Bismarcks Erbe: Hypothek oder Anachronismus

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Gast

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Hallo..
Ich habe vor kurzem (durch einen neuen Geschichtslehrer, der einfach genial ist) die Begeisterung an der Geschichte in mir entdeckt^^.. Nun habe ich mich auch außerunterrichtlich mit unserem aktuellen Thema beschäftigt.. Mein Geschichtslehrer hat mir einen Vortrag eines Professors namens Wendt empfohlen, indem es hauptsächlich um die Außenpolitik Bismarcks geht..
Ich find´s super spannend, und bin insofern nun recht gut informiert. Das letzte "Kapitel" hat mir allerdings ein wenig probleme in punkto verständnis gemacht.. Der Titel ist die Überschrift dieses Kapitels.. Soweit ich das richtig verstanden habe, geht es darin vorallem um die "Spuren", die Bismarck in der Außenpolitik hinterlässt.. Seinem Nachfolger und auch generell der weiteren Geschichte. Neben der Überschrift - ich kann weder Hypothek noch Anachronismus (beides mir bekannte wörter) - so richtig in dieses thema einordnen, haben mir auch einige andere dinge probleme gemacht..
Ich wollte mal eure Erklärung zur Überschrift und vielleicht einige Meinungen zum Thema (also was Bismarck so "hinterlassen hat") ..
Vielen Dank schon mal im Voraus! :)
 
@Gast

Du meinst wahrscheinlich diesen Vortrag:

http://www.aww.uni-hamburg.de/wendt.pdf

Mir persönlich behagt dieser Vortrag nicht, das muß allerdings nichts heißen.

Zum letzten Abschnitt, der gleichzeitig auch das Rubrum Deines Postings ist.

Bismarcks Außenpolitik wird mit der üblichen Kategorie der "Saturiertheit" beschrieben. Das DR hat keine territorialen Forderungen nach Abschluß der Reichseinigung 1871. Tatsächlich ist die Außenpolitik Bismarcks von diesem Gedanken geprägt (Zweibund => Dreibund, Rückversicherungsvertrag etc.). Koloniale und imperialistischen Zielsetzungen, die insbesondere in seinen letzten Lebensjahren virulent wurden, versuchte er sich zu widersetzen. Er wollte imperialistische Konflikte in Übersee vermeiden, da er befürchtete, daß sie auf Europa übergreifen könnten. Zeitgenossen von Bismarck der späten 1880'er Jahre sahen diese Außenpolitik als anachronistisch. Sie befürworteten eine imperialistische Politik (siehe das Zitat von Weber). Stichpunkte: Kolonialpolitik, Flottenrüstung etc.

Diese außenpolitische Orientierung sahen einige Zeitgenossen als anachronistisch, aber auch mit Hypotheken belastet, z.B. Bindung an Österreich-Ungarn.

Die Innenpolitik Bismarcks, so wie sie in dem Vortrag dargestellt wird, ist eine sehr viel schwierigere Gemengenlage. Die Industriealisierung brachte auch einen sozialen Modernisierungsschub, den Bismarck nicht in der Lage war zu realisieren. Da war er ganz der "ostelbische Junker". Stichpunkte: agrarische Schutzzollpolitik, "Sozialistengesetz" etc. Insoweit Anachronismus, als Hypothek hinterließ er eine auf sich zugeschnittene Verfassungswirklichkeit, die auch in einer persönliche Krise endete, als W I. 1888 starb ("Es ist schwer unter diesem Kanzler Kaiser zu sein" sinngemäß).

Wendt faßt diesen Spagat unter den Stichworten "halbabsolutistischen System" [Anachronismus] und den "modernen" Postulaten wie:
"...Expansives und aggressives Prestigedenken..." zusammen.

Was mich persönlich an dem Text von Wendt irritiert, ist die m.E. fehlende retrospektive historische Einordnung der historischen Person des Otto von Bismarck.

Als weiterführende Literatur empfehle ich Dir: Ernst Engelberg, Bismarck, Urpreuße und Reichsgründer, Akademie Verlag Berlin, 1989 (ist ein bißchen marxistisch) und natürlich die Gedanken und Erinnerungen: Gedanken und Erinnerungen ? Wikipedia

Eine äußerst vergnügliche Lektüre.

M.
 
Koloniale und imperialistischen Zielsetzungen, die insbesondere in seinen letzten Lebensjahren virulent wurden, versuchte er sich zu widersetzen. Er wollte imperialistische Konflikte in Übersee vermeiden, da er befürchtete, daß sie auf Europa übergreifen könnten. Zeitgenossen von Bismarck der späten 1880'er Jahre sahen diese Außenpolitik als anachronistisch. Sie befürworteten eine imperialistische Politik (siehe das Zitat von Weber). Stichpunkte: Kolonialpolitik, Flottenrüstung etc.

