen. Aber das ist eine andere Geschichte...
 
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