Das ist ein schöner Hinweis auf den ex post heiß diskutierten Zusammenhang von Peripherie und den Machtkonstellationen in Europa, und man könnte hier den angeblichen Anachronismus in Relevanz verkehren. Allerdings ist dabei die deutsche Rolle kaum entscheidend gewesen, vielmehr mündeten gerade die zugespitzten Konflikte der anderen Mächte in Koalitionen für Europa (GB/FRA/RUS). Zu einer solche Zuspitzung an der Peripherie waren die deutschen kolonialen Möglichkeiten mit ausgesprägt schwachen Kolonien oder mangels einer global-starken maritimen Präsenz nie geeignet, weswegen im Rückschlag auf den Kontinent daraus auch keine Einigungsmasse entstehen konnte.

Vielleicht hat Bismarck das klarer gesehen als seine Nachfolger, vielleicht deshalb sein in der letzten Dekade liegendes starkes Engagement für die Anbindung Großbritanniens (für das er nichts wirklich zu bieten hatte). Als "bedrohliche" deutsche Ambitionen (Balkan -> naher Osten) auftraten, hatten sich die für den Weltkrieg entscheidenden Strukturen bereits gebildet. Die "halben" Versuche imperialer Politik an der Peripherie dazwischen beförderten eher die schleichende Ausgrenzung.

Als außenpolitische Hypothek kann man das - nach Wendt und anderen sich nahezu forciert bildende - russisch-französische Bündnis ansehen, mit dem die Nachfolger dann konfrontiert wurden.
 
@silesia

Vollkommen d'accord. Die deutschen Kolonien waren gleichsam "Zufallserwerbungen" und nicht das Ergebnis einer zielgerichteten imperialistischen Politik. Darüber hinaus waren sie ein staatswirtschaftliches Desaster (von Togo abgesehen). Daß die deutsche Marine nie in der Lage gewesen wäre, die Verbindungen zu den Kolonien zu sichern, steht m.E. auch außer Frage.

Bleibt die Fragestellung: Zentrum <=> Peripherie. Ich denke, hier war der seinerzeit als "anachronistisch" angesehene Bismarck hellsichtiger als seine Nachfolger. Als Zentrum hat er UK, FR, ÖU, Rußland, DR, It und vllt. auch schon die USA erkannt; aber er wollte unbedingt die peripheren Konflikte aus Europa heraus halten. Die schwerste Hypothek die er retrospektiv außenpolitisch hinterließ, war das Bündnis mit ÖU. Welches seine tiefe Verwurzelung im Denken des 19. Jh. manifestiert.

M.

o.t.

Ein schönes Zitat von ihm: "Der ganze Balkan ist nicht die Knochen eines pommerschen Musketiers wert".
 
Ein schönes Zitat von ihm: "Der ganze Balkan ist nicht die Knochen eines pommerschen Musketiers wert".

und:
... die Kolonien werden gegen Frankreich vor Metz verteidigt, mit Großbritannien muß man immer einer politische Lösung finden. :winke:



Würde man die Glaskugel 1890 bemühen, könnte sich Folgendes, natürlich rein hypothetisch ergeben:

- bzgl. Frankreich besteht die Hypothek Elsaß-Lothringen sowie die Übermacht zu Lande

- das unzulängliche deutsche Kapital für Rußland (1870 notierten allein russische Eisenbahnanleihen/-aktien mit rd. 900 Mio. RM) wird zwangsläufig durch französisches Kapital abgelöst; im Übrigen finden sich damit die Partner fast ohne Gegensätze, militärischen Interessen und mit ergänzenden Fähigkeiten - es wächst zusammen, was nach 1871 zusammen passt (Hypothek)

- das außenpolitische System der Aushilfen endet bzgl. Rußlands mit dem Rückversicherungsvertrag und uneinlöslichen Versprechungen bzgl. der Dardanellen (Anachronismus)

- Großbritannien wird durch die aufstrebenden Mächte und die fortwährenden Konforntationen an der Peripherie des Empires mittelfristig zur Aufgabe der "splendid isolation" gezwungen sein (Perspektive, zugleich eine Belastung aus der derzeitigen Mächtekonstellation?)



Umgekehrt konnte man fragen, wem der kommenden und bestehenden Großmächte das Deutsche Reich etwas in ein Bündnis um 1900 würde "mitbringen" können:

- dabei wird man vermutlich mit gewisser Wahrscheinlichkeit USA, Japan, Frankreich ausschließen können;
- eingeschränkt
--Großbritannien (lediglich mit Blick auf Konfrontation und Entlastung gegen Rußland, britische Linienschiffe wären in Ostpreußen allerdings wenig hilfreich gegen russische Armeekorps) sowie
--Rußland (in der Unterstützung der Mittelmeer-Ambitionen, womit noch bei der Rückversicherung kräftig gewinkt wurde, was sich aber als Windei entpuppte; ansonsten hätte man noch die Aufteilung von Ö-U und des Balkans anbieten können, und sich damit langfristig die Stärkung von Rußland und damit mglw. die Junior-Partnerschaft eingehandelt).

Da hatte man also mit Ö-U den Partner, der am besten paßte.:winke:
 
Vollkommen o.t.

Gespräch W II. mit von Müller und von Hülsen-Haeseler, etwa so 1906.

W II.: Also ich war bei einer Wahrsagerin, die hatte eine Kristallkugel - phänomenal.
v. M.: Majestät, das geschah aber inkognito?
W II.: Ja.
v. H-H.: Erlauben Majestät die Frage, was sahen Sie?
W II.: War eben das Problem, nur Kleinkram, werde aber reagieren und wünsche keine Widerrede, höchst wichtig für mein Haus.
W II.: Müller, sie stoppen, natürlich dürfen die Sozis und die gesamte Reichsaffenbande nichts merken, die Marinerüstung. Der Tirpitz sieht irgendwie auch nicht angenehm aus. Meine Gemahlin bemerkte selbiges schon mehrfach, dieser antiquierte Bart, widerlich. Mir wurde in der Session geflüstert, der Brite, boshaft wie er ist, läßt sich auf keine Seeschlacht in der südlichen Nordsee ein, alles Kokolores.
W II.: Hülsen, Sie sehen zu, daß ein Kommandierender General, Hindenburg heißt der wohl, der Adel ist auch nicht so richtig, lassen Sie das durch das Hofmarschallamt prüfen, sofort zum Großen Generalstab kommandiert wird. Wahrscheinlich begreift der das nicht, unwichtig. Hülsen, sehen sie darüber hinaus zu, ob dieser Hindenburg nicht einen Adjudanten bekommen kann, der Mann ist bürgerlich, Ludendorff.
v. H.: Möchten Sie die Herren empfangen?
W II.: Nein, die werden schon noch genug stören. Legen Sie mir die Dokumente zur Contrasignatur vor.

W. I. R.


Das könnte retrospektive Geschichtsbetrachtung sein.


M. ;)
 
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Die Handels- und Zollpolitik gehört ebenso zu dem Anachronismus und der politischen Hypothek Bismarcks. Das sehe ich auch so.

Die Bismarcksche Schutzzollpolitik (1879) war eine "Klientelpolitik", die nach ihrer Abschwächung unter Caprivi, Anfang der 1890'er Jahren, 1903 wieder aufgenommen wurde.

Sie diente einzig und allein dem ökonomischen Schutz einer sozialen Schicht, die Bismarck als systemstabilisierend ansah. Hier war Bismarcks Politik anachronistisch (1879) und eine Hypothek (1903) - da war er ja schon längst tot.

M. :friends:
 
silesia schrieb:
Umgekehrt konnte man fragen, wem der kommenden und bestehenden Großmächte das Deutsche Reich etwas in ein Bündnis um 1900 würde "mitbringen" können:

- dabei wird man vermutlich mit gewisser Wahrscheinlichkeit USA, Japan, Frankreich ausschließen können;
- eingeschränkt
--Großbritannien (lediglich mit Blick auf Konfrontation und Entlastung gegen Rußland, britische Linienschiffe wären in Ostpreußen allerdings wenig hilfreich gegen russische Armeekorps) sowie
--Rußland (in der Unterstützung der Mittelmeer-Ambitionen, womit noch bei der Rückversicherung kräftig gewinkt wurde, was sich aber als Windei entpuppte; ansonsten hätte man noch die Aufteilung von Ö-U und des Balkans anbieten können, und sich damit langfristig die Stärkung von Rußland und damit mglw. die Junior-Partnerschaft eingehandelt).

Da hatte man also mit Ö-U den Partner, der am besten paßte.:winke:

100% Zustimmung.

Interessant finde ich bei diesen Betrachtungen, als Russland nun mit Frankreich, Japan und sogar seit 1907 auch mit Großbritannien verbunden war, haben die Russen ihren alten Wunschraum, nämlich die Inbesitznahme der Meerengen oder wenigsten das alleinige Recht diese mit Kriegsschiffen passieren zu können. Und das hat die ganze Zeit Großbritannien, mit Frankreich im Hintergrund, erfolgreich immer wieder abgewehrt. Insofern hat Großbritannien schon dei Rolle gespielt, die es von Bismarck zugedacht bekommen hatte.

Und auch in Persien, als dort der 1908 Aufstand tobte, haben die Briten es verstanden, den Russen in die Arme zu fallen. Wenn hier die deutsche Außenpolitik geschickt agiert hätte, wäre das Hebel gewesen, um mit Russland möglicherweise wieder näher zusammenzurücken. Die Interessengegensätze zwischen Großbritannien und dem Zarenreich waren genau betrachtet zu groß, als dies hätte auf Dauer gutgehen können. Und für die Franzmänner war Großbritannien wohl letzten Endes der wichtigere Verbündete.

Auch in China konnten standen den Russen letzten Endes die Briten im Wege.
 
